Heimatumzug

Der Gedanke, diesen Blog an anderer Stelle fortzusetzen, hat sich schon länger in meinem Kopf festgesetzt. Die "graphische Unruhe" der vergangenen Wochen, das unregelmäßige und irgendwie doch unschlüssige Herumbasteln an Layout-Vorlagen, hat darauf hingedeutet. Nicht, dass ich grundsätzlich am derzeitgen "Konzept" zweifele. Der ausschlaggebende Grund ist schlicht und ergreifend ...

Gemeinwohl

Ein kleiner, aber feiner Verweis: Über das gemeine Wohl und das, was man darunter (noch) verstehen kann, kann man derzeit vorzüglich mit und bei metepsilonema diskutieren.

Radikalität, quantitativ gefasst

Ich erinnere mich an vage an eine alte Formel, die vorgibt, der Lehrer habe in eine Unterrichtsstunde grundsätzlich niemals mehr als 10% neue Inhalte einzuführen. Mit einer größeren Menge unbekannten Lernstoffs drohe man die Schüler zu überfordern und ihr Verständnis der Materie zu gefährden: Sie könnten an das bisher Gelernte nicht anknüpfen.

Obwohl inzwischen sicherlich überholt, interessiert mich der Versuch, den Verlauf zwischen Bekanntem und Unbekanntem zu erfassen, in Bezug auf eine ältere Frage nach Radikalität und Angst: Mir scheint mit der Forderung nach Anknüpfbarkeit die eigentliche Grenze zwischen Denkbarem und Radikalem, zwischen machbarer Alternative und abruptem Umschwung, ausgewiesen. Zum gefürchteten "Bruch mit dem heute" kommt es dann, wenn Veränderungen institutionalisiert werden, die nicht gewachsen, nicht verwurzelt sind; die nicht mehr neuen, sondern grundsätzlich keinen Sinn mehr machen. Das Radikale fordert daher unhinterfragten Gehorsam - und muss sich daher umso mehr auf charismatische Persönlichkeit stützen.

Verkannte Identität

Orientierungshilfe in Fragen der Identitätsstiftung gibt derzeit, man hört und liest viel darüber, Saarlands Ministerpräsident Peter Müller. Sein „sonstiger Antrag C16“ versteht sich als „Bekenntnis zur deutschen Sprache“, dem die CDU in naher Zukunft Verfassungsrang geben möchte: Artikel 22 des Grundgesetzes soll um die Mahnung „Die Sprache in der Bundesrepublik ist Deutsch.“ ergänzt werden.

Wenn ich ehrlich bin: Ich finde das zu verkürzt. Ebenfalls im Grundgesetz aufgehoben werden sollte nämlich unbedingt Müllers Aufklärung, was dieses „Deutsch[e]“ in seinem eigentlichen Kern ausmacht: „Deutsch ist Deutsch sprechen und deutsche Identität.“

Deutsch (sein) lässt sich also auf zweierlei Tatsachen zurückführen. Erstens: Ich spreche Deutsch. Na jut, aba welches'n? Dit Standarddeutsch? Oda dit Jemeindeutsch? Oder dit Bundesdeutsche Deutsch, dit man synonym ooch als „Binnendeutsch, BRD-Deutsch, deutsch(ländisch)es Deutsch, Deutschländisch oder bisweilen Deutschlanddeutsch“, kurz auch gern: „Bundesdeutsch“ bezeichnen darf?

Kein Grund zur Verwirrung, es bleibt schließlich die beruhigende Qualifikation, dass „Deutsch [...] deutsche Identität ist“. Im Klartext: Deutsch sein ist also deutsch; und Deutsche sind deshalb deutsch, weil sie Deutsche sind. Und sich mit Deutschland identifizieren. Weil sie ja Deutsch sprechen. Oder so.

Wie lauten da noch die Sorgen um das Bildungsniveau „deutscher“ Schulen?

Chiasmus, politisch

mspro mal wieder in Höchstform:

Den berühmten Satz von Benedetto Croce:
"Wer vor seinem dreißigsten Lebensjahr niemals Sozialist war, hat kein Herz. Wer nach seinem dreißigsten Lebensjahr noch Sozialist ist, hat keinen Verstand."
halte ich für falsch.
Denn:
Es geht nicht notwendigenfalls um Sozialismus, nein es geht um Weltveränderung, um den Kampf gegen das Establishment und um ein jeweils neues Verständnis von Gerechtigkeit. Formulieren wir also:
"Wer vor seinem dreißigsten Lebensjahr niemals gegen die etablierten Strukturen gekämpft hat, hat kein Herz. Wer nach seinem dreißigsten Lebensjahr noch dagegen Kämpft, hat keinen Verstand."
Ich frage mich (auch dort im Kommentar) allerdings dieses: Findet nicht schon länger ein eigentümlicher Quertausch politischer Positionen statt? Neokonservativ = wirtschaftsliberal und -expansiv, und damit, weil wirtschaftsfördernd, doch wirtschafts"progressiv". Die globalisierungsskeptische Linke hingegen zeigt extatisch auf das Wunder kulturell hervorgebrachter Multiplizität und versucht, sie vor der Homogenisierung durch ein weltumspannendes Kapital zu bewahren, zu "konservieren". Links ist das neue Rechts und umgekehrt?

Zeitzeichen

Wenn Verdichtung und Beschleunigung so mitreißend wirken, dass man nur mit Abstand, im Abstand, im Entzug fähig wird, Dinge Lagen Sachverhalte einschätzen zu können: Ist dieses sich entziehende Dabei statt Mittendrin, dessen Gegenteil ich sonst fordere, Sehnsucht nach "Objektivität", nach Verständnis statt erlebtem Anteil, nach Rückzug aus Abgestumpftheit und Erschöpfung?

Mediale Gewalt

Der Verlust von Wirklichkeit, den ein Ereignis in der Verzerrung durch seine mediale Darstellung erfährt, schockiert erst, wenn man Ereignis und Wiedergabe abgleichen kann – und das heißt: das Ereignete bezeugen kann. Erst mit der Möglichkeit des Abgleichs und der Feststellung der Verlusts schließt sich die Kluft zwischen einem so oft geäußerten „glauben, dass die Presse verzerrt“ und einem zu viel zu selten nachgewiesenen „wissen, in welchem Grad die Presse verzerrt“.

Der aktuelle Bildungsstreik ist gewissermaßen „meine“ Bestätigung solcher Verzerrungen; eine Bestätigung, die ich allerdings schon wieder trivialisieren möchte, wenn ich die vergleichsweise Milde des Ereignisses Max’ Schilderungen über die Situation in seiner Heimat gegenüberstelle. Leise deutet sich gerade für mich an, was es über einfache Solidaritätsbekundungen hinaus eigentlich bedeuten muss, die Übereinstimmung zwischen Ereignis und Darstellung, sprich: Pressefreiheit, zu fordern, aber auf sie verzichten zu müssen. Mit dem Vorenthalten dieses Rechts, mit der einseitigen Kontrolle der Berichterstattung, gewinnt die Rede von der „Macht der Medien“ eine brutale, hier vielen unvertraute Dimension: als „mediale Gewalt“. Auch sie kann man jemandem zufügen.

Versprochen, gehalten

Eine kleine Randnotiz: Im Austausch mit Herrn Keuschnig und metepsilonema über die mediale Aufarbeitung politischer Gewissensfragen; mit der Erfahrung des vergangenen Mittwochs im Hinterkopf, der die Verzerrungen vermeintlich faktenständiger Berichterstattung für mich persönlich deutlich gemacht hat – vor diesem Hintergrund beginne ich allmählich all jene Menschen zu verstehen, die eher Werbeprospekte anstelle der Tagespresse lesen: Ihre Angebote sind immerhin verbindlich. Oder hat jemand schon mal erlebt, dass einem die Angestellten im Discounter erklären, die Werbung sei wohl doch ein bisschen schöngeredet, eigentlich gar nicht so gemeint und mit ihrem Gewissen unvereinbar?

Putschversuch

Die Presse. Ich kann die „Presse“ nicht mehr lesen. Man beklagt sich ja regelmäßig: über die Voreingenommenheit der Berichterstattung, die Faktenwahl und -herstellung, die zum Teil miserable Qualität geleisteter „Recherchen“. Ich bin dann aber doch über den eklatanten Grad der Verzerrungen irritiert, wenn man Pressedarstellungen und Situation vor Ort selbst miteinander abgleichen kann.

Am vorgestrigen Mittwoch: Schul- oder Schülerstreik mit bundesweit knapp 100.000 Beteiligten. Von den ca. 8.000 in Berlin demonstrierenden Schülern haben ca. 1.000 das Hauptgebäude der Humboldt-Universität für etwa 20 Minuten besetzt. „Nach Polizeiangaben wurden Toilettenpapierrollen aus den Fenstern geworfen, Feuerlöscher auf den Fluren entleert, Wände mit Anarchie- Zeichen beschmiert, ein Vortrag durch das Umwerfen von Stühlen und Tischen gestört, ein Laptop gestohlen und Bilder einer Ausstellung über jüdische Unternehmer in der Zeit von 1933 bis 1945 heruntergerissen. Nach etwa 20 Minuten hätten die Randalierer das Gebäude wieder verlassen.“

Diese Darstellung der Neuen Presse ist in meinen Augen die mit Abstand nüchternste - und darüber hinaus die einzige, die das Ereignis gründlich kontextualisiert. Nicht alle Berichterstattung sind allerdings so ausgeglichen. Wenn kein Schaden entstanden ist, muss er offenbar herbeigeschrieben werden. „Teile des Hauptgebäudes [seien] stark in Mitleidenschaft gezogen worden“, beklagte sich dem Spiegel zufolge die Humboldt-Universität noch am späten Mittwoch. Eine gleichlautende Pressemeldung lässt sich allerdings nicht finden. Trotzdem berichtet die Welt am frühen Donnerstagmorgen von einem „teilweise verwüstet[en]“ Gebäude. Die Bild spricht heute Morgen von „Trümmer[n]“ und gemeinsam mit der TAZ von eingeworfenen Fensterscheiben. Es ist tatsächlich eine. Neun entleerte Feuerlöscher sind für den Tagesspiegel ganz vage „mehrere“, für die Bild selbstverständlich „sämtliche“. Ausgesprochen skandalös sind auch verrückte Kopierer und abgerissene „Pinnwände mit Informationen für Studenten“. „Ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland heute noch möglich ist, dass der Mob eine solche Ausstellung zerstört“, so der Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies heute Morgen gegenüber der Welt.

Der Aufhänger für alle Empörung über die „Verwüstungen“ und „Trümmer“ ist die durch die Besetzung „schwer beschädigte“ (weil im Foyer des Hauptgebäudes präsentierte) Sonderausstellung „Verraten und verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933-1945“. Die Presseberichte auch hier: übertrieben. Man müsse „Scherben“ zusammenkehren, „die Ausstellung [... hänge] in Fetzen“, schreibt die TAZ. Es seien „Bilder [...] von den Wänden“ gerissen (Tagesspiegel) und „Schautafeln der Ausstellung [...] zerstört“ worden (Morgenpost).

Man lasse dagegen Bilder sprechen: Zunächst braucht es kaum Gewalt, die auf einfachen Holzrahmen befestigten Papierplakate und das filigrane Montagesystem zu beschädigen (Bild 3/5). Vor dieser Berücksichtigung wäre es angebracht, die von den Medien implizierte Brutalität der Schülerschaft um die schiere Größe der überwiegend minderjährigen Masse zu relativieren:



Man erkennt nicht viel, sicherlich, aber was man erkennt: Ein überlastetes Gebäude. Eine aufgebrachte, gewaltbereite Masse verhält sich anders. Wenn man sich über möglichen Vandalismus beschweren möchte, sollte man genauer recherchieren. Eine vielleicht entscheidende Kontextualisierung deutet nur die Morgenpost an: „es mischten sich auch immer wieder schwarz Vermummte“ unter die demonstrierenden Schüler. Von Augenzeugen weiß ich, dass es allerdings nicht nur „schwarz Vermummte“, sondern auch Antifas waren, die die Feuerlöschaktionen im ersten und zweiten Stock des Hauptgebäudes inspirierten, will heißen: dort mit bestem Beispiel vorangingen.

Das aber geht in den Meldungen unter. Stattdessen wird immer wieder eine angenommene Mutwilligkeit der Beschädigungen an der Ausstellung im Foyer betont: „Peter-Michael Haeberer, Chef des Landeskriminalamtes, glaubt nicht, dass die Demonstranten ihre Zerstörungen wahllos angerichtet haben: ‚Wer jetzt versucht, diesen Zwischenfall als allgemeinen Vandalismus zu deklarieren, bedient sich einer billigen Ausrede.’ ‚Selbst ein Legastheniker müsste anhand der Bilder erkennen, worum es bei dieser Ausstellung geht.’“.

Durch die zahlreichen Dramatisierungen überliest man schnell, dass der Spiegel in seinem zeitnahen Bericht über die „Krawalle“ auch schon erwähnt, dass „die Ausstellung [noch am Nachmittag] notdürftig wieder [so weit] hergerichtet“ werden konnte, dass Projektleiter Christoph Kreutzmüller bald nach dem Ende der Besetzung sein Führungsprogramm durch die Ausstellung fortsetzen konnte.

Während man nun darum bemüht ist, den Sachschaden – der tatsächlich recht gering ausfallen dürfte – zu beziffern, setzt der Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies alledem gleich zwei Spitzen auf. In einer am gestrigen Nachmittag veröffentlichten Pressemeldung äußert er sich „sehr bestürzt darüber, dass wenige Tage nach dem 9. November eine Ausstellung, die nationalsozialistisches Unrecht an jüdischen Mitbürgern dokumentiert, von Chaoten schwer beschädigt wurde.“ Er spricht von einer „Verantwortung für Unrecht gegenüber jüdischen Mitbürgern“, die dazu verpflichte, „Menschen in diesem Land [...] vor der Gewalt anderer Menschen“ zu schützen. Als sei ein Staatsstreich versucht worden, schreibt er von einem „unerträglichen Angriff auf die freiheitliche Ordnung dieses Landes.“ Und als ob er damit immer noch nicht die passenden Worte gefunden hätte, setzt Markschies in einer etwa zeitgleich versandten universitätsinternen Mitteilung fort: Mit der Besetzung, und vor allem: durch das Verhalten der Besetzer – man erinnere sich: es waren demonstrierende Schüler – sei „ein Attentat auf unsere jüdischen Mitbürger und die ganze demokratische Kultur des Landes“, ein unmittelbarer „Angriff auf die Grundüberzeugungen unserer demokratischen Gesellschaft“, sogar: „auf die Menschenwürde und Freiheit“, verübt worden. Weshalb jetzt der Staatsschutz ermittelt. In den Worten der Bild: Bestraft die Uni-Chaoten, bestraft sie hart!

Ach, die Presse ...

Spiel, Spaß und Spannung

Wie viele Versuche sind wohl gemacht worden, das „Spiel“ zu definieren? Üblicherweise versteht man darunter „eine Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung ausgeführt wird.“ In der Soziologie betrachtet man die Sache indes etwas enger, wie zum Beispiel Michael Meusers jüngst erschienener Artikel „Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer“ (in: Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland, Opladen: Buderich, 2008) nachvollzieht: Spaß und Ernst treffen aufeinander, sofern Spaß eine „ernste“, d.h. sozialisierende Funktion zugewiesen wird, von dessen Teilhabe gelungene Identitätsstiftungen abhängen.

Verallgemeinernde Behauptungen: Ist Spiel nicht (auch) Alternative, Ausbruch aus dem status quo und Ablegen eingelebter Rollen? Das „so-tun-als-ob“ als Flucht nach vorne, Projektion von Wünschen, Träumen, Möglichkeiten, Utopien? Jedes auffordernde „stell-Dir-vor ...“: gedacht als hermetischer Freiraum, der, im günstigsten Fall nur zeitlich begrenzt, Entwürfen vorbehalten ist, die der Alltag zwar auslagert, aber doch inspiriert.

Und weil inspiriert und doch ausgelagert, kommt kein Spiel ohne Setzungen aus. Der Ausstieg aus Gegebenheiten ist schärfstens geregelt. Das Spiel bleibt Ausnahme. Man muss es begrenzen, ausgrenzen.

Darüber hinaus: Spiele sind Reduktionen. Insofern Spielen ein Ausleben von Vorstellungen ist, ist es auch ein Ausblenden von Komplexitäten. Selbst regelmäßiges Spiel – von SimCity bis SecondLife – ist nicht in dem Sinne „wirklich“, dass es gelebte Umwelten spiegeln könnte. Wunschtraum minus Realität = Spiel.

Schnitt. Das Spiel als Vorstellung aufgegriffen und die gerade genannte Formel in eine erkenntnistheoretische Perspektive eingespannt: Wenn Spiel = Reduktion oder Modell – gilt dann nicht: Spiel = Modell = Theorie? Und damit: Theorie als Spiel? Bedienen sich das vorgestellte „so-tun-als-ob“, die Aufforderung zum „stell-Dir-vor ...“ und ein „gesetzt, dass ...“, mit dem die Bedingungen einer theoretischen Überlegung formuliert werden, nicht derselben Sprache?

Konstruktive Unsicherheit

Zwischen Tür und Angel stellt sich mir die Frage, warum die Strategien, die man der Dekonstruktion zuschreibt: Selbstthematisierung, Ironisierung und das Unterlaufen von Sinnbezügen, eigentlich als verharmlosende Spielspäße "mißbilligt" werden? Als den der Sache doch angebrachten "Ernst" ignorierend? Als sorgfältiger philosophischer Arbeit gegenüber unseriös?

Nicht, dass ich auf solche Konfrontationen anspringe, aber dennoch ein zwei Gedanken in unzureichendes Kurzformat gezwängt: Welcher Aspekt des Bedürfnisses, ungewohnte Aufmerksamkeiten zu wecken, ist da so verachtenswert? Muss Forschung zwangsläufig Sicherheiten produzieren; kann sich nicht Fragen statt Antworten geben? Entfernt sie sich von stabil gearbeiteten Thesen: ist sie dann destruktiv (Ist Dekonstruktion im negativen Wortsinn destruktiv?)? Oder ist sie einfach nur gute Lehre?

Mannschaftssport


"stadium". Maurizio Cattelan, 1991.

Rücklagen

Vergangene Tage aus diesem Grund mit dem ZLA telefoniert. Am Apparat von Herrn Saager klärte man mich kurz und knapp über die Selbstverständlichkeit der Ablehnung auf. Obwohl ihm gegenüber so dargestellt, war die in Kürze bevorstehende Verlängerung der Aufenthaltsgesattung nicht der Grund. Stattdessen eine Erklärung über penible Buchführung: Im monatlich ausgezahlten Regelsatz sei ein Anteil von € 20,45 für Bekleidungsausgaben vorgesehen. Wollte ein Leistungsempfänger sich also etwas leisten, das diesen Anteil übersteige, müsse er eben "drauf hinsparen." Den Sparkurs eingerechnet: 200 € minus € 20,45 macht also € 179,55 als Ausgabensumme für den monatlichen Lebensunterhalt. Die Monatsfahrkarte kostet knapp € 30, damit wären wir bei unter € 150.

Vielleicht lasse ich mir die Tage nochmal darlegen, wie man sich mit den € 5,11 für Gesundheits- und Körperpflege gleichzeitig täglich naß rasiert und auf einen Rasierapparat spart.

Missverständnis

Yes, they did.

"Wissen" und "Glauben"

Neulich kam bei mspro die Frage auf: Wann glaube ich, wann weiß ich? Die stumpfe postmoderne Antwort auf die Unterscheidung von Glauben und Wissen ist, breit argumentiert, das Beharren auf die Auflösung des Begriffspaares: Alles ist Wissen, und alles Wissen kann nur Glaube sein; große, übergreifende Bestandsaufnahmen und Bekenntnisse sind schließlich verbannt worden.

mspro hat das natürlich etwas differenzierter gefasst. „Glauben basiert in meiner Welt auf Vertrauen, das in der Tat zunächst einmal blind ist. Und damit sind wir wieder mitten in der Finanzkrise. Denn Kredit (lat. credere) bedeutet Vertrauen. Die Welt, egal welche, funktioniert nicht ohne Vertrauen. (und wenn man einen tieferen Grund angeben sollte, warum das Finanzsystem uns gerade um die Ohren fliegt, naja, könnt ihr euch selber denken.) Was andere Wissen nennen, ist aber ebenso verschuldet. Das Messgerät ebenso, wie die Statistik oder der Experte. Es gibt keine unverschuldeten "Tatsachen". Ein Dr. Titel, eine Eichung oder eine "Repräsentativtät" sind nichts weiter als Bonitätsausweise. Warum also nicht ehrlich sein, und zugeben, diesen Dingen lediglich "Glauben zu schenken", mit anderen Worten Kredit einzuräumen?“

hose wollte dagegen „fragen, was wir denn als Wissen oder Glauben verstehen wollen, das über konkrete Kontexte hinaus ein bestimmte Form von Gültigkeit beanspruchen kann. Das ist natürlich eine normative Frage. Wir geben uns Regeln, was wir als Wissen oder Glauben bezeichnen wollen. Für oder gegen solche Regeln lässt sich argumentieren, um über die eigene "Geworfenheit" hinweg zu kommen.“ Man müsste „semantisch zwischen Erwartungshaltungen unterscheiden […], die entweder nur auf (blindem) Vertrauen basieren - GLAUBEN - oder aber durch irgendeine Form der Rationalität (zweck- oder wertrational) begründet und als Wirklichkeitsbeschreibungen verstanden werden - WISSEN.“

Ich will das „müssen“ abschwächen: Sicherlich kann man. Schade bloß, dass hose zu ihrer/seiner Frage nach „interessanten Begründungen“ außer belanglosen Torpedierungen selbst nichts beizutragen hat. Da helfen mir die Gebrüder Grimm schon weiter.

Glauben“ möchte ich hier nicht im „absolute[n] gebrauch [als] die religiöse handlung und haltung des 'gläubig seins' an sich ausdrückend“ verstanden wissen. Sinnvoller erscheint es mir, darunter eine Haltung zu fassen, die „dem subjektiven urteil“ enspringt, „ohne […] in besonderem masze auf das zeugnis und die vertrauenswürdigkeit einer zweiten person (oder die eigenschaft einer sache) gestützt […] sein“ zu müssen.

Wissen“ dagegen gilt uns, verkürzt formuliert, gemeinhin als „Kenntnis“ oder „Kunde“ von einer und über eine Sache. Wenn „glauben“ unbestätigte, unreflektierte Intuition ist, verstehen wir „wissen“ als methodisierte, „wissenschaftliche“ Welterfassung: als Formulierung von Abstraktionen und Näherungen in den Wirklichkeitswissenschaften; als Formulierung von Ableitungen, Prognosen, Typiken und Essenzen in den Gesetzeswissenschaften*. „Wissen“ gilt, darf ich unter Umständen verallgemeinern, als Erwartungshaltung, dessen Wissenschaftlichkeit oder Objektivierbarkeit sich als „quellengestütztes Hineinlesen einer in der Gegenwart formulierten Aussage in vergangene oder zukünftige Gegenwarten“, als Feststellung deckungsgleicher Wahrnehmungen begreifen lässt.

Wird „Glaube“ zu „Wissen“, wenn er methodische, authorisierte Bestätigung findet? Vermutlich ja. Umso genauer prüfe man daher die Gegenfrage: Wenn „Wissen“ in Reinform eines Gesetzes so komplex, so alltagsabstrahiert, sprich: so „wissenschaftlich“ ist, dass es mir in seiner Formelhaftigkeit oder theoretisierten Form unbegreiflich bleibt – bleibt es dann für mich nicht „Glaube“? Nehme ich dieses „Wissen“, so ich es denn nicht schon vorab grundsätzlich verwerfe, dann nicht zwangsläufig „vertrauensvoll als wahr an[…]“? Zwar liegt mir das „zeugnis […] einer zweiten person (oder die eigenschaft einer sache)“ vor, aber es ist zeugnis, das ich nicht lesen kann. Ich finde mich, will ich diesem Wissen Glauben schenken, folglich auf die „vertrauenswürdigkeit“ der Personzurückgeworfen – darauf, dass sie mir gegenüber ehrlich ist und ihren vorgetragenen Sachverhalt nicht wissentlich verzerrt. Vor diesem Hintergrund erschließt sich wohl der juristische Gebrauch von „glauben“, mit dem man seine eigene Aussage als „für wahr, richtig halten und erklären“ kann.

„Wissen“ kann ich demnach nur jenes, von dem ich mir selbst Begriffe geformt habe, dessen Begriff ich mit Bedeutung füllen kann. Wissen wäre demnach „Erfahrungswissen“, das aus selbst erfolgter Überzeugung, auf subjektiver Basis versichert, akkreditiert ist.

Keine Auflösung von „Glauben“ und „Wissen“ also, sondern Lokalisierung im kurzsichtigen intersubjektiven Raum. „Glauben“ als ein Erlauben und Einräumen „wahrscheinlich[er], möglich[er], denkbar[er]“ Alternativen.

Exportware Recht, "made in Germany"

Würde ich nicht gerade die F.A.Z. für zwei Wochen probeabonnieren, wäre unsere Justizministerin Brigitte Zypries für mich nach wie vor ein mehr oder weniger unbeschriebenes Blatt geblieben. Ich gebe sogar zu, dass ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob ich sie als Kabinettsmitglied unserer amtierenden Regierung identifiziert hätte. Seit gestern aber kann ich nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Meinung mit ihrem Namen verbinden: Sie möge doch bitte augenblicklich zurücktreten. Oder ins Bundeswirtschaftsministerium wechseln. Denn was die F.A.Z. auf Seite 10 ihrer gestrigen Ausgabe aus der Feder von Frau Zypries veröffentlicht hat, bleibt mir unbegreiflich.

Von solchen Vorstößen hat man gelegentlich schon gehört, und dass Frau Zypries sie unterstützt, provoziert keinen grundlegenden Unmut. Ihre vier Spalten über das deutsche „Rechtssystem mit Qualitätssiegel“ aber sind von solch diskreter Beratung allerdings weit entrückt. Im „Wettbewerb um das beste Recht“ dürfe Deutschland nicht zurückstehen, mahnt sie und fordert für die Zukunft einen gesteigerten Einsatz für die „Verbreitung unserer Rechtsordnung“. Denn „unsere Gesetzbücher tarieren unterschiedliche Interessen fair aus und sorgen für eine angemessene Verteilung der Risiken.“ Mit Bedauern weist sie daher darauf hin, wie sehr wir es in der Vergangenheit versäumt hätten, unseren „Einsatz“ zu diversifizieren: „unsere internationale Beratung [wurde] bisher zu einseitig von der Nachfrage der Partnerländer bestimmt“. „[S]trategische Koordination“ sei also unabdingbar, um sich an diesem Wettbewerb umfassender zu beteiligen. Motivationsgründe dafür gibt es ihrer Ansicht nach genug: Unsere Rechtsordnung „erleichtert“ die „internationalen Aktivitäten deutscher Unternehmen, sie bietet deutschen Anwaltskanzleien neue Aussichten und Felder und erhöht die Bereitschaft ausländischer Unternehmen, in einem Land mit vertrauter Rechtsordnung zu investieren.“

Das Rechtssystem als geschäftssichernder Exportartikel also, und sein Nutzen nochmals von Frau Zypries anhand eines Beispiels erklärt: „Wenn […] in China Wohneigentum an Bedeutung gewinnt, ist dies nicht nur eine Chance für die Verbreitung des deutschen Grundbuchrechts, sondern auch für deutsche Sparkassen.“ Muss ich „deutsch“ eigentlich noch kursiv setzen? 14, in Worten: vierzehn Mal zähle ich die Vokabel.

Übertreibe ich, wenn ich damit die Rede vom Demokratieexport auf das „Recht“ ausweite – den feinen Unterschied natürlich einbedacht, dass die Rede von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit vollends überflüssig geworden zu sein scheint? Nochmals im Klartext: Die deutsche Justizministerin Zypries bewirbt ein Rechtssystem als Exportartikel. „Standortvorteil Recht“, hat sie das an früherer Stelle benannt. Und gemäß ökonomischer Logik geht es nicht um nichts anderes als Vorteile - um Globalisierung. Ihre Zügelung hätte ich von Frau Zypries zumindest im Ansatz erwartet. Von Demokratie aber lese ich bei ihr nicht ein einziges Wort.

Unkenntnis = Ohnmacht

Jacke und Schuhe sind übrigens nicht genehmigt worden. Mit der schikanierenden Begründung, am 18. November werde doch über seinen weiteren Aufenthalt entschieden. Soll er also doch den einen Monat frieren, denkt sich die Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber, und dann seinen „Bedarf“, so die im Gesetz verwendete Formulierung, erneut vortragen. In der Tat ist für den 18. November ein Termin bei der Ausländerbehörde anberaumt – an dem aber „lediglich“ die Verlängerung der Aufenthaltsgestattung abgewickelt wird: eine reine Formalie, die bis zur endgültigen Rechtsbeurteilung seines Asylantrags selbstverständlich ist. Das schlussendliche Urteil wiederum lässt in der Regel drei bis vier Jahre auf sich warten, während er erst vor einem Jahr nach Deutschland eingereist ist. Ergo: Es gab keine, wirklich keine auch nur annähernd sachlich gerechtfertigte Grundlage, auf die sich die Bearbeiterin in ihrer Entscheidung gestützt hat. Aber woher soll das jemand wissen, der weder Beamten- noch Juristendeutsch spricht und folglich nicht einmal ansatzweise mit den für ihn geltenden Rechtsgrundlagen vertraut ist?

Branding goes Amok

In Berlin feiert man gerade das Festival of Lights, für das sich die Veranstalter zumindest am Brandenburger Tor mit kuriosen Einfällen haben durchsetzen können ...



Dass Berlin seine Imagekampagne so weit ausdehnt ...

Im Leben eines "Anderen"

Ich erinnere mich dunkel daran, dass die BILD-Zeitung von einem guten halben Jahr mit der Behauptung eines Armutsforschers aufmachte, mehr als 153 Euro im Monat bräuchte man als ALGII-Empfänger nicht. Im Netz ist die Schlagzeile nirgends archiviert, vor Augen habe ich lediglich noch eine strenge Aufschlüsselung des Betrags, die ich schlicht und ergreifend abstoßend fand. Sieben Euro, meine ich, waren als Ausgaben für „Kultur“ anberaumt.

Runden wir also auf 200 Euro auf. Selbst 200 Euro sind eine Geißelung. 200 Euro für Ernährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Ge- und Verbrauchsgüter des Haushalts sowie Haushaltsenergie. 200 Euro, wenn nicht (wie in Nordrhein-Westfalen) sogar weniger, die dank der Berufung auf minutiöse Statistiken wie folgt berechnet und im Idealfall zu verbrauchen sind:
Ernährung – 138,05 €; Kleidung – 20,45 €; Gesundheits- und Körperpflege – 5,11 €; Ge- und Verbrauchsgüter des Haushalts – 7,67 €; Haushaltsenergie – 20,45 €. 200 Euro – das ist die Summe des Berliner Regelsatzes für Unterhaltsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Im Rahmen eines Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsgenehmigungen haben eine Gültigkeitsdauer von sechs Monaten; sollten die Behörden in diesem Zeitraum ihrer Entscheidungsfindung nicht nachkommen können, folgt die Erteilung einer Verlängerung um weitere sechs Monate. Sechs Monate, die X. mit etwas mehr als sechs Euro sechsundsechzig pro Tag bestreitet.

Selbst mit dem großzügigen BILD-Kulturhaushalt von sieben Euro: Kein Zeitungsabo, kein Kino, kein Sport, keine Museen. Keine Freizeit, weil keine Arbeitszeit. Nur Zeit, verbunden mit Sprachhürden und Diskriminierungen in Arztpraxen. Mobilität beschränkt auf den Luxus eines Handys oder einer BVG-Monatskarte. Letztere darf er noch nicht einmal voll nutzen, da die Behörden in Fällen wie seinen die Bewegungsfreiheit grundsätzlich auf das Stadtgebiet einschränken. Ich darf ihm noch nicht einmal Schloss Sanssouci zeigen.

Eine Wohnung von ausreichender Größe, ja, ungefähr 50 Quadratmeter, sie aber ein Raum ohne Platz für seine Person. Die Ausstattung ist kein Mobiliar, sondern Inventar. Mit verkratzten Strichcodes versehen, die nach unzähligen Transporten kaum mehr lesbar sind. In wie vielen Küchen der Kühlschrank wohl schon gestanden hat?
„Kann Kleidung nicht geleistet werden, so kann sie in Form von Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen gewährt werden.“ Ich dachte immer: von dem Zeitalter haben wir uns doch längst verabschiedet. Nee, haben wir nicht. Um sicherzugehen, dass ihm seine Kleidung, „die nicht geleistet werden kann“, auch „gewährt“ wird, möchte er mit einem kleinen Anschreiben nachhelfen, das ich in seinem Namen verfassen soll:

Sehr geehrte Frau ****,
für den hereinbrechenden Winter benötige ein paar warme Schuhe und eine dicke Jacke.
Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank im Voraus für Ihre Hilfe,
****

Willkommen im Leben eines "Anderen".


[Nachtrag am 21. Oktober: Die von mir erinnerte Forderung von 153 Euro als ALGII-Regelsatz ist inzwischen unterboten worden, wie ich dank Claudia erfahren darf. Sie verweist auf eine Studie, der zufolge 132 Euro für die "Grundbedarfsdeckung" ausreichen. "Wir können durchaus sagen, dass manchmal weniger mehr ist" (Friedrich Merz auf der Klausurtagung der FDP, September 2008).]

Wunschdenken

Eine kleine, überfällige, wenn auch in ideologische Parole gefasste Einsicht: Was ich da gelegentlich und seitdem darauf aufbauend fasele: Die linke Akademie gehört, will sie's oder will sie's nicht, zum bourgeoisen Überbau. Und der wird sich nie und nimmer selbst stürzen. Die Universität ist ohnehin "nur" ein Denk-, und kein Tatapparat. Raus da also, baldmöglichst.

:-)

Anspruch und Wirklichkeit

Ich bin mir nicht ganz hundertprozentig sicher, wie ich folgendes deuten darf: Im kommentierten Vorlesungsverzeichnis, S. 18, stolpere ich über eine Ankündigung für die Übung "Angewandte Geschichte: Schreibwerkstatt und Berufsorientierung- Umsetzung von Publikationsprojekten", die nicht zum ersten Mal angeboten wird.



Ein klein wenig verklärend arbeitet er dann aber doch, der Herr Dozent. Das digitale Spieglein [google] befragt, erfährt man nämlich prompt, dass Alexander Schug Mitbegründer der Vergangenheitsagentur ist, die ihre Dienstleistungen wie folgt bewirbt:



Müsste man sich als Historiker für so etwas nicht zu schade sein? Sind solche Vereinnahmungen / Praxisseminare nicht im Marketing zielgruppenorientierter aufgehoben?

Ortsaufgabe

Welche Reaktionen eine Abmeldung von StudiVZ doch provozieren kann; wie präsent und offenbar unersetzlich diese Kommunikationsform für viele inzwischen geworden ist. Ganz so, als ob ein Verschwinden von der Bildschirmfläche physische Qualität gewonnen hätte und der Rückzug aus dem virtuellen Raum als Rückzug aus dem sozialen Raum interpretiert würde, fragte mich Philipp per sms: „Aber wo bist Du denn dann?“ Seine Frage hat mich genauso stutzig gemacht wie ihn vermutlich meine Antwort, hätte ich sie ihm mitgeteilt: „Na – in Berlin?“

Ich solle doch stattdessen zu facebook kommen, da sei’s wirklich lustig, meinte er weiter. Interessant, dass er „zu facebook kommen“ formuliert hat, und nicht „bei facebook anmelden“. Darf man das die Örtlichkeit des Virtuellen nennen? Die kulturpessimistische Interpretation würde die Aufgabe der physischen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, die Verkümmerung des Sozialen beklagen. Ich ziehe aus der Verschiebung für’s erste diesen Hinweis: dass das Soziale, in welchen Formen auch immer, nicht physisch orientiert, sondern ausschließlich bedeutungsorientiert ist. Die heutige Dezentralisierung des Sozialen im physischen Raum – unsere „Globalisierung“ – führt (fast zwangsläufig?) zu neuen Konzentrationen im virtuellen Raum.

Verkürztes Argument

Ein wenig Verständnis habe ich an pessimistischen Tagen wie dem Heutigen ja doch für die Damen und Herren Journalisten, wenn Sie sich von der wachsenden Bloggerschaaren in ihrer Autorität herausgefordert sehen. Nur, weil man das Netz Zwei Null mit Kommentaren, Gegenanalysen- und recherchen, Vorwürfen, Kritiken überschwemmen kann, heißt es noch lange nicht, dass man sich zu allem äußern darf, was einem beim Skimming auf dem Bildschirm entgegenflimmert. Das Netz kennt keine Zurückhaltung, und so fürchten sie Dezentralisierung als Verrohung.

Dann aber wiederumm macht es mich stutzig, dass viele auf ihrer Seite folgendes offensichtlich nicht zu begreifen imstande sind: Dass das Anliegen der "seriösen" Blogger nicht die reaktionäre Dekonstruktion jeglicher Eliten ist. Ihr Einsatz gilt dem Verschmelzen zweier Eliten, der etablierten und ihrer aufstrebenden, und nicht um eine dumpfe "Elite für alle". Ausweitung, nicht Absetzung ist das Ziel.

zitiert: Foucault

Wenn Jerzy Jedlicki (via) einen „neuen Typus des Intellektuellen [fordert] – sensibel gegenüber Leiden und Unrecht, bereit zum Protest gegen Verfolgungen und Ungerechtigkeit, dabei aber Individualist und Skeptiker, der niemals als Apostel der Einen Wahrheit auf die Fähigkeit zum kritischen Denken und Zweifeln verzichtet“, weiß ich mich gewiß auf seiner Seite. „Sie werden dieser Haltung moralischen Relativismus vorwerfen und nachzuweisen versuchen, wie nutzlos solche Weicheier seien, die sich auf Vorbehalte und Zweifel, auf all diese verschiedenen 'Aber' spezialisiert hätten, wo die Menschen doch vor allem des Gefühls eines kollektiven Sinnes bedürften – und dessen Quellen könnten allein Glaube und Tradition sein.“

Kein anderes Ideal hat Foucault beschrieben und - im entscheidenden Unterschied zu vielen der vermeintlich Intellektuellen, denen man im Alltag begegnet - gelebt: „Ich träume von dem die Evidenzen und die Universalitäten zerstörenden Intellektuellen, dem Intellektuellen, der in den Trägheiten und Zwängen der Gegenwart die Schwachpunkte, die Öffnungen und die Kraftlinien entdeckt und anzeigt, dem Intellektuellen, der unaufhörlich seinen Platz wechselt, der nicht genau weiß, wo er morgen sein oder was er morgen denken wird, denn er achtet zu sehr auf die Gegenwart“ (via).

Für mich ein weiterer Impuls also, um den letzten Absatz der "Fallstricke" in seiner vollen Begründung erfassen zu können: Geisteswissenschaftliche Kritik nach dem Konzept Foucaults und ökonomische bzw. juristische Lehre bilden zwei Felder, die ungleichen Machtgewichts sind und mit unterschiedlicher Distanz zu den Gravitationsschwerpunkten Politik, Wirtschaft und Globalisierung stehen.

Erst vor dem Hintergrund dieser Einsicht gewinnt meine Forderung nach einem Feldwechsel die Dringlichkeit, die ich ihr zuschreibe: Wir kommen meines Erachtens nicht umhin, diesen Schritt heraus aus den hermetischen Geistesanstalten zu tun. Man bringt sich ansonsten unweigerlich in Erklärungsnot, in Bedrängnis, zum Ethiker zu werden, der seine Ethik zu leben vergisst (metepsilonema). Woher also nur, frage ich mich immer wieder, die überdimensionalen Hemmungen?

Das Radikal und die Angst

Versuchsweises Herantasten an das, was die Diskussion über gute Lehre angekratzt hat. Samuel fragte nämlich nach dieser Grenzziehung: „Ab wann bin ich ein kritischer Mensch, ab wann ein Spinner?“

Meine Vermutung darauf war diese: „Je informierter man ist, desto "radikaler", d.h. die Wurzeln des Bestehenden hinterfragend, vielleicht sogar unterwandernd, wird man wahrgenommen. Vermutlich müsste man die "Grenze" zwischen machbarer oder wünschenswerter Alternative und umstürzlerischer Radikalität zu verorten versuchen. Dort erkennt man unter Umständen, dass Gesellschaften schon lange ein Bewusstsein für ihre "Globalisiertheit" haben: Radikalität führt eine Veränderungskomponente ein, die jeden betrifft und ihn aus Gewohnheiten reißt, ohne ihm bei der Gestaltung eine Wahl zu lassen ...“

Mir scheinen inzwischen vier Figuren nötig, um die Konstellation besser ausleuchten zu können: Den Experten, den Radikalen, den Spinner ...

- der Experte kritisiert innerhalb der Horizonte des Bestehenden bzw. Möglichen;
- den Spinner hält man für ungefährlich;
- dem Radikalen aber schreibt man etwas zu, was er mit dem Experten teilt: Charisma und Autorität. Allerdings zeigt sich der Radikale durch seine Kritik als Idealist – und durch seinen Veränderungswillen als Tatmensch, der genau damit droht: Menschen aus ihren Gewohnheiten zu reißen, ohne ihnen bei der Umgestaltung eine Wahl zu lassen. Der Radikale ist also totalitär. Oder doch nur autoritär?

Vielleicht hilft mir der Idealist weiter? Der erklärt mir, unsere Angst sei nicht die, dass alles radikal, d.h. grundsätzlich, anders sein könnte. Wir haben keine Angst vor der Umstellung auf morgen, sondern vor dem Bruch mit dem heute.

Hilfe geleistet, nicht nur gedacht

Vor lauter verkopfter Grübelei habe ich ganz vergessen, dass man so etwas nicht nur andenken, sondern auch leisten kann - dass ich so etwas seit kurzem nicht mehr nur andenke, sondern auch leiste. Wenn auch im kleinen Rahmen, nämlich hier, als "Mentor". Selber tun und weitersagen.

Feine Verse

Poesie ist noch nicht einmal annähernd meins, gebe ich offen zu. Wie viele Gedichte ich im Laufe meines Studiums interpretiert habe, kann ich an einer Hand aufzählen, und A.K. Ramanujans Verse zählen ganz offensichtlich nicht dazu. Wenn mir auf Anhieb drei Werke einfallen, für die ich mich immer wieder begeistern kann, dann sind es wohl, in keiner bewussten Reihenfolge, diese.

T.S. Eliot, "Journey of the Magi":



Erstes Semester, wenn nicht sogar mein erstes Referat: Man merkt's an der Akribie, mit der ich mich vorbereitet habe. (Lang, lang ist's her ...)

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Dann: Philip Larkin, "This Be The Verse":



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Und dann: Langston Hughes, "Life is fine":

I went down to the river,
I set down on the bank.
I tried to think but couldn't,
So I jumped in and sank.

I came up once and hollered!
I came up twice and cried!
If that water hadn't a-been so cold
I might've sunk and died.

But it was cold in that water! It was cold!

I took the elevator
Sixteen floors above the ground.
I thought about my baby
And thought I would jump down.

I stood there and I hollered!
I stood there and I cried!
If it hadn't a-been so high
I might've jumped and died.

But it was High up there! It was high!

So since I'm still here livin',
I guess I will live on.
I could've died for love--
But for livin' I was born

Though you may hear me holler,
And you may see me cry--
I'll be dogged, sweet baby,
If you gonna see me die.

Life is fine! Fine as wine! Life is fine!

Identitätsfrage

unzeitgemäß zitiert: Nietzsche

Meine bereits so oft vorgetragene, mich motivierende Sorge in Nietzsches Worten:

"Es mag das Erstaunlichste geschehen, immer ist die Schar der historisch Neutralen auf dem Platze, bereit, den Autor schon aus weiter Ferne zu überschauen. Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als 'Kritik', während kurz vorher der Kritiker von der Möglichkeit des Geschehenden sich nichts träumen ließ. Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern nur wieder zu einer 'Kritik'; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder Kritik. Dabei ist man übereingekommen, viele Kritiken als Wirkung, wenige oder keine als Mißerfolg zu betrachten. Im Grunde aber bleibt, selbst bei sotaner 'Wirkung', alles beim alten: man schwätzt zwar eine Zeitlang etwas Neues, dann aber wieder etwas Neues und tut inzwischen das, was man immer getan hat. Die historische Bildung unserer Kritiker erlaubt gar nicht mehr, daß es zu einer Wirkung im eigentlichen Verstande, nämlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme: auf die schwärzeste Schrift drücken sie sogleich ihr Löschpapier [...] Gerade in dieser Maßlosigkeit ihrer kritischen Ergüsse [...] verrät sich die Schwäche der [post]modernen Persönlichkeit."

Friedrich Nietzsche, "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", in: Unzeitgemäße Betrachtungen, 5. Abschnitt.

Toleranz in Grenzen

Furchtbar vage, das, aber vielleicht kommt der Stein ins Rollen:
Ich verweigere mich inzwischen dem Versuch, der Kolonialismus und Imperialismus als „Schattenseiten“ der sich aufklärenden Moderne verstehen will. Anstelle einer Apologie: Sind sie nicht im Gegenteil diskursive Parallele, ergänzend und selbstverständlich, zum Kontrollimpuls über Natur und Globus? Denn rationalistischer Aufklärung und brutaler Fremddominanz gemeinsam ist die Sicht auf das Fremde / Unbekannte, das im weitesten Sinne assimiliert, d.h. erkannt, benannt, entzaubert zu werden verlangt.

Die Fortführung im heutigen Abwehrdenken gegenüber globaler Migration zeigt das überdeutlich, freilich in anderer Form und unter anderer Instanz. Wenige Gesten kristallisieren unsere Kälte so klar wie die Aufforderung zu mehr „Toleranz“ gegenüber „Ausländern“. Die linke Kritik an der kulturellen Berührungsscheue der Konservativen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ihr vorbehaltloses, offenes, interessiertes und verständniswilliges Entgegenkommen nur vermeintlich und bei Weitem herzlicher formuliert ist als es ausgelegt werden kann: Warum „kultivieren“ wir sonst unsere Rede von der „Toleranzgrenze“?

Gute Lehre

Offensichtliches wiederholt und voreingenommen in eigene Worte gefasst: Die mit dem Historismus etablierte Forderung, man solle im Unterricht lehren anstelle zu werten, kann sich nicht gerecht werden. Zwar kann man sich einbilden, die Streitfrage um das inhaltliche "Was?" beiseite gelegt zu haben, da jede Epoche jetzt gleichwertig "unmittelbar zu Gott" ist, wie Ranke es formulierte. Diese Öffnung objektiviert allerdings kaum unseren Quellenumgang; sie erlaubt uns noch weniger, jede Geschichtsauseinandersetzung ausschließlich auf das methodische "Wie?" zu konzentrieren. Ich kann mir zwar wünschen, "daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen [...] und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen beurteilende, in diesem Sinn 'bewertende' Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle [...]". Doch Weber argumentiert noch ohne Michel Foucaults Einsichten in die Zusammenspiele von "pouvoir-savoir", "power-knowledge", Macht und Wissen.

Der sie im Französischen und Englischen verbindende Gedankenstrich polarisiert Wissen und Macht ausdrücklich nicht, um ihnen eine kontrahentische Gegenüberstellung zuzuweisen oder ihre idealtypisierte Trennung in zwei Sphären reinen, unvoreingenommenen "Wissens" einerseits und roher, selbstreproduzierender "Macht" andererseits vorzuschlagen; noch deutet der Gedankenstrich ihr Verschmelzen an. Nein - Wissen und Macht, darauf besteht Foucault, überschreiben sich gegenseitig, permanent und bis zur Undifferenzierbarkeit: Wissen baut ebenso auf Macht wie Macht zugleich auch auf Wissen baut. Weder gibt es machtfreies Wissen, noch wissensenthobene Macht.

Das "Was?" ist also umso aktueller, bleibt es doch perspektivabhängig: "unterrichten" heißt doch im Unterschwelligen, bereits durch die Vermittlung, und vor allem: indirekt, d.h. mit der Auswahl der Vermittlung, zu richten. Das Einzige, was daher unhinterfragt zu lehren sein kann, ist die Motivation zum Impuls des unmittelbaren Selbst(be)fragens und Selbst-er-/-auf-klärens - der Wille einer Aufklärung, die immer selbst vorgenommene Aufklärung ist.

"Krise des Wissens"

Grandios und ohne Einschränkung lesenswert -> Nils Minkmars Sicht auf die aktuelle globale Finanzkrise. Ja: die aktuelle. Wer wird denn so blauäugig sein wollen und Zukünftige ausschließen ... ???

Unmittelbare Ergänzung um die Aussichten, die Michael (nicht mehr dort, sondern) hier skizziert ...

Überflüssige Wahl?

Jede Wahl ist gleichzeitig Zurückweisung, ein „entweder oder“ - das eine Marktwirtschaft allerdings schon bei nächster Gelegenheit in ein „sowohl als auch“ zu revidieren verspricht: Entscheide Dich heute für dies, morgen für jenes; übermorgen hast Du beides. Verzicht war vorgestern.

Hat sich diese Revidierbarkeit, dieses Versprechen nicht schon längst in die Politik übertragen?

Deutschland den Deutschen?

Auch wenn es so interpretiert werden könnte als ob ich dazu abdrifte, nur noch Videos zu posten: Über das Radio ffn-Gespräch zwischen Andrea Ypsilanti und "Franz Müntefering" hat mich YouTube auf den folgenden Panorama-Bericht aufmerksam gemacht.



Bei Beleidigung also Ausweisung. Die Schizophrenie ist interessant: dass Christian Wagners Position hierzulande noch im politischen Mainstream verortet werden will, während wir sie jenseits einer unserer Grenzen als rechtspopulistisch verschreien. Nirgends in Wien, wo ich die vergangene Woche verbracht habe, konnte ich mich den umformulierten, aber im Kern doch deckungsgleichen Botschaften von FPÖ und BZÖ entziehen:





Was denkt sich eigentlich ein Ausländer, wenn er sich durch Haiders Slogan "Österreich den Österreichern! Deinetwegen." angesprochen sieht? "Scheißösterreicher"? Q.E.D., und in dem Fall hätte sich die Schlaufe ja geschlossen: Dem aggresivem Potential muss man drastisch entgegentreten und einen nationalen Schutzraum gegen fremde "Unterwanderung", wie Wagner es noch formuliert hat, errichten. "Deutschland den Deutschen!" also. Und damit zurück in "heimatliche" Gefilde. Die Denkparallelen drängen die Frage auf, womit die Hessen-CDU nun als nächstes aufwartet? Vielleicht findet sie ja Gefallen an elektronischen Fußfesseln? Die viel dringlichere Sorge ist aber die: Wie lange wird es wohl dauern, bis die demokratischen Verstandssicherungen eingreifen?

"Da kann man nich' meckern ...

... das geht nich'."




zitiert: Sigmund Freud

"Es scheint festzustehen, daß wir uns in unserer heutigen Kultur nicht wohl fühlen, aber es ist sehr schwer, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob und inwieweit die Menschen früherer Zeiten sich glücklicher gefühlt haben und welchen Anteil ihre Kulturbedingungen daran hatten. Wir werden immer die Neigung haben, das Elend objektiv zu erfassen, d.h. uns mit unseren Ansprüchen und Empfänglichkeiten in jene Bedingungen zu versetzen, um dann zu prüfen, welche Anlässe zu Glücks- und Unglücksempfindungen wir in ihnen fänden. Diese Art der Betrachtung, die objektiv erscheint, weil sie von den Variationen der subjektiven Empfindlichkeiten absieht, ist natürlich die subjektivste, die möglich ist, indem sie an die Stelle aller anderen unbekannten seelischen Verfassungen die eigene einsetzt. Das Glück ist aber etwas durchaus Subjektives. Wir mögen noch so sehr vor gewissen Situationen zurückschrecken, der des antiken Galeerensklaven, des Bauern im 30jährigen Krieg, des Opfers der heiligen Inquisition, des Juden, der den Progrom erwartet, es ist uns jedoch unmöglich, uns in diese Personen einzufühlen, die Veränderungen zu erraten, die ursprüngliche Stumpfheit, allmähliche Abstumpfung, Einstellung der Erwartungen, gröbere und feinere Weisen der Narkotisierung in der Empfänglichkeit für Lust- und Unlustempfindungen herbeigeführt haben. Im Falle äußerster Leidmöglichkeit werden auch bestimmte seelische Schutzvorrichtungen in Tätigkeit versetzt."

Sigmund Freud, "Das Unbehagen in der Kultur", in: "Das Unbehagen in der Kultur" und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt (Main): Fischer, 10. Auflage 2007, S. 29-108, hier: S. 55.

Betreff: 701 442 72 --- Austritt

Wofür man seinen Feiertag doch alles nutzen kann. Ich hab' Dinge getan, die ich über eine halbe Ewigkeit hinweg immer wieder prokrastiniert habe, weil ich die nötige Ruhe für sie einfach nicht gefunden habe: Ein paar Bilder aufgehangen. Und aus der SPD ausgetreten.
Lebt sich doch gleich viel besser mit solchen Wohnwertsteigerungen.

Macht = Kapital?

Vielleicht verfalle ich gerade in eine Revisionsphase, nachdem ich das Kulturheilige um Heideggers Gedanke der Geworfenheit zu ergänzen versucht habe. Ich wäge ab, ob sich Russells Gegenüberstellung von „geistiger“ und „technischer Macht“ nicht effektiver als geistiges und technisches „Kapital“ denken ließe. Russells Aussage war diese:

„Die Wissenschaft als geistige Macht ist skeptisch und wirkt etwas destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt, während sie als technische Macht genau die entgegensetzten Eigenschaften besitzt. Die technischen Entwicklungen, die den Naturwissenschaften zu verdanken sind, erhöhten Größe und Wirkungsbereich der Organisationsformen und vermehrten insbesondere die Macht der Regierungen.“

Die Anlehnung an Bourdieu suche ich bewusst, auch wenn mir die Konsolidierung beider Konzepte (noch) schwer fällt. Denn nur auf den ersten Blick wirkt diese Einpassung als Ergänzung: Jedes „Feld ist ein Ort von Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels.“ Was symbolisches, aufgeschlüsselt also ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital nicht zu fassen vermag, leisten seine geistigen und technischen Formen, indem sie die Stabilisierungen und Destabilisierungen erfassen, die Bourdieu mitgedacht hat. Das Feld aber lebt in jedem und durch jeden seiner Akteure, der sich wiederum am Habitus orientiert. Er – der Habitus – ist die jede (De-)Stabilisierung verhandelnde Instanz. Er trifft eine „systematische ‚Auswahl’ […] zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs“ um sich so gegenüber „Krisen und kritischer Befragung“ zu sichern.

Meine Bedenken gegenüber Bourdieus Theorie rühren aus der Engstirnigkeit ihres Strukturalismus. Inwieweit hat er die Möglichkeit vorgesehen, dass Stabilisierung und Destabilisierung nicht nur innerhalb eines Felds austariert werden, sondern auch von Außen in ein Feld hineingetragen werden können? Wie hermetisch also ist sein Feld-Begriff? Joas und Knöbl erklären mir, dass Bourdieu weder „überzeugend[e] Auskunft darüber geben [kann], wie viele Felder es gibt [… noch] wo genau die Grenzen zwischen […] Feldern zu ziehen sind. Diese Fragen sind für mich deshalb von Bedeutung, weil ich Russells Dichotomie als Motivation für eine schwerere „geisteswissenschaftliche Vereinnahmung“ ökonomischer Theorien verstehen möchte. Es geht mir also nicht darum, habituelle Unterschiede zwischen dem Feld der Geisteswissenschaften und der ökonomischen Lehre zu kennzeichnen – sondern darum, zu erkennen, dass sie zwei Felder ungleichen Machtgewichts sind, mit unterschiedlicher Distanz zum Gravitationsschwerpunkt zu Politik, Wirtschaft, Globalisierung stehen.

Wollte man die Forderung nach einer „technischeren“ Geisteswissenschaft in Bourdieus Strukturalismus einfassen, lautete sie wohl: „Es gilt, den Habitus ökonomischen Denkens zu destabilisieren und postmodern zu färben.“

Ob Bourdieu die Möglichkeit solcher „Feldübergriffe“ erlaubt? Ist ein erster z.B. mit der Einführung des „Kulturwirts“ vielleicht schon getan?



Literatur
Hand Joas und Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt (Main): Suhrkamp, 2004, S. 518-557.

Basiswortschatz Max Weber

Idealtypus
„[G]ewonnen durch einseitige Steigerung eines oder mehrerer Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von […] Einzelerscheinungen […] zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“ Ziel ist eine „scharfe Begriffsbildung“.

Kausalbeziehung
Das „Prinzip der adäquaten Verursachung“: Versuch der Feststellung, ob unter abgeändert oder nicht vorhanden gedachter Ursache das Ergebnis eines Vorgangs dasselbe ist.

Kultur
durch Werte mit Sinn und Bedeutung verknüpfter Teil der Wirklichkeit.

Logik & Methodik
garantieren korrekte Beweisführung und intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse.

Wertfreiheit
Die Unterscheidung zwischen „Seiendem“ und „Seinsollendem“: die Forderung, „daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen […] und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen beurteilende, in diesem Sinn ‚bewertende’ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle […].“




GesetzeswissenschaftenWirklichkeitswissenschaften
suchen das Generelle der Erscheinungen (Gesetz)suchen die kausale Erklärung der individuellen Erscheinungen in ihrer Eigenart und historischen Bedingtheit (Wert)
Erklären / AussagensinnVerstehen (=deutendes Erfassen)
Verstehen der Motivationen der Handelnden sowohl intellektuell als auch einfühlend

Die Trennungen zwischen Gesetzes- und Wirklichkeitswissenschaften sind jedoch keineswegs so strikt wie hier angedeutet: Beide sind gleichzeitig durch das Ziel des „verstehenden Erklärens“ aufeinander bezogen.

Ziel der Wissenschaft
1.) Kausalanalyse der in der Erfahrung gegebenen Wirklichkeit;
2.) „Kenntnis der Bedeutung des Gewollten“: Umsetzungschancen, Zwecksetzungen und Folgen des eigenen Handelns aufzeigen, um die Bewusstwerdung und Bewertung zugrunde liegender Ideen und Werte zu ermöglichen; orientiert sich am „Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit“.


Mit anderen Worten ...

Die allgemeine Verunsicherung, die ich verspüre, immer wieder - insbesondere hier - anspreche, ausschreibe, auszuräumen versuche: mal anders, nämlich musikalisch gefasst.


"Don’t really have the courage
To stand where I must stand.
Don’t really have the temperament
To lend a helping hand.

Don’t really know who sent me
To raise my voice and say:
May the lights in The Land of Plenty
Shine on the truth some day.

I don’t know why I come here,
Knowing as I do,
What you really think of me,
What I really think of you."


Wer Leonard Cohen kennt, kann vielleicht schon im Kopf hören, wie "The Land of Plenty" klingt. Ansonsten: Reinhören ...

Schwarzes, schwarzes Afrika

„Zu den wichtigsten Gründen für die Unterentwicklung gehören: ethnische Vielfalt, niedrige Produktivität, einseitige Exportstruktur, schlecht ausgebildete Arbeitnehmer, oft schwierige Boden- und Wachstumsverhältnisse, externe Schocks wie Währungsschwankungen, Kriege und Flüchtlingsbewegungen, niedrige Spar- und Investitionsquoten, geringes Niveau der Humankapitalbildung, tropisches Klima, geografische Isolation, Markt- und Staatsversagen und institutionelle Schwächen.“

Wenn man sich wie Robert Kappel [„Strukturelle Instabilität und Wachstumsschwäche: Wohin steuert Afrika?“, in: Böhler, Hoeren (Hrsg.), Afrika: Mythos und Zukunft. Freiburg (Breisgau): Herder, 2003, S. 178-193, hier: S. 178] nicht davor scheut, strukturelle, kulturelle, geographische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in ihren nationalen und internationalen Konstellationen auf eine derart stumpfe Perspektive herunterzubrechen, verwundert es mich auch nicht mehr, wenn der eminente Lester Thurow diese Denke auf die folgende Quintessenz zuspitzt: „Afrika ist ein am falschen geografischen Ort liegender Kontinent, auf dem alles, was misslingen konnte, auch misslungen ist [Die Zukunft der Weltwirtschaft. Frankfurt (Main): Campus, 2004, S. 233]“: Weil alle „Wirtschaftsentwicklung [...] ein Küstenphänomen“ ist - „[f]ast 70 Prozent des Welt-BIP werden in weniger als 100 Kilometer Entfernung von der Küste produziert“ - und Afrika nunmal das Unglück zufällt, der „Kontinentalblock mit der im Verhältnis zu seiner Fläche kürzesten Küstenlinie der Welt“ zu sein; weil „[e]s kein Sozialkapital, keine sozialen Fähigkeiten oder politischen Führer, die langjährige, konsequente Wirtschaftsstrategien vorweisen können“, besitzt (S. 235); weil es den Ländern dort nicht ganz recht gelingen will, „sich zu organisieren“ (S. 236).

Selten kommen mir in solchem Maße „ver-rückte“ Wahrnehmungsmuster unter. Dass sie an Einfalt nicht zu übertreffen sind, bedarf keiner weiteren Betonung; ich traue mich gerade nur nicht, diese Frage zu beantworten: ob es denn ansatzweise möglich ist, solchen „Denkern“ (sofern sie denn überhaupt meinem Verständnis nach über die Welt „reflektieren“) konstruktiv ihre beschämende Einfalt aufzuzeigen?

Wortschatzerweiterungen - Klappe, die Zweite

Wo ich gestern noch eigene Wortschatzerweiterungen gesammelt habe: Wen der folgende Absatz entzückt, liest einfach hier weiter und macht seine Lektüre im Zeilenzwischentraumzeichenfeenlandschaftsraum zur regelmäßigen, weil mehr als lohnenden Gewohnheit ...

Zur Phänomenologie der Glykophilie

Die Phänomenologie der Glykophilie ist ein Gegenstand “voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken” (Marx). Die komplexe Dialektik des Objekts kann mit der fetischisierten Modalitäten der Subjektkonstitution innerhalb der spektakulären Vergesellschaftungsformen einer ihrer selbst entfremdeten Menschheit nur schwer harmonisiert werden. Dennoch liefert die von Helsing und Montgomery in “Spezifische Probleme marxologischer Protophänomenologie”1 entwickelte Methodologie der abstrakten Konkretion eine hinreichende Legierung, die es ermöglicht, den Fetisch, der sich speziell in der Sphäre der Ökotrophologie, die zur ausreichenden Reflexion des datierten Objektclusters unbedingt zu tangieren ist, peripher zu umgehen. Ohne diese aus erkenntnistheoretischer Perspektive durchaus kritikable Kathode ausreichend problematisieren zu können, ist es dennoch erforderlich, die Glykophilie als “Phänomen der Phänomene”, als “Sein des Seins” zu durchleuchten.
[weiterlesen]

Wortschatzerweiterungen

- „kulturelle Kosmologie“; „Kulturkosmologie“

- „hermeneutische Variable“: mit Rücksicht auf knappen Kenntnisstand vorläufig eingesetzter Näherungsbegriff, der auf den aktuell prädominantesten oder auffälligsten Aspekt eines Phänomens verweisen soll.

- „minoisches“ Rechtsgebärden; „minoische“ Gewalt; „minoische“ Rechtssprechung: Minos war, den Anmerkungen zu Dantes Göttlicher Komödie zufolge, „König und Gesetzgeber auf Kreta, der im Rufe unbestechlicher Gerechtigkeit stand.“

- „intellektuelles Wiederkäuen“: abschätzig besetzte Bestandsaufnahme für Projekte und Arbeiten, die allgemein Anerkanntes durch Neuformulierung als Perspektivausweitung präsentieren.

Zynisch, aber wahr

I like the way we've
been able to fuck up things here
as good as anywhere else
in only half the time.

Laurie Duggan, "Australia".

Präsent-was?

Manche Schlagworte, durch die neue akademische Strömungen ausgerufen werden sollen, verstecken ihre Banalität vergebens, weil sie mit einer solchen Offensichtlichkeit ihrem tatsächlichen Zweck dienen: der Drittmittelwerbung. Sofern sich jemand die Mühe machen möchte, eine hierarchisierte Aufstellung (neudeutsch: Top Ten) peinlicher Denkschulen zu führen – der „Präsentismus“ dürfte nicht nur nicht fehlen, sondern gehörte zweifelsohne auch auf einen ihrer vordersten Ränge.

Zwei Mahnungen scheinen seine Vertreter zusammenführen zu wollen. Zum einen der selbstverständliche Ruf, sensibel mit dem unvermeidlichen Übertrag der eigenen Wertmaßstäbe auf sozialhistorische Zusammenhänge umzugehen: Die Renaissance als sexistisch und autochtone Bevölkerungen als hoffnungslos vormodern wahrzunehmen sind zwar willkürliche, aber dennoch „repräsentative“ Beispiele verkrampfter Platzzuweisungen, die das historisch oder geographisch Andere nur im eindimensionalen Verhältnis zur eigenen Gegenwart begreifen lassen.

Zum anderen scheinen „Präsentisten“ zeitgleich dem Irrglauben aufliegen zu wollen, man könne durch intensive Beschäftigung mit dem eigenen, jüngsten Zeitgeist die geschichtlichen Interesseneinschränkungen der Gegenwart gegenbügeln, um einen reineren, unbelasteteren, „objektiveren“ Blick in die Vergangenheit richten zu können. Der „Präsentist“ sieht sich also in einer Doppelfunktion als gegenwartsbezogener Zeit-, aber vergangenheitsorientierter Kultur- und Sozialhistoriker.

Leistet all das nicht bereits in hervorragendem Maße jede sorgfältige Diskursanalyse mit dem Handwerkszeug, das einem Foucault beerbt hat?


Quellen:
Jon Klancher, "Presentism and the Archives".
Lynn Hunt, "Against Presentism".
SHAKESPER Roundtable: Presentism.

Und die Konsequenzen?

"[...] a new model has arisen over the past decade, in which visual cognition is understood not as a camera but something more like a flashlight beam sweeping a twilit landscape. At any particular instant, we can only see detail and color in the small patch we are concentrating on. The rest we fill in through a combination of memory, prediction and a crude peripheral sight. We don't take in our surroundings so much as actively and constantly construct them." Daher schlussfolgert man inzwischen: "'Our picture of the world is kind of a virtual reality, [...] a form of intelligent hallucination.' The benefit of these sorts of cognitive shortcuts is that they allow us to create a remarkably rich image of our environment despite the fact that our two optic nerves have roughly the resolution of cell-phone cameras."

Die Konsequenz ist durchaus die Richtige: "'The main thing is knowing that you've got limitations'". Allerdings scheint mir die Tragweite dieser neurologischen Erkenntnis keineswegs erschöpfend genug gefasst zu sein: "The control and management of attention is vital in all sorts of realms. Airplane cockpits and street signs would be designed better, security guards would be trained to be more alert, computer graphics would feel more natural, teaching less coercive.(Quelle, via).

Was, über ihre alltagspragmatische Anwendbarkeit hinaus, bedeuten solche Einsichten in die Wahrnehmungsleistungen des Menschen für die Geisteswissenschaften, für jede Erkenntnistheorie? "[K]nowing that you've got limitations" ist noch kein Eingeständnis, zu dem ich mich durchringen muss. Welcher Übertrag bleibt also für "uns" zu verrechnen?

Hermeneutische Variable

Der Begriff des „Kulturheiligen“ war für mich von vornherein ein verlegener, dessen Unbeholfenheit die Andeutung transzendentaler, metaphysischer Essenz nicht leugnen kann. Als vorläufige „hermeneutische Variable“ ist er mir dennoch mehr als hilfreich, insofern er mich auf etwas verwiesen hat, das ich inzwischen besser benennen zu können glaube. Das „Kulturheilige“ sollte die „Anerkennung des Anderen im Gegenüber“ bezeichnen, die mit der Pflicht aufwartet, „den kulturellen, sozialen oder wie auch immer aus meiner Perspektive begriffenen Hintergrund des Anderen 'wie etwas Heiliges', 'als etwas Heiliges', sprich: für mich nur mittelbar (wenn überhaupt) Begreifbares oder Zugängliches [zu] achte[n]“. Eine Formulierungsvariante, die meines Erachtens ähnliches vermittelt, ist Heideggers Idee der "Geworfenheit":

Geworfenheit nennt Heidegger die Art, wie das ich zu seinem eigenen In-der-Welt-sein gekommen ist. Die Geworfenheit ist nicht die faktische Geburt, sondern die konstitutive Form jedes menschlichen Lebens.“ [Quelle]. Im O-Ton: „Die Geworfenheit ist nicht nur nicht eine »fertige Tatsache«, sondern auch nicht ein abgeschlossenes Faktum. Zu dessen Faktizität gehört, daß das Dasein, solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird“ [Quelle].

Dieser Erfahrung des „Geworfenseins“ ist nun – und hier schließe ich an das „Kulturheilige“ an – die uneingeschränkte „Dignität einer Erfahrung, die vergänglich ist“ (Walter Benjamin) zuzugestehen.

Das nur kurz notiert; für eine standfestere Verteidigung werde ich mich noch ein wenig belesen müssen ...

Emanzipation doppelt gedeutet

Die formale Abschaffung einer Diskriminisierung ist ungleich ihre Überwindung. Ich lasse mir diesen Umstand von Frantz Fanon in Black Skin, White Masks erklären:

„One day the White Master, without conflict, recognized the Negro slave (217). [...] Historically, the Negro steeped in the inessentiality of servitude was set free by his master. He did not fight for his freedom. [...] The Negro has not become a master. [...] The Negro is a slave who has been allowed to assume the attitude of a master. The white man is a master who has allowed his slaves to eat at his table“ (219).

Warum? Fanon argumentiert mit Hegel: „[...] human reality in-itself-for-itself can be achieved only through conflict and through the risk that conflict implies. This risk means that I go beyond life towards a supreme good that is the transformation of subjective certainty of my own worth into a universally valid objective truth“ (218).

Daher sein harsches Fazit: „The black man was acted upon. Values that had not been created by his actions, values that had not been born of the systolic tide of his blood, danced in a hued whirl around him. The upheaval did not make a difference in the Negro. He went from one way of life to another, but not from one life to another“ (220).

Ich verstehe seinen Aufruf, möchte seinen Imperativen Folge leisten. Wenn aber die Entideologisierung der Moderne zu größeren Denk- und damit: Gestaltungsfreiräumen führt - verfehlt Emanzipation dann nicht ihren ursprünglichen Zweck, ihren Handlungsimpuls, wenn ich in diese Freiräume bereits hineingeboren werde? Kehren wir dann nicht von unserem heutigen Emanzipationsverständnis ab? Sobald die „Aktion gesellschaftlicher und insbesondere politischer Selbstbefreiung“ ihre Forderungen durchgesetzt hat, fallen wir der nachfolgenden Generation gegenüber dann nicht zurück in den „Akt des Gewährens von Selbstständigkeit“? Dann schimmert die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs durch: „Emanzipation stammt von dem lateinischen emancipare: einen 'Sklaven oder erwachsenen Sohn' aus dem mancipium, der 'feierlichen Eigentumserwerbung durch Handauflegen', in die Eigenständigkeit zu entlassen.“

Gründet hier, im Problem dieses privilegierten in die Welt „geworfen seins“ (Heidegger), die Irritation postmoderner Gefühlslagen? Fehlt einem vielleicht zwar nicht der Wille, das Wollen zum Handeln, aber der gelebte Zwang, das konkrete Müssen - die Empathie?

Deontologisierung

[Vor einer halben Ewigkeit mal unterwegs in Bus oder S-Bahn notiert:]

Der Verzicht auf jegliche Ontologie ist unvorstellbar. Kein Denken kommt ohne eine zumindest grobschlächtige Fest-Stellung von Bedeutung aus. Das Eingeständnis muss also lauten: Der Verzicht auf "objektive", imperative Ontologien bedeutet nicht der Verzicht auf Ontologien per se. Das Subjekt verlässt sich - gedanken-, ja: zwangsläufig - auf subjektive Ontologien, deren Grenzen und Reichweiten vom persönlichen Erfahrungshintergrund abhängig bleiben. Um's mit einem peinlichen Neologismus zu erfassen: Der Mensch denkt "sobjektiv". Er objekiviert das subjektiv Erfahrene als Weltwissen. Daher gilt es bei der Hinterfragung unserer "Erfahrungsontologien" wohl, nicht anti-ontologisch, sondern de-ontologisch vorzugehen: Wir müssen sie prozesshaft abbauen. Allerdings reicht kaum die intensivere Auseinandersetzung mit einem Gegenstand: Vorbedingung ist die Einsicht, dass diese Deontologisierung immer wieder nur vorläufiges Wissen produziert, grundsätzlich unabschließbar bleibt. Deontologiserung = Aufklärung?

Fallstricke der Postmoderne

Rückblickend wirkt das, was ich "damals" als den groben Entwurf für diesen Blog vorgestellt habe, mehr als unbeholfen. Zeit also für eine ausführlichere Ausarbeitung. Gründe dafür gibt es genug - vornehmlich meine Magisterarbeit, die sich mit dem Thema auseinandersetzen soll. Den entscheidenen Impuls für das "Jetzt!" aber haben zugleich Claudias „Nachtrag“ als auch der hochgeschätzte Gregor Keuschnig mit seinen beiden Begleitschreiben zu Jerzy Jedlicki gegeben. Aus Die entartete Welt zitiert Keuschnig den folgenden Abschnitt über "[d]ie Intellektuellen als europäische Spezies":

„Der Grundzug der neuen Zeit ist nicht die Festigkeit der Überzeugungen – davon hatten wir immer mehr als genug -, sondern im Gegenteil eine Ungewissheit, die selbst jene Denker nicht verschont, die mit dem Absoluten auf vertrautem Fuss stehen, die aber wissen, dass heilige Gebote nur sehr verschwommene Hinweis geben, wie man in konfliktträchtigen und unübersichtlichen Situationen zu urteilen und zu handeln habe. Die Ethik der Erkenntnis heisst uns grösseren Respekt vor ehrlich eingestandenen Zweifeln als vor unzureichend begründeten Überzeugungen zu haben. So kann der Respekt vor der Wahrheit paradoxerweise zu einer Schwächung unserer moralischen Entschlossenheit im handeln führen.“

Das erinnert mich doch stark an Odo Marquard: „Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die Überzeugungen sind. Skeptiker ist nicht der, der - als Inhaber geballter Ratlosigkeit – gar keine Position hat sondern zu viele.“

Grundsätzlich: Die Postmoderne hat Recht mit ihrer aufmerksamen Verfolgung der so vertrakten Weltverhältnisse. Alles vielschichtig, alles hybrid, alles ständig im Fluss. Alles richtig, aber alles sehr privilegiert. „Die philosophische Demontage des Subjektbegriffs mag den berechtigten Zweifel spiegeln, ob in einer zunehmend vermittelten Welt die Verhältnisse ein Handeln im Sinne übersichtlicher Kausalketten überhaupt zulassen, ob die/der Einzelne frei ist, die Ziele seines Handelns in eigener Machtvollkommenheit zu bestimmen, und ob sie/er die eigene Position am Kopf der Kausalkette genießen kann. Im Generellen, außerhalb der Philosophie, denke ich, haben wir nicht die Wahl“, schreibt Hartmut Winkler. Und so belassen die postmodernen Denker Unrecht bei Unrecht, weil sie nichts für eindeutig erkennbar halten. Ihre zunehmende Selbstlähmung ist damit die endgültige Verzerrung ihres vielleicht ursprünglichen Anliegens: Emanzipation, Befreiung aus ungerechten und ungerechtfertigten Machtverhältnissen, ideologiefreie Selbstverortung und -bestimmung.

Die Quelle dieser Selbstlähmung? Ich will zur Beantwortung die Provokation wagen, die Anliegen von Postmoderne und Aufklärung gleichzusetzen. Die wohlbekannten Worte Kants:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Foucaults Interpretation derselben: „[...] the way Kant poses the question of Aufklärung is entirely different: it is neither a world era to which one belongs, nor an event whose signs are perceived, nor the dawning of an accomplishment. Kant defines Aufklärung in an almost entirely negative way, as an Ausgang, an 'exit', a 'way out.' In his other texts on history, Kant occasionally raises questions of origin or defines the internal teleology of a historical process. In the text on Aufklärung, he deals with the question of contemporary reality alone. He is not seeking to understand the present on the basis of a totality or of a future achievement. He is looking for a difference: What difference does today introduce with respect to yesterday?“

Verfolgt man diese Frage radikal, um mit ihr nicht nur die Basis unseres Bewusstseins, unserer Vernunft, sondern vielmehr noch: unseres Wissens in Frage zu stellen, kann das Projekt der Aufklärung das Versprechen seines Wortsinns niemals einlösen. Die Frage nach der Differenz wird zum Grund für die Diffärenz der Beantwortung, oder anders: Die verlangte Aufmerksamkeit für die Differenz des „Heute“ in Abgrenzung zu seinem „Gestern“ macht eine endgültige Aufklärung unabschließbar. Aufklärung klärt die Vertraktheit der Welt nicht auf, sondern verdichtet sie im Gegenteil bis in die individuellsten, subjektivsten Lebenswelten hinein.

Allerdings: Sie enttarnt sich dabei selbst als eine der zentralen europäischen „großen Erzählungen“ (Lyotard). Bei aller bereits von Beginn an formulierten Kritik ist es allerdings erst die Selbsterfahrung des Zweiten Weltkriegs, der Aufklärung und Moderne zerbricht und ihren Selbstbetrug aufdeckt. „Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal“, lautet Theodor Adornos und Max Horkheimers Variante dieser These, die sie in ihrer Dialektik der Aufklärung 1947 formulieren: „[...] der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Welt gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. [...] Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden. [...] Als Sein und Geschehen wird [...] vorweg nur anerkannt, was duch Einheit sich erfassen lässt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt. [...] Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen.“ Daher ihre deutliche Schlussfolgerung: „Aufklärung ist totalitär“ (S. 10-13).

Auf die Nuancen, die Adorno und Horkheimer vor ihrem unmittelbaren Erfahrungshintergrund überschreiben, verweist später Henri Lefebvre in seiner Einführung in die Modernität: 12 Präludien (1978). Er thematisiert nicht allein die „Entzauberung der Welt“ (Weber), sondern die allmähliche Entfernung vom Universellen und die folgliche Hinwendung zum Speziellen, den Perspektivwechsel vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen. „Überall entdeckt man [...] distinkte Einheiten: Atome, Partikel, Gene, Elemente der Sprache, Phoneme, Morpheme, usw.“ Mit diesen „neuen Termini“ habe man gleichzeitig auch „[...] die Probleme der Stabilität der Gesamtheiten, der Strukturen, Typen, der provisorischen oder dauerhaften Gleichgewichte thematisiert“ (S. 211).

Die postmoderne Zersplitterung ist also als Vorzeichen in den modernen „Probleme[n] der Stabilität der Gesamtheiten“ bereits angelegt. Aber nochmals: Es ist erst die katastrophale Destabilisierung des Zweiten Weltkriegs, die ihre allmähliche Ausformulierung provoziert - in der Einsicht, dass „[d]as Elend der großen Erzählungen herkömmlicher Machart [...] keineswegs darin [liegt], daß sie zu groß, sondern [...] nicht groß genug waren“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2006, S. 14). Die Postmoderne darf sich damit als Aufklärung der Aufklärung verstehen: Sie lehnt den Rückgriff auf transzendentale Wahrheiten und Teleologien ab; „einfache Erklärungen“ sind ihren Denkern ein Unding; man argumentiert fortan aus dem Eingeständnis eingeschränkter Perspektiven, mit Gegensätzen, Widersprüchen, Antinomien, oszillierenden Mehrdeutigkeiten.

Jedoch: So grundsätzlich ihre Ansätze, so radikal offenbar die aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen. Das Fazit Zygmunt Baumans: „The postmodern perspective offers more wisdom; the postmodern setting makes acting on that wisdom more difficult. [...] The postmodern mind is aware that each local, specialized and focused treatment, effective or not when measured by its ostensive target, spoils as much as, if not more than, it repairs. [...] The means to act collectively and globally, as the global and collective welfare would demand, have been all but discredited, dismantled or lost“ (Bauman, Postmodern Ethics, S. 245). Man dreht sich im Kreis, wie die hilflose Kapitelüberschrift der zitierten Passage bekräftigt: „In the end is the beginning“.

Wie bei Bauman, so auch hier zurück zum Anfang: zu Jedlicki. „Daher wird die Herausbildung eines neuen Typus des Intellektuellen – sensibel gegenüber Leiden und Unrecht, bereit zum Protest gegen Verfolgungen und Ungerechtigkeit, dabei aber Individualist und Skeptiker, der niemals als Apostel der Einen Wahrheit auf die Fähigkeit zum kritischen Denken und Zweifeln verzichtet – ganz gewiss ein schwieriger Wandlungsprozess, der unter dem Beschuss der Anwälte diverser heiliger Werte verlaufen wird. Sie werden dieser Haltung moralischen Relativismus vorwerfen und nachzuweisen versuchen, wie nutzlos solche Weicheier seien, die sich auf Vorbehalte und Zweifel, auf all diese verschiedenen „Aber“ spezialisiert hätten, wo die Menschen doch vor allem des Gefühls eines kollektiven Sinnes bedürften – und dessen Quellen könnten allein Glaube und Tradition sein.“

Die weniger verkopfte Variante dieser Zeilen formuliert Claudia – und sie trifft den Kern meines Anliegens: „Um nicht in der Verstörung der [postmodernen] Selbstlähmung zu verfallen“, schreibt sie, „ist es hilfreich, sich zu erinnern, dass der Impuls zum Handeln allermeist nicht aus der Analyse und Beschreibung von Welt entsteht, sondern aus der existenziellen Konfrontation mit ihr.“Ihre Beobachtung deckt sich mit der Aufforderung Jedlickis, die eigenen Denkhorizonte zu erweitern, weiter zu streuen, sie gegebenenfalls auch zu verlassen, um sie in konkretere Arbeitshorizonte münden zu lassen. Damit unterschreibe ich noch keinen ideologischen Marxismus, der die grundsätzliche Vereinigung von Kopf- und Handarbeit anstrebt. Stattdessen werbe ich immer wieder für einen Schritt in die BWL (z.B. mit Sumantra Ghoshals Aufsatz "Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices") oder in die Jura (Mark Wu, "Free Trade and the Protection of Public Morals: An Analysis of the Newly Emerging Public Morals Clause Doctrine"). Es gilt, unsere kritischen, aber unbewegenden Gedankenexperimente auf radikale, aber nicht aggressive Weise in andere Felder, in andere Diskurse zu übertragen, von "geistigen" in "technische" Bereiche vorzudringen; man setzt sich ansonsten zu offen dem Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Stand der Dinge aus. Die Ansätze sind bereits gemacht worden – ich habe sie im vorangehenden Satz verlinkt: Wir müssen sie nur auflesen.

Verhandlungbasis

„[...] ich bin mir sicher, dass die Existenz von verschiedenen, miteinander im Dialog stehenden Auslegungen der Menschenrechte die Lebens-Situation vieler Menschen verbessern würde. Voraussetzung bleibt dabei jedoch die Anerkennung der grundsätzlichen Menschenwürde, oder? Und mit ihr bedarf es auch die Anerkennung einiger wirklich allgemeiner Menschenrechte, wie dem der Unversehrtheit der Würde.“

Das schrieb Robert neulich in Reaktion auf meine Menschenrechtsausleuchtung – vielleicht nicht, vermutlich aber wie ich bis vor kurzem doch ganz und gar unwissend gegenüber der laufenden Arbeit, die tatsächlich für die Formulierung „einiger wirklich allgemeiner Menschenrechte“ aufgewandt wird: Die sogenannten „Minumum Core Rights“ sollen über alle Auslegungswidersprüche hinweg die Essenz dessen erfassen und kristallisieren, was unhinterfragbar eines jeden Menschens Recht ist. Aktueller Formulierungsstand: „The Minimum Core of Economic and Social Rights: A Concept in Search of Content".

Während den minimalen Kernrechten also noch ein (ge)rechter Kern fehlt, will ich es wagen, in Vorleistung zu gehen. Abänderungen und Kommentare zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mache ich durch eckige Klammern [] oder Streichung kenntlich; ein Ausbleiben derselben gilt als Zustimmung zum Formulierten.


Artikel 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Artikel 2
Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.

Artikel 3
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

Artikel 4
Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen sind verboten.

Artikel 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Artikel 6
Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.

Artikel 7
Alle Menschen sind vor [dem ihrem jeweiligen] Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch [das ihr] Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.

Artikel 8
Jeder hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den zuständigen [innerstaatlichen gemeinschaftlich anerkannten] Gerichten gegen Handlungen, durch die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzt werden.
[Dieser Anspruch „verfällt“ wohl unter einem jeden Regime, das sich der Einhaltung der Menschenrechte widersetzt. Wie deutlich macht unsere globalisierte Wirklichkeit die Dringlichkeit einer supranationalen Rechtsinstanz ...]

Artikel 9
Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden.
[Darf jemand seiner Gemeinschaft verwiesen werden? Ich denke: ja.]

Artikel 10
Jeder hat bei der Feststellung seiner Rechte und Pflichten sowie bei einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.
[Was, wenn Recht nicht öffentlich, „unabhängig“ und „unparteiisch“, sprich: gewaltengeteilt gesprochen wird, sondern durch einen Gemeinschaftsrat oder -ältesten?]

Artikel 11
(1) Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.
[Auch hier wende ich ein: Es gibt andere Formen der Rechtssprechen außerhalb der unsrigen.]
(2) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.
[Was das abstrahierte innerstaatliche und/oder internationale Recht nicht als Unrecht anerkennt, soll ungestraft bleiben? Lokales, gemeinschaftlich verankertes Recht sollte vor säkulärem Staatsrecht / internationalem Recht gelten.]

Artikel 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.


Artikel 13
(1) Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
(2) Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.


Artikel 14
(1) Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.
(2) Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen.

[Artikel 14 = Asylrecht]

Artikel 15
(1) Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit.
(2) Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln.


Artikel 16
(1) Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne jede Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte.
(2) Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden.
(3) Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.

[Der Vorstellung, „(d)ie Familie [... sei] die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft“ ist, widerspreche ich mit allergrößter Vehemenz. Neben der „Ehe“, wie sie für mich im Christentum und Judentum Definition gefunden hat, gibt es auch andere, nicht minderwertigere Formen der Nächstengemeinschaft. Artikel 16 = Familienrecht?]

Artikel 17
(1) Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben.
(2) Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.

Artikel 18
Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.

Artikel 19
Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.


Artikel 20
(1) Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen.
(2) Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören.

Artikel 21
(1) Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.
(2) Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande.
(3) Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.

[Muss jede Gemeinschaft demokratisch organisiert sein?]

Artikel 22
Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuß der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde [und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit] unentbehrlich sind.

Artikel 23
(1) Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
(2) Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
(3) Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.
(4) Jeder hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

[Wo bleibt die Rücksicht auf agrarisch, nicht-industrialisierte Gemeinschaften?]


Artikel 24
Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub.


Artikel 25
(1) Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und [seiner Familie seinen Nächsten] Gesundheit [und Wohl] gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
(2) Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz.


Artikel 26
(1) Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muß allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.
(2) Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.

(3) Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.
[Da Bildung nicht näher definiert wird, verzichte ich auf ihre rechtliche Kodierung: Gemeinschaftswissen oder „Bildung“ kann durchaus über andere Kanäle als die Grundschule tradiert werden.]

Artikel 27
(1) Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.
(2) Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen.


Artikel 28
Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.

Artikel 29
(1) Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.
(2) Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die [das Gesetz seine Gemeinschaft] ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles [in einer demokratischen Gesellschaft] zu genügen.
(3) Diese Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden.

Artikel 30
Keine Bestimmung dieser Erklärung darf dahin ausgelegt werden, daß sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.