In den Höllenschlund der BWL?

Was haben postmoderne Kulturwissenschaften und BWL gemein? Eben - nicht das geringte. Postmoderne Theorien unterliegen einer doppeldeutigen "Disziplinierung", die zu ihrer hermetischen Selbstbegrenzung einerseits, zu ihrer Professionalisierung und Konsolidierung mit dem universitären Fächerkanon andererseits, geführt hat. Folge dessen ist, dass wir als Kulturwissenschaftler nie in die heutige akademische BWL gegangen sind, um ganz konkret ihr Denken, ihre Logik, ihre Sprache zu hinterfragen, obwohl sie doch eines der offensichtlichen "Machtzentren" dessen ist, was wir beharrlich kritisieren: "die" Wirtschaft, "die" Globalisierung etc. pp. Natürlich: gelegentlich plaudern Menschen wie der ehemalige Weltbank-Chef Joseph Steglitz aus dem Nähkästchen (siehe sein Globalization and its Discontents) und werden dankbar in den Reihen der Kapitalismuskritiker aufgegriffen. Doch ihren Verurteilungen haftet nur zu oft das Pauschale an. Nicht, dass The Shock Doctrine schlecht recheriert wäre, aber ähnlich wie Michael Moore verfolgt auch sie ein sehr konkretes Programm, das zwischen den Zeilen nachlesen bzw. mit den Bildern abgespult werden kann. Ihre vorgefertigte Meinung scheint mit jedem erneuten Auftritt in der Öffentlichkeit nur neu verpackt, nett umformuliert, durch neue Recherchen bestätigt.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Die Beweislast, die beide vorlegen, ist schockierend; macht mich allerdings im gleichen Zug wütend und zynisch. Sie verhärtet die Fronten und verschärft meine Ablehnung, nicht mein Verständnis. Sie untergräbt den Kern einer jeden "guten" Kritik - den mühseligen, offenen Dialog, der nicht zur reinen Anklageschrift, zum rhetorischen Monolog abstumpfen darf. Offene Kritik zeigt mehr auf als die kausalen Zusammenhänge, sondern unterstreicht ihre Ernsthaftigkeit durch den Versuch, die entscheidenden Sachverhalte auch zu erklären. Sie zeigt nicht nur den Bösewicht an, sondern führt auch die Diskurse ein, in denen er verankert ist.

Unter Umständen bin ich also mit den Wirtschaftsstrukturen, den Entscheidungswegen vertraut, verstehe aber nach wie vor wenig von der inneren Logik des modernen Kapitals. Die Kritik an den Exzessen der Wirtschaft muss daher tiefer ansetzen - eben in der BWL selbst. Wenn ich zum Beispiel im Rahmen des TSF mit jungen Wirtschaftwissenschaftlern diskutiere, darf ich mir immer wieder mit dem Brustton vollster Überzeugung sagen lassen, dass Zahlen Objektiv sind. Dass Zahlen und Modelle Sprache sind, implizit also bereits Macht vermitteln, habe ich noch niemandem aufzeigen können.

Worauf diese aus Sicht kulturwissenschaftlicher Perspektive konsequente Unerreichbarkeit der BWL beruht, vermag ich nicht festzustellen; intuitiv klammere ich mich aber an meine vor kurzem gemachte Entdeckung - Bertrand Russells Aufteilung der Wissenschaften in ein technisches und ein geistiges Lager (in: Die Naturwissenschaftliche Geselleschaft, 1931, S. 181): "Die Wissenschaft als geistige Macht ist skeptisch und wirkt etwas destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt, während sie als technische Macht genau die entgegensetzten Eigenschaften besitzt. Die technischen Entwicklungen, die den Naturwissenschaften zu verdanken sind, erhöhten Größe und Wirkungsbereich der Organisationsformen und vermehrten insbesondere die Macht der Regierungen."

Die Analogie gefällt mir: Man kann die postmodern angehauchten Zweige der Kulturwissenschaften als "geistige", "destruktive" Kritiker verstehen, die die Autorität eines "technischen", d.h.: machtkonsolidierenden Marktwirtschaftsapparats gefährden. Nur: Um tatsächlich als Kritiker ihren Wirkungsbereich entfaltenzu können, müssen sie eben die Grenze zwischen "geistigem" und "technischem" Lager anvisieren.

Ein Ausbau dieses Bezugs auf Russell (vielleicht) beizeiten, denn auch ohne historische Begründung bleibt der Kern meines Plädoyers erhalten: Die Kulturwissenschaften müssen sich mit der BWL auseinandersetzen, wollen sie mit ihrer Kritik an den Entwicklungen des 21. Jahrhunderts ernsthaft angenommen werden.

Woher diese plötzliche Forderung? Der Schock, der mich nicht allzu langer Zeit ereilt hat, ist nicht der, dass wir nach wie vor über mögliche Lösungen kultureller Probleme zwischen "entwickelter" und "sich entwickelnder" Welt, zwischen Nord und Süd, dem Westen und dem Rest diskutieren; der Schock rührt aus der Einsicht, dass die Konkurrenz nicht so tief und fest geschlafen hat, wie mich der selbstgefällige Gestus der Kulturwissenschaften hat bisher glauben lassen. Denn vor kurzem durfte ich in einem Seminar lernen, dass die Marketingexperten in der BWL aufgewacht sind. Foucault, Derrida, postmoderne Identitätskonstruktion - das alles wird gerade in den Martketing-Fachbereichen aufgekocht, um veraltete Patentrezepte und Warenkreislaufanalysen in die Gegenwart zu holen. Freilich nicht aus Gutmenschentum, nicht, um um Gerechtigkeit und Gleichheit und Demokratie zu ringen, sondern um die Profitabilität zu erhöhen. Die Postmoderne: endgültig enthistorisiert und zum Konsumtrend degradiert. Passende Andeutung liefert das Trendbüro mit seiner Beschwörung des "Karmakapitalismus". Identitätskonstruktion wird Konsumentenkonstruktion.

Setzt sich diese Entwicklung, diese Vereinnahmung fort, sehe ich - radikal gesprochen - folgendes Problem, das in sich bereits ein Potential zur Krise birgt: die postmoderne Kulturwissenschaft hat sich selbst überholt bzw. überholen lassen. Sie hat sich offenbar innerhalb ihres eigenen "Mainstreams" nie selbst hinterfragt und ist akademische "Lebenswelt" geworden. Sie wiederspricht sich damit von Grund auf selbst, denn sie hat sich nie selbst dekonstruiert/konstruieren wollen/können. Anstatt ihre Grenzen beständig zu verlagern, hat sie sie nur gefestigt - innerhalb der Kulturwissenschaften. Als "geistige Macht" hat sie sich im Ansatz nie den "technischen Mächten" genähert, sogar: diese Annäherung niemals in Erwägung gezogen. Ihrer scheinbar bevorstehenden Vereinnahmung durch die BWL geht ihre Vereinnahmung durch sich, ihre Voreingenommenheit mit sich selbst, ihr Solipsismus, voran.

Wenn schon die Institutionen, die wir kritisieren, in der Lage sind, unsere "Waffen" gegen uns zu richten, könnte man von hier aus gar die Qualität bzw. die grundlegende Existenz der Postmoderne an sich anzweifeln. Spekulation: Vielleicht ist sie Übergangsstadium, weder Moderne noch wirkliche Nach-Moderne, sondern eine ansatzweise selbstreflexive Moderne, eine Metamoderne - "Moderne 2.0", wenn man so wollte (insbesondere sobald sie aus der Perspektive der Wirtschaft so wahrgenommen werden wird). Der Begriff allein ist bereits eine Metonymie, mit der niemand weiß, was eigentlich bezeichnet werden soll/will; ihre Diskurse sind so elitebezogen, dass man nur selten außerhalb der Feuilletonseiten von "der postmodernen Gesellschaft" spricht.

Wie einer meiner Dozenten meinte: "Viele Ansätze waren vor 15 Jahren sehr originell, nun woll wir sehen, ob jemandem noch Neues einfällt oder ob wir noch 20 Jahre die immer gleichen Schlagworte nachreden werden." Ich bin begeistert und fühle mich zugleich hilflos gegenüber dieser vorläufigen Grenze, an die ich gestoßen zu sein scheine. Die Verschlossenheit, diese "Disziplinierung" und Professionalisierung zu umgehen, das Feld auszudehnen - das allein scheint mir im Moment noch sinnvoll. Vielleicht finden wir hier neue Schlagworte, neue Argumente, neue Handlungsimpulse?

Edelanarchismus - Historisierung der Postmoderne

"Wie die Postmoderne beschreiben?" ist ja weitaus mehr als eine einfache Frage nach dem Kern dieser unbestimmbaren Denkbewegung - sie verweist im Grunde einmal mehr auf das im Kern bestehende Problem der Kluft zwischen Wort und Tat, Denken und Handeln hin: Ein Beantwortungsversuch, der beschreibt, was oder wie man postmoderne Diskurse denkt, beleuchetet noch lange nicht, wie man in ihnen handelt. Vielleicht beleuchtet er gerade das: dass man in ihnen nicht handelt. Edelanarchisten möchte ich daher die vielen Beteiligten (einschließlich meiner selbst) fast nennen, und die Beleidigung ist gar nicht so überbemessen. Man predigt politisches Bewusstsein, erklärt sich der Komplexität der Welt gegenüber aber vorschnell schachmatt. Man will ja das erkannte Unrecht - wenn es denn überhaupt jemals eindeutig Unrecht ist - nicht noch weiter schüren.

Diese Denkschule zu historisieren, ist einen Versuch wert. Eine Stammbaumrecherche powered by google deckt die Verwandtschaft mit großen Vorbildern auf. Selbstgefällig könnte man da beispielsweise aus Bertrand Russells Das naturwissenschaftliche Zeitalter (1931) zitieren. Er schreibt dort über den "idealistischen Tatmenschen", der sich "[...] von dem Mann mit persönlichem Ehrgeiz dadurch [unterscheidet] daß er nicht bloß für sich bestimmte Dinge wünscht, sondern auch eine bestimmte Gesellschaft." Doch Vorsicht! - mit seinen Worten kann ich mich nur dann anfreunden, wenn ich nicht allzu streng nach dem Tatmenschen in mir frage. Denn: "Die meisten Idealisten stellen eine Mischung zweier Typen dar, des Träumers und des Tatmenschen. Der reine Träumer ist ein Narr, der reine Tatmensch strebt nur nach persönlicher Macht, der Idealist jedoch lebt in einem Zwischenraum zwischen diesen beiden Extremen. [... D]er Tatmensch fühlt sich stark genug, eine neue [Welt] zu erschaffen, während sich der Träumer gehemmt fühlt und in das Reich der Phantasie flüchtet" (S. 200-201). Folgt man Russell, wären der Großteil der postmodernen Denker nichts als intellektuelle Tagträumer: sie halten sich für Idealisten, entpuppen sich alsbald aber als handlungsgehemmte Weltflüchtlinge. Als Skeptiker halten sie an ihrem Glauben an die Wissenschaft als "geistige Macht" fest, während es die Macher sind - diejenigen, die die Wissenschaft als "technische Macht" verstehen (S. 181) - die Russell zufolge die wissenschaftliche Gesellschaft formen werden.

In ihrem Passivismus erinnern sie neben Russells idealistischem Träumer allerdings an ein weitaus zwiespältigeres Vorbild: den Antihelden der Décadence-Literatur Jean des Esseintes, den Joris-Karl Huysmans in Gegen den Strich (1884) entwirft. Ja - ich halte die Postmoderne für dekadent. Für dei Aufgabe, die parallelen Dimensionen aufzuzeigen, reicht meine derzeitige Aufmerksamkeit nicht; daher nur eine kurze, gedankenanregende Einführung.

Der Begriff "Décadence" spricht über den reinen Verweis auf eine bestimmte Literaturgattung hinaus "ein umfassendes Lebensgefühl, eine besondere Daseinsform" [1] an. Auf welcher Basis sie ihre Position entwickelt, macht der soziale und politische Rückblick auf die letzten Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende deutlich: Man hört von einer "Zeit der inneren Widersprüche" in "einer vom atemberaubenden Fortschritt erschütterten Welt", die alsbald ein "Nebeneinander von befürchtetem Ende und erhofftem Neuanfang" aufwirft [2]. Die Ursachen dieser Entwicklungen mögen vielseitig sein, die seitens der Décadents aufgesuchten Begründungen bleiben jedoch stets dieselben: "Ein epigonal wirkender [...] Imperator, eine sich durch die erste industrielle Revolution in immer stärkerem Tempo zivilisierende Gesellschaft, die Geld- und Genußgier der Herrschenden und Besitzenden [...]" [3] bilden die zentral wiederkehrenden Ansatzpunkte in den Analysen zur Lage der "opportunistische[n] Republik" [4]. Doch der Eindruck, den die Lektüre Huysmans prägt, ist tiefer verwurzelt. Er geht weit über einen fehlenden Fortschrittsenthusiasmus oder mangelnden Zukunftsoptimismus hinaus und lässt sich in beispielhaften Zitaten wie dem folgenden ablesen:

Und dann war der zerrüttete Adel zugrunde gegangen, die Aristokratie war in Schwachsinn oder Unflat umgekippt. Sie erlosch im geistigen Verfall ihrer Nachkommen, deren Fähigkeiten mit jeder Generation abnahmen und zu Gorillainstinkten verkamen, gärend in Schädeln von Stallknechten und Jockeys; oder sie wälzte sich wie die Choiseul-Praslin, die Polognac, die Chevreuse im Schmutz von Prozessen, die sie den anderen Klassen an Schändlichkeit ebenbürtig werden ließ. [...] Die am wenigsten Gewissenhaften, die am wenigsten Stumpfen streiften jegliche Scham ab; sie versumpften im Lotterleben, wirbelten den Schlamm der Affären auf, erschienen wie gemeine Gauner vor der Hebung der menschlichen Gerechtigkeit, die, außerstande, sich stets ihrer Parteilichkeit zu begeben, sie schließlich zu Bibliothekaren in den Zuchthäusern ernannte. (Gegen den Strich, S. 243-244).

Das "Dekadente" dieses Auszugs liegt nicht nur, wie man meinen kann, in dem zutiefst verschmähendem, beleidigendem Ton, in der verächtlichen, radikalen Ablehnung und Aburteilung der grundlegenden Verschiebungen, deren Zeuge er ist; "dekadent" ist seine durch Rousseau geprägte Sichtweise, diese Umwälzungen, die das Frankreich des späten 19. Jahrhunderts erfasst haben, als unwiderlegbare Anzeichen eines mehr oder weniger unmittelbar bevorstehenden gesellschaftlichen Verfalls zu deuten. Versteckt in der Art und Weise, wie er über seine Zeit reflektieren, spricht er zugleich auch seine tiefe Betroffenheit über diese altvertraute, im Kern jedoch bereits verloren geglaubte Ordnung aus. Gemeinsam mit einer "[...] ganze[n] Generation von Künstlern und Schriftstellern [... leidet er] über ein kleinliches Gesellschafts- und Zeitgemäkel hinaus an einem rational nur schwer zu erfassenden Ennui, Spleen, melancholischen Sinn [...]" [5]. Die Verständniskluft zwischen dieser "verlorenen Generation", die "[...] zum Umgang mit kollidierenden Lebenswelten verdammt" [6] ist, und einer euphorisch gestimmten Gesellschaftsmehrheit droht sich um so mehr zu vertiefen, desto radikaler die Décadents ihre Minderheitsperspektive formulieren. Huysmans "[...] haßt [alsbald] seine Epoche, haßt das 19. Jahrhundert, das ihm banal, oberflächlich, amerikanistisch und vor allem vulgär und materialistisch erscheint" [7]. Berührungspunkte mit der sich schrittweise demokratisierenden und kommerzialisierenden Gesellschaft scheinen inexistent: Gerade die Demokratisierung vieler Lebens- und Schaffensbereiche, insbesondere der Kunst, lehnen die ‚dekadenten’ Künstler und Schriftsteller entschieden ab – nicht prinzipiell, sondern weil man "[d]as Unbehagen, ja [... den] Ekel an der selbstgefälligen Bourgeoisie-Kultur, an diesen ‚Orgien der Mittelmäßigkeit und Saturnalien der Dummheit’" [8] unerträglich glaubt und zu meiden sucht.


... Na - wer fühlt sich angesprochen? ...





[1] Anne Amend-Söchting, Ichkulte: Formen gebündelter Subjektivität im französischen Fin-de-siècle-Roman, Heidelberg: Winter, 2001, S. 24.
[2] Amend-Söchting, S. 22-23.
[3] Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus: Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin, New York: de Gruyter, 1973, S. 19.
[4] Amend-Söchting, S. 32-35.
[5] Maria Moog-Grünewald, "Kunst, Kunstkritik und Romanschaffen", in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bonn: Bouvier, Bd. 31/2 (1986), S. 246-263., hier: S. 256-257.
[6] Amend-Söchting, S. 20.
[7] Moog-Grünewald, S. 253.
[8] Ebd.; siehe auch Koppen, S. 39, der seine Position ähnlich formuliert.

Privilegierte Perspektive

Irritierend ist er ja für mich, der Herr Friedman. Die Welt verflacht also, behauptet er mit seinem neuen Bestseller, The World is Flat. Womit er keinesfalls seicht, auf Englisch: "shallow", gemeint wissen will. Ich habe ihn ja bereits in einem früheren Post mit folgenden Worten zitiert:

I always say, in this globalization system there is just one road; […] and it’s the road, I believe, of free markets, of liberalized markets, and liberalized politics. But there are many speeds […]. There’s one road, and there’s many speeds. But promise me you just won’t do one thing – not go down the road at all. If you do that, I promise you, you’ll bring nothing but ruin and devastation to your people. [1]

Diesen belehrenden Ton hat er nach wie vor nicht abgelegt, im Gegenteil: wohl eher verstärkt. Da sich inzwischen vereinzelte Inseln kartographieren lassen, auf denen die Bewegung, die Europa und Nordamerika mit dem Begriff Globalisierung zu fassen versuchen, Wurzeln gefasst hat, predigt er mit noch wortgewaltigerer Vehemenz von der Notwendigkeit des "gemeinsamen" Wegs - Kapital global. Wobei er stets nur von einer sehr eingeschränkten "Gemeinsamkeit" spricht - der des wirtschaftsliberalen Wettbewerbs. Geteiltes Wirtschaftssystem, aber kein geteiltes Leid. Sein polarisierendes Patentrezept: Man lausche wiederum den Patentrezepten des International Monetary Fund und der Weltbank. Hört man auf Naomi Klein und den Human Rights Watch, gehört man gleich in den albernen Karnevalszug der "Gegner". You're either with us, or against us, will er damit wohl deutlich machen.

Seiner militanten Aufteilung verleiht er in seinem Buch neuen Ausdruck und macht den (in seinen Augen wohl) ernsthaften Versuch, den Begriff der "Dritten Welt" auszurangieren. Die Globalisierung, bitte sehr, hierarchisiert anders: Fortan gibt es nach seinen Worten "nur noch" schnelle und langsame Regionen, "fast and slow worlds". 



Ich höre Jens Riwa und Anne Will schon von Hungerkatastrophen in der langsamen Welt berichten.

Ich kann den Eindruck nicht leugnen: Trotz seiner ausführlichen Auslandsreisen scheint mir Herr Friedman mit seiner Perspektive fest im schnellen Amerika verhaftet geblieben zu sein. Da die Welt dort für ihn flach ist, fehlt es ihm an Weitsicht. Und so verwundert es kaum, dass seine Bestandsaufnahme wenig Tiefgründigkeit vermittelt - die horizontale Kurzsicht scheint offenbar sehr vielversprechende Perspektiven zu eröffnen. Es lebe der Liberalismus; wir Schnellen können ihn uns ja leisten.


Links: Tom Friedman bei den New York Times


[1] “Terrorism May Have Put Sand in its Gears, but Globalization Won’t Stop.” Tom Friedman, interviewed by Nayan Chanda, YaleGlobal, February 3rd, 2003, http://yaleglobal.yale.edu/display.article?id=870.

Über Digitale Demenz

"The more I study, the more I know; the more I know, the more I forget; the more I forget, the less I know - so why study?"

Eines der Phänomene, das unsere globalisiert-schnelllebige Zeit offenbar ereilt, sickert nach und nach aus Richtung Südkorea in unser Bewusstsein: Die Generation Google ist, so Florian Rötzer am 11.06.07, "digital dement". In zunehmendem/r Masse "outsourcen" wir inzwischen unsere Gedächtnisse - Zeugnis davon, dass unsere technologische Beschleunigung durchaus auch beunruhigende kulturelle Beschleunigungen provozieren kann. Epitom ist das Mobiltelefon, das inzwischen längst mehr ist als nur tragbares Telefon. Es ist Terminkalender; Telefonbuch; Adressbuch; digitale Blitzlichtkamera mit kleinem Bildbearbeitungsprogramm; Wecker; Radio und mp3-Spieler; Diktiergerät; Spielkonsole; Mini-PC für's sporadische Surfen & Emailing; Newsticker; Navigationsgerät und zukünftig vermutlich auch Kreditkarte und Personalausweis. Mobile "13 in One"-Technologie. Wehe aber, sie versagt uns ihre Dienste. Weil wir scheinbar alle wichtigen, alltagsrelevanten Daten speichern, sichern und auslagern, stehen wir im Ernst(aus)fall wortwörtlich ziemlich "blöde" da: Ohne Nummern, ohne Adressen, ohne Orientierung.

Isoliert betrachtet, erklären die derzeit kursierenden Analysen allerdings wenig. Ursache ist nicht die Verlockung dieser Medien an und für sich, sondern der kulturelle Druck, mit dem eine dienstleistungsorientierte "Wissensgesellschaft" den Einzelnen offenbar bedrängt. Gefragt ist optimales Geschick beim Surfen auf den Wellen der Informationsflut; Dynamik und "life-long learning" anstelle eines inzwischen als statisch und imprägniert wahrgenommenen Wissensgrundstocks. Man muss lediglich "wissen", wie man seine "Tools" effektiv "implementiert". Die monokausale Erklärung koreanischer Mediziner: "Da sich die Menschen mehr auf die Informationssuche als auf das Erinnern verlassen, entwickelt sich die Gehirnfunktion des Suchens, während sich die Gedächtniskapazität vermindert. Eine starke Abhängigkeit von digitalen Geräten vermindert die Fähigkeit, sich zu erinnern." Zunehmende Flexibilisierung hat, so scheint es, ihren Preis.

Während man diese Beobachtung beklagen kann, schlage ich eine Verschiebung der Perspektive vor, um im Schnelldurchlauf mögliche kulturelle Hintergründe auszuschraffieren. Für Foucault war u.a. auch die Fabrik ein Ort der Disziplinierung, der Erziehung, eine Institution, die nur ein Kernfach kennt: die Didaktik der Macht. Was für die Arbeit seit ihrem Umzug in die Maschinenhalle gilt, lässt sich mit (sogar: unerträglicher!) Leichtigkeit auf das Steuerbüro und die Kreativagentur übertragen: Ich lagere mein Gedächtnis aus, damit mein Kopf frei für meine aktuelle Aufgabe ist - ich lebe im Fluss (Neudeutsch: flow), mit konzentriertem Blick auf die im Hier und Jetzt zu erledigende Arbeit. Ich bin der rationalisierte, entindividualisierte Mensch. Reine, kompakte Arbeitskraft, flexibler vielleicht als am Fliessband, aber nichtsdestotrotz diszipliniert.

Der Erklärungsversuch bleibt allerdings nur halbherzig, beschränkt man sich allein auf diese Aktualisierung Foucaults (die, vermute ich stark, ohnehin bereits vorgenommen worden ist). Denn die Vernachlässigung / aus foucault'scher Sicht: Disziplinierung des Gedächtnisses verläuft in zwei Richtungen zugleich und verändert grundlegend unser Verhältnis sowohl (1) zum Erinnerten (dem Vergangenen) als auch (2) zum zu Erinnernden (dem (bald) Anstehenden). Beinahe zwangsläufig spürbarer, vermute ich, ist der Wandel im Umgang mit dem Vergangenen: Um effizient agieren zu können, ist das soeben Vergangene weniger wichtig als das (bald) Anstehende. Ich muss einen Schritt in die Zukunft denken, mir selbst voraus sein, um nahtlos, ohne Pause, ohne Verzug, an die Gegenwart anknüpfen zu können. Mein Leben ist so dicht, dass ich, kaum angekommen, immer schon wieder "auf dem Sprung" bin, selten zur Rast komme. Es scheint die Umkehrung dessen eingetreten zu sein, was man mit der Erfindung der Eisenbahn befürchtete: War es damals die übertriebene Angst, dass die Seele mit der ungeheuren Geschwindigkeit des beschleunigten Körpers nicht Schritt halten könne, ist es heute die Ungeduld vor dem Stillstand, die den Verlust unserer Bodenhaftung provoziert.

Beschleunigung und Verdichtung, Rationalisierung und Funktionalisierung scheinen also die Paradigmen zu sein, auf die es die eigentliche Aufmerksamkeit zu richten gilt. Gedächtnisverlust aus Überforderung oder Disziplinierung - ein Symptom der Moderne? Nein! Die "digitale Demenz", die (post)moderne Gedächtnisauslagerung, hat ihre Vorläufer - aber auch das scheinen wir voreilig vergessen zu haben. Bereits Platon versucht die Auswirkungen der Schriftkultur auf Gedächtnisleistung und Wissensqualität auszuloten. In einem fiktiven Dialog lässt er Sokrates vom sogenannten Mythos von Theuth berichten, der der altägyptischen Erzählung nach das Alphabet, und damit folglich das Schreiben und die Schrift erfunden haben soll. Die Kritik des regierenden Königs Thamus fällt für unsere heutigen Ohren ungewöhnlich scharf aus: "Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden [...] Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst" (Platon: "Phaidros", 274a, hier in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Hamburg 1958, S. 55)

Vertraut man auf Platons Darstellung, hat man also bereits im 4. vorchristlichen Jahrhundert die Drohung einer bevorstehenden Gedächtnisauslagerung gespürt - aufgrund der Verbreitung eines Mediums, das als Grundstein unserer seitherigen Kultur gilt! Ohne die Leistung Gutenbergs nicht denkbar, wird danach erst unser 19. Jahrhundert wieder Zeuge eines quantitativen Wissenssprungs, einer "Informationsflut". Erneut müssen sich Wissenschaftler, insbesondere Historiker, über die Grenzen des zu bewältigenden Wissens verständigen, denn die schnell wachsende Anzahl an Veröffentlichungen überfordert die bisherigen Rechtfertigungsdogmen "objektiver" Erkenntnismethoden. Doch wie der Herausforderung begegnen? Nietzsches kategorische Antwort: "Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen [...]" (F. Nietzsche, "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", in: "Unzeitgemäße Betrachtungen", Frankfurt (Main): Insel, 2000, S. 95).

Ist das "all just a little bit of history repeating"? Es ist verlockend, den Refrain mitzusummen, doch im Grunde passiert hier mehr. Der Verweis auf Platon, Nietzsche, Foucault und die (zumindest für den Augenblick einzuräumende) Unvereinbarkeit ihrer Positionen macht einmal mehr deutlich, wie zerbrechlich und unangebracht teleologische Konstruktionen sind. Auch wenn sich die Befürchtungen über die "digitale Demenz" historisieren lassen, dürfen ihre eigenständigen Dimensionen nicht ausgeblendet werden. Oder doch?

Wie offenbar schon zu Platons und Nietzsches Zeiten sehen wir uns offenbar mit einem "radikalen Strukturwandel des Wissens" konfrontiert: "Wissen wird nicht einfach abgerufen, nicht von einem wohlbekannten Ort her bezogen, sondern muss eher gesucht und durch individuelle Auflösungs- und Rekombinationsstrategien jeweils neu hergestellt werden. [...] Die unübersichtliche Fülle von Informationen, die weltweit zur Verfügung steht und abrufbar ist, setzt förmlich voraus, dass wir unsere Fragen und unseren Bedarf an Wissen andauernd assoziativ und mit kreativem Blick für weiterführende Links in Echtzeit neu überdenken. [...] Informationen [bezieht man] auf die eigene Perspektive [...] und [formt sie] zu relevantem Wissen um[...]" (Armin Nassehi, "Von der Wissensarbeit zum Wissensmanagement - Die Geschichte des Wissens ist die Erfolgsgeschichte der Moderne", in: Christa Maar u.a. (Hrsg.), "Weltwissen - Wissenswelt: Das Globale Netz von Text und Bild", Köln: DuMont, 2000, S. 104). Die ursprüngliche Klage aus Südkorea - "Da sich die Menschen mehr auf die Informationssuche als auf das Erinnern verlassen, entwickelt sich die Gehirnfunktion des Suchens, während sich die Gedächtniskapazität vermindert." - deutet an: Das Phänomen der "digitalen Demenz" scheint ein Kind ebendieser Wissensrevolution zu sein.

Der Stammbaum erlaubt mir einen weiteren Versuch der groben Einordnung, diesmal in freier Anlehnung an Virilio. Als Parallele zum Schrumpfen geografischer Distanzen, parallel zur Eroberung des Raums, die noch keineswegs die Aufhebung emotionaler und kultureller Distanzen bedeutet, zeichnet sich ab, dass die ständige Verfügbarkeit, der 'just in time'-Zugriff auf "Informationen" noch lange kein "Verständnis" für die Sache selbst fördert.

Ist diese Kritik der Beschleunigung und Verdichtung ein entferntes Echo der Warnungen Platons? Dieser hätte in Antwort auf Virilios Beobachtungen vielleicht ein weiteres Mal seinen Sokrates sprechen lassen. Dessen Worte, in die Gegenwart geholt: Ist das Wissen einmal festgehalten, so schweift dieses Wissen auch überall gleichermaßen unter denen umher, die es verstehen, und unter denen, für die es nicht gehört, und versteht nicht, wem es verfügbar sein soll und wem nicht (der Wortlaut des Originals im "Phaidros", 274 d-e; S. 56).

Virilios Schlussfolgerung: Was uns infolge der zunehmenden Beschleunigung - für ihn: unser Umzug auf den Kontinent der Geschwindigkeit - gen Horizont zu entgleiten droht, ist unsere unmittelbare Erfahrungswelt. Nassehis "radikaler Strukturwandel des Wissens" ist demnach zugleich auch ein radikaler Strukturwandel der Welterfahrung.

Das wäre eine erste Zwischenbilanz ... wäre da nicht - wie bereits zitiert - Foucault. Aus seiner Perspektive gelesen, ließe sich das radikale dieses Strukturwandels nur schwer rechtfertigen; die Aufmerksamkeit gälte stattdessen der kontinuierlichen Ausdehnung einer disziplinierenden Macht. Was für diesen durch und durch pessimistischen Standpunkt spricht: Digitale Demenz ist, so denn die zur Gedächtnisauslagerung notwendige Technik zur Verfügung steht, per se expansiv. Wenn ich weiß, wie ich Wissen abrufen kann, brauche ich mich nur noch auf das "wie?", nicht mehr aber auf das "was?" zu konzentrieren. Als distopische Projektion formuliert: Irgendwann weiß ich nicht mehr (irgendet)was, sondern nur noch (irgend)wie. Alles verschwimmt, ohne Anhaltspunkte. Jeder hat von allem Ahnung, richtig ist das, was mir nach schnellem Vergleich abrufbereit zur Verfügung steht. Damit bin ich wunderbar empfänglich für weitere Disziplinierungsmaßnahmen.

(Mindestens) Zwei Standpunkte kann man hier also vertreten: "Digitale Demenz" als Zeichen der vielgepriesenen Demokratisierung und Emanzipierung von Wissen einerseits; "digitale Demenz" als Beweis für eine fortschreitende Disziplinierung, eine Unterwerfung unter die kapitalistisch-technokratischen Vorzeichen der Beschleunigung und Verdichtung andererseits.




"Sie können sicher sein, dass Ihre Erinnerungen auf der 'Kodak Picture-CD' im Handumdrehen bestens aufgehoben sind." (SB-Digitalbilddrucker im Rossmann)

Liegt Ethik im Auge des Betrachters?

Nerone hat vor kurzem (8.11.) sehr beeindruckend über seine Begegnung mit den Fotografien Hiroshi Sugimotos geschrieben, während ich mehr oder weniger zur gleichen Zeit in einem sehr spannenden Seminar zum Thema "Stadt und Fotografie" über die Arbeit Jeff Walls diskutieren durfte. Kaum erstaunlich, dass bei dem Versuch, die Frage nach der Wirkung seiner Bilder früher oder später auf Susan Sonntags "Das Leiden anderer betrachten" Bezug genommen wurde. Ihr Argument scheint mir ein verstärktes Echo der Kritik, die Walter Benjamin in seinem Klassiker "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" festhielt. Für fotografische Aufnahme sei "[...] die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden", schreibt er dort. "Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes [...]": Es sind "[...] Direktiven, die der Betrachter von Bildern der illustrierten Zeitschrift durch die Beschriftung erhält [...]" (meine Betonung; in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/Main 1974, S. 485). Die Fotografie kommt ohne Betrachtungsanweisung nicht aus. Susan Sonntag allerdings, schreibt Stephanie Ross in "What Photographs Can't Do" (The Journal of Aesthetics and Art Criticism 41/1, 1982), wollte diesen Direktiven allerdings jegliche Autorität absprechen - zumindest in moralischer Dimension. Weder ethisches noch politisches Wissen, so Sonntag, könne durch ein Bild vermittelt werden.

Während in der Folge über Sonntags Frage, ob "[...] man durch ein Bild [...] dazu gebracht werden kann, sich aktiv gegen den Krieg [- oder gegen jedes andere Leid(en) -] einzusetzen [...]" ("Das Leiden anderer betrachten", S. 104) viel gestritten wird und gestritten werden muss, stelle ich mir gerade eine prinzipiellere Frage: Mich interessiert nicht, was das Medium Foto selbst transportiert (oder nicht transportieren kann), sondern wie stark mein Wissen über den Urheber die Wirkung seiner Fotografie beeinflusst. Wie also trägt das, was Jeff Wall persönlich über seine hochästhetischen Bilder sagt, zu meiner Interpretation seiner Bilder bei? Meine Beunruhigung hat sein Interview mit dem Berliner Tagesspiegel provoziert:

Politische Künstler sind wichtig, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich wäre es eher unethisch, wenn ich weniger gute Bilder machen würde, als ich könnte. Das ist meine Ethik: Das Leben der Menschen, die ich als Motiv ausgewählt habe, wirklich zu würdigen. Ich bin empathisch in dem Moment, in dem ich das Bild mache, aber im Alltag würde ich am gleichen Menschen vielleicht achtlos vorübergehen. Für mich ist letztlich wichtig, dass das Bild eine Bedeutung besitzt.
So weit, noch/so nachvollziehbar. Seine Antwort auf die darauffolgende Frage aber bringt mich aus der Fassung.
Sie stellen Leiden hochästhetisch dar. Besteht darin kein Widerspruch für Sie?

Ich möchte, dass sich der Betrachter an den Bildern erfreut. Alle Kunst ist dafür gemacht, sie ist ein Geschenk. Der Betrachter genießt das Bild und nicht das Thema. Durch das Thema könnte er sich auf die eine oder andere Art zum Handeln genötigt fühlen, aber bei der Betrachtung eines Bildes geschieht dies gerade nicht. Anders als es im realen Leben, wenn wir einem Bettler begegnen und uns schuldig fühlen, goutieren wir bei derselben Person, sobald sie abgebildet ist, die Farben und Formen. Gleichzeitig denken wir, das sei falsch und fühlen uns schon wieder schuldig. Das ist auch das Charakteristische moderner Kunst. In den autoritären Gesellschaften wurde Kunst nur für die Regierenden zur Selbstdarstellung gemacht. Seit Gustave Courbet werden auch die Armen auf eine großartige Weise dargestellt.
Womit ich mich erstaunt an Walter Benjamins Prognose zurückwenden kann: "In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen." Aber auch wenn der Kultwert bei Wall noch einmal seine "letzte Verschantzung [...] das Menschenantlitz [...]" beziehen kann, frage ich mich unweigerlich: Untergräbt seine Haltung den "Wert" seiner Arbeit? Sollte ich seine Haltung überhaupt einbeziehen? Oder sie ignorieren? Kann man, darf man sich seiner Arroganz zum Trotz zum mitleidenden Blick hinreissen lassen, also allein das Bild betrachten? Den Autor, seine Motivation, außen vor lassen? Ist die ethische Dimension fotografischer Kunst ausschließlich vom Auge des Betrachters abhängig?

Märchen aus dem Zwei-Strom-Land

Dass zwischenfallgeplagte Großkonzerne ihren Ruf, ihr "Image", in der Öffentlichkeit zu überspielen versuchen, ist nicht neu; lediglich der Zynismus, mit dem man das gute Bild zu inszenieren versucht, variiert. Aktuelles Beispiel: Vattenfall sponsort die Berliner Märchentage. "Die Unterstützung der Märchentage ist für uns eine Herzensangelegenheit", versichert Dr. Klaus Schmid, Personalvorstand von Vattenfall Europe Berlin." Märchen aus dem Zwei-Strom-Land.

Mehr bei Daniel's World und Julia Seeliger.

Das Subjekt in Philosphie und Alltag

[...] Wenn das Subjekt eine Konstruktion ist, dann handelt es sich [...] um eine sehr tief gelegte und überaus wirkungsmächtige Konstruktion. Das philosophische Dementi allein vermag [allerdings] nahezu nichts (oder bleibt kokett), solange die Sprache Subjekte den Objekten gegenüberstellt und solange die Arbeit einerseits notwendig und an das Schema des Instrumentellen gleichzeitig gebunden bleibt. Wir haben nicht die Wahl, ob wir Subjekt sein wollen. Die philosophische Demontage des Subjektbegriffs mag den berechtigten Zweifel spiegeln, ob in einer zunehmend vermittelten Welt die Verhältnisse ein Handeln im Sinne übersichtlicher Kausalketten überhaupt zulassen, ob die/der Einzelne frei ist, die Ziele seines Handelns in eigener Machtvollkommenheit zu bestimmen, und ob sie/er die eigene Position am Kopf der Kausalkette genießen kann. Im Generellen, außerhalb der Philosophie, denke ich, haben wir nicht die Wahl.

So schreibt er, der großartige Hartmut Winkler, in seinem Aufsatz "Nicht handeln. Versuch einer Wiederaufwertung des couch potato angesichts der Provokation des interaktiv Digitalen". Meine Schlussfolgerung: Konzentration auf den Versuch einer Entdifferenzierung von Kopf- und Handarbeit. Erste Schritte in diese Richtung haben, darauf bin ich in einem Friedrichshainer Antiquariat gestoßen, Gernot Böhme und Michael von Engelhardt in ihrem Suhrkamp-Band Entfremdete Wissenschaft (1979) unternommen. Die Suche nach Anschlussarbeiten läuft ...

... und unterdessen heißt es weiter bei Winkler:

Vielleicht, dies ist mein Ausgangspunkt, ist Aktivität nicht grundsätzlich "besser" als Passivität; vielleicht lohnt es, sich von den kurzschlüssig politischen Konnotationen zu losen, die mit diesen Begriffen verbunden sind: der Objektstatus mit der Rolle des Passiv-Rezeptiven, und der Status des potentiell politisch Handelnden mit der Position des Subjekts.

Vielleicht, dies ist mein Eindruck, ein Ausgangspunkt, den man durchaus als Aufforderung begreifen und mit-denken, durch-denken sollte ...

In Vorbereitung ...

... auf meine bevorstehende Prüfung habe ich kurzerhand mein Zimmer umgeräumt. Auf was man doch alles verzichten kann ...

(Mehr) Unterstützung für Burma

Das Mindeste, was der hier lebenden Einzelne derzeit tun kann: sich informieren. Ohne Öffentlichkeit keine sich mobiliserenden Massen, kein Protest.

Free Burma!


Über den dortigen Stand der Dinge:
- aus dem Exil in Oslo: The Democratic Voice of Burma
- eine Linkliste
- Spiegelfechters Ticker: Aktuelle Entwicklungen in Myanmar
- Einschätzungen des Human Rights Watch

Podcasts
- DRadio Hintergrund Politik: Barfuß gegen die Diktatur - der Kampf für Demokratie in Myanmar
- "Die Generäle sind völlig unberechenbar" - Amnesty International warnt vor Eskalation ...: Bernhard Forster von der Koordinationsgruppe Birma bei amnesty international hat dazu aufgerufen, den Druck auf das Militärregime in Birma aufrechtzuerhalten. Er erinnerte an den Aufstand 1988, den die Machthaber blutig niedergeschlagen hatten, und warnte davor, dass die Militärs mit einem erneuten brutalen Vorgehen die Unruhen weiterschüren könnten."
- "Polenz: China kann Massaker in Birma verhindern - CDU-Außenpolitiker bedauert Zurückhaltung ...: Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz hält Chinas Einfluss auf Birma für entscheidend, um eine Eskalation der Gewalt angesichts der Proteste gegen das Militärregime zu verhindern. "Ich glaube, wenn überhaupt etwas die Militärs beeindruckt, dann das Echo in der Region. Was wir in Europa sagen, was die Amerikaner sagen, das ist weit weg", sagte Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag."
- "Interview mit Moritz Kleine-Brockhoff zu Birma"




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Kapitalismus und Demokratie - Versuch einer Einsicht I

Heute: der 3. Oktober. Gelegenheit, um - nein: nicht über den (Miss)Stand der Deutschen Einheit zu reflektieren; dazu wird bereits vielen das Privileg gewährt: Lothar de Maizière oder Thomas Brussig beispielsweise, um allein aus der Liste der DRadio-Podcasts zu zitieren. Stattdessen möchte ich ein paar Gedanken an das schiefe Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie verschwenden. In einem neuerlichen misanthropischen Anfall hatte ich beiden eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zugeschrieben und meinen Pessimismus ohne eine weitere ausführende Bemerkung der Kritik (oder einem ungläubigen Kopfschütteln) ausgesetzt.

Warum also die aus meiner Sicht so deutliche Unvereinbarkeit dieser beiden "Systeme"? Ich will betonen: Ich rede, indem ich den Begriff der Unvereinbarkeit aufgreife, nicht von einer unüberwindbaren Kluft. Mein Gedanke dreht sich im Gegenteil um die Wahrnehmung, dass sich beide "Systeme" zu ähnlich sind, weil sie beide zu sehr auf dasselbe angewiesen sind: die Zeit und Aufmerksamkeit des Einzelnen. Für beide ist es ein Streit - und projiziert man dieses Aufeinandertreffen auf eine zeitliche Ebene, dann ist es auch ein Wettlauf - um die Beantwortung der Frage, wie sich dieser Einzelne, der doch von beiden angesprochen, in Anspruch genommen wird, definieren soll: Als Konsument oder als Bürger? Im Extrem formuliert: Wofür entscheide ich mich? Shoppen oder Auseinandersetzung mit dem nächsten Volksentscheid? Volle demokratische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewegt mich dazu, Nachrichten zu konsumieren (immerhin) und im Dialog mit meinen Mitmenschen Erfahrungen auszutauschen, um damit schließlich meine eigene Position ausloten zu können. Diese Zeit geht also meinem Freizeitpensum "verloren", und im Gegenzug verliert jemand unter Umständen seinen Arbeitsplatz, weil weniger gekauft wird. Alternativer Gegenzug: Ich verzichte (radikal gesprochen) auf kritische gesellschaftliche Mitsprache und verbringe Stunde um Stunde in der Shopping Mall.

Anders angedacht: Sowohl der Kapitalismus als auch die Demokratie brauchen mich - entweder als kaufkräftigen Kunden, oder als mündigen Bürger. Beide wollen sie meine volle Aufmerksamkeit. Sowohl für das Einkaufen als auch die gesellschaftliche Teilhabe gilt: beides erfordert beständig eine Wahl. Es geht damit (vielleicht) um eine einfache Machtfrage: Bestimme ich über mich, oder mein Geld über mich?

*

Die Rede vom "kritischen Verbraucher" will vermutlich unser Festhalten am Kompromiss andeuten, den auch Naomi Klein sieht:

"People like to have consumer choice and they also like to have basic necessities protected and to have a life with dignity; housing, water, electricity, health care. And with democratic socialism you can actually have both: a mixed economy that has an essentially controlled economic model but that has room for diversity within it and has these social guarantees."

Und warum nicht? Vielleicht sollte ich mein Nachdenken über diese und ähnliche Fragen einfach aufgeben und mich gemeinsam mit der SPD über ihr gerade verabschiedetes Grundsatzprogramm freuen, in dem sie sich und ihre Mitglieder - und mich damit also auch - als demokratische Sozialisten feiert. Man vertraue also auch weiterhin darauf, dass dank der Politik, oder in diesem Fall: dank der Partei, alles gut wird.

Nein. Vorerst zumindest nicht. Und darum lärme ich ob der vielenorts ungerechten, ungerechtfertigten und nicht zu rechtfertigenden Verhältnisse. Denn auch als Pessimist, der dem russischen Sprichwort zufolge ein gut informierter Optimist sein soll, bleibe ich ein Optimist. Impossible is nothing, will mir Adidas ja schließlich oft genug weismachen.

Die Abschaffung des einen zugunsten des anderen scheint nicht unwahrscheinlich, sondern ganz und gar unmöglich. Was mich fasziniert, ist die Beobachtung, dass Kapitalismus die Politk zu vereinnahmen imstande ist; umgekehrt scheint es kaum machbar, den Kapitalismus zu politisieren - auf den Versuch allein folgt die umgehende Beschwerde von der Freiheitsberaubung des Marktes.

Und so nimmt das ubiquitäre (ist das nicht ein großartiges Fremdwort?) Gerede vom unaufhaltsamen Siegeszug des Kapitalismus und der Globalisierung immer mehr konkrete Form an: Statt Napoleon auf seinem Gaul steht heute der Coca-Cola Truck vor dem Brandenburger Tor. Auch er wird jubelnd empfangen, auch seine Infanteristen campieren im Tiergarten: Die Fantastischen Vier, Ich & Ich und wie sie noch alle heißen. Nochmal, um es zu wiederholen: Das Brandenburger Tor, ein politisch doch so tragendes Symbol, ist am Tag der Deutschen Einheit Schauplatz eines Nachwuchsband-Wettbewerbs. Der Gedenktag zum Mauerfall, präsentiert von Coca-Cola.

Alles Trend, und ein Außerhalb gibt es nicht. Auch die Postmoderne, mit der man sich doch ursprünglich emanzipieren wollte, konnte sich dem Sogfeld der Modeerscheinungen nicht entziehen. Ich finde mich, Ihr Euch vielleicht auch, einmal mehr zurückgeworfen auf den Erkenntnisstand Adornos: "Entweder sie tragen als Unterhaltung oder Erbauung unmittelbar zu[m ...] Fortbestand [der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnungen] bei und werden als ihre Exponenten, nämlich gerade um ihrer gesellschaftlichen Präformiertheit willen, genossen. Als allbekannt, gestempelt, angetastet, schmeicheln sie beim regredierten Bewußtsein sich ein, empfehlen sich als natürlich und erlauben die Identifikation mit den Mächten, deren Übergewicht keine Wahl läßt als die falsche Liebe. Oder sie werden durch Abweichung zur Rarität und abermals verkäuflich" (Adorno, "Kulturkritik und Gesellschaft", in: Prismen, Frankfurt: Suhrkamp, 1976, S. 7-31, hier: S. 16.).

Daher sagt mir auch die trendige Neuformulierung durch Norbert Bolz nichts Neues. Ein Ausschnitt aus der Zeit:

"Der kritische Konsument, sagt er, stehe heute nicht mehr außerhalb des Systems, sondern sei ein Teil davon geworden: »Die Subkultur wird zum Markenartikel, der Rebell zum Star und die alternative Szene zum Motor der Unterhaltungsindustrie. Der Mainstream wird gerade von denen bestimmt, die anders sein wollen als der Mainstream.« Wenn er beschreibt, wie intelligent das System des mediengesteuerten »Konsumismus« funktioniert, in dem sich Kunden, Werber und Unternehmer wechselweise beeinflussen, dann fällt die sonst gepflegte Attitüde der Coolness von ihm ab. Da klingt ein Ton frommer Bewunderung an, wie man ihn von Renegaten kennt, die ihre neue Religion preisen: Der Konsumismus sei »das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen«."

Fortsetzung folgt ...

Anstelle einer Abmeldung ...

... eine kurze Bemerkung zu meiner derzeitigen Verschwiegenheit: Am 10. eine mündliche Prüfung, am 15. Abgabe einer Hausarbeit, für die mir bereits Aufschub gewährt worden ist. Viel zu tun also; nichtsdestotrotz bleibt immer wieder Notizraum für Irritationen. Die erzwungene Ablenkung tut gut, merke ich, aber dennoch - zusammengebastelt dürften sie also am Mitte des Monats zu lesen sein.

Aufklärung, die: geboren ? / getauft 1783 / gestorben?

Der Austausch mit Christoph spinnt sich fort. Meine Antwort(en) auf Christophs Antwort(en):

- "Broder globalisierungsskeptisch? Ein Mitglied von Attac? Das wäre mir neu. Traditionsorientierte Haltung? Auf jeden Fall! Und zwar in der Tradition der Aufklärung und der Freiheit."

Sicherlich ist er in meinen Augen globalisierungsskeptisch. Seine Kritik, wie auch Giordanos, ist offen eurozentrisch. Globalisierung findet für sie statt - allerdings nicht (mehr) in Europa. Wir sind die bereits Zivilisierten, Aufgeklärten, Demokratisierten. Die Menschenzuströme, die sie beklagen, sind für sie ein unwillkommener Kollateraleffekt, dessen Bewältigung (inzwischen gar: Beseitigung) sie schnellstmöglichst umgesetzt sehen möchten. Was mich besonders wütend macht, ist die Geschichtsverdrossenheit der beiden "in der Tradition der Aufklärung" stehenden Herren: Sobald wir einer Gesellschaftsgruppe fehlende Fähigkeiten und mangelnden Willen unterstellen, sind wir bereits erneut einem veralteten Denken verfallen, das Kolonialismus und Imperialismus begleitet hat. Huntingtons Clash of Cililizations ist nichts anderes als eine modernisierte Aufarbeitung der "mission civilisatrice", eine Neuformulierung der schon vor zweihundert Jahren empfundenen Last des verantwortungsvollen weißen Mannes ("the white man's burden"). Du berufst Dich auf die europäische Geschichte und schreibst: "Ich meine, dass extremistisch eingestellte Minderheiten ein größeres Problem sind als eine politisch wenig engagierte Mehrheit." Verständlich, aber meines Erachtens nach verkürzt gedacht. Es dürfte Dir nicht entgangen sein: Wenn eine Mehrheit ein Problem mit einer Minderheit hat, dann liegt das selten an der Minderheit. Und ich bezweifele sehr stark, dass der Generalvorwurf an Muslime, sie seien integrationsunfähig und -unwillig, aus diesem Muster herausfällt.

- Natürlich hast Du recht: Ich messe diese Demokratie an Idealen. Diese "dialektische Demokratie" hat es nicht gegeben, und auch heute glänzt sie durch ihr gänzliches Fehlen. Deinen Mangel an Vision aber teile ich nicht. Idealismus ist etwas, das die Europäer mit dem Ende der Französischen Revolution aufgegeben haben. Wer seither mehr fordert, ist kindlicher Idealist und radikal (=Anarchist). Warum? Meine Vermutung: Demokratie und Kapitalismus sind unvereinbar. Vielleicht gelingt es mir demnächst, mir meine Gedanken genauer auszuformulieren - wenn Du magst.

- Zur Einbürgerungsoption meiner Mutter: Natürlich besteht sie. Macht sie den Unterschied? Das eine Dokument für ein anderes eintauschen? Auch hier frage ich wieder grundsätzlich: Macht sie ein Pass zur Deutschen? Und, was nicht das gleiche ist: Macht sie ein Pass zur Wahlberechtigten? Macht mich mein deutscher Pass zum Deutschen, wo ich mich doch auch zwei weitere Staatsbürgerschaften berufen kann?

- Ich möchte nochmal den Vorwurf aufgreifen, Integration sei von der Mehrheit gefordert, aber nicht entgegenkommend unterstützt worden. Über Deinen berechtigten Hinweis auf die Arbeit einer gesellschaftsengagierten Minderheit brauchen wir nicht diskutieren; hier sind wir uns mehr als einig. Ich will vielmehr das Denken einer - zugeben: von meiner Seite idealtypisierten - ausschließlich medial gelenkten Mehrheit hinterfragen. Mich interessieren einzelne Worte, die oftmals mehr vermitteln als die vielen guten, ausführlichen Hintergrundberichte im Spätprogramm der Öffentlich-Rechtlichen. Nehmen wir als Beispiel die Bezeichnung "Gastarbeiter". Es wandert ein, arbeitet in Deutschland, weil es an Arbeitskräften mangelt, bleibt aber erklärtermaßen "Gast". Zu Besuch. Sein Aufenthalt ist vorläufig; seine Rückkehr, wird vermutet, ist absehbar. Für seine mehrheitlich gering qualifizierte Tätigkeit [1] werden ihm kaum Deutschkenntnisse abverlangt, und keine Rechte angeboten - Gesellschaftliche Mitsprache? Keinesfalls.

Soweit für mich noch nachvollziehbar. Was aber wird aus seinen Kindern, seiner Familie, wenn sie nachzieht und der Nachwuchs hier sozialisiert wird? Wir können leicht auf die Anderen schimpfen. Meine Fragen richten sich aber zuallererst an "uns", die Deutschen, die demokratischen Europäer: Haben wir alles demokratisch vorstellbare getan? (Wie) Hat das Arbeitsumfeld dazu beigetragen, ihn zu integrieren? Und im Alltag? Wie reagieren die Postbeamten auf den "anderen"? Wie der gemütliche Beamte beim Finanzamt? Wie, also, reagiert der Einzelne auf den Einzelnen?

Teil zwei des postmodernen Wortspiels: Ein "Gastarbeiter" bleibt "Gastarbeiter". Lebt er seit dreißig Jahren in Deutschland, sehen wir ihn als "ehemaligen Gastarbeiter" oder "Migranten der ersten Generation" an. Unabhängig davon, ob er sich hier zu Hause fühlt oder nicht - die Mehrheit verrät mit solchen Bezeichnungen, dass sie ihm kein zu Hause gewähren möchte.

- Ob ich damit erneut das Thema verfehle? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir hören nach wie vor ausschließlich Politiker- und keine "Bürgerschelte" (nerones grandioses Wort): Giordano fordert heute ein mutiges, offenes, ehrliches, islamisierungstoppendes Bürgerengagement, weil er den Volksvertretern Versagen vorwirft. Es geht aber nicht so weit, dieses in der Vergangenheit mangelnde Bürgerengagement zu kritisieren.

Was mich dabei verwundert, ist die Tatsache, dass Du ihm offenbar zustimmst: Der Bürger trägt nur alle vier Jahre Verantwortung, und zwar bis ins Wahllokal - und keinen Schritt weiter.

- Welches Hindernis spielt für Dich der Sozialstaat? Meinst Du etwa, er sei zu großzügig? Darüber können wir diskutieren; mein Gedanke sollte allerdings (einmal mehr) hervorheben, dass es immer wieder der Staat und unsere Vertreter sind, die eingespannt werden, sobald es um die Koordinierung von Integrationsplänen geht. Die Mehrheitsgesellschaft, d.h. die Bürger, fühlen sich weniger, sogar selten angesprochen. Sie wollen persönlich gesellschaftliche Teilhabe, wenn es ihnen passt, weigern sich aber, den Pflichtteil ihrer Rechte wahrzunehmen - der wird delegiert. Meine konsequente Frage: Haben wir auf Bundesebene, auf deutscher Ebene also, nur alle vier Jahre Öffentlichkeit, nur alle vier Jahre einen Tag lang Demokratie? Deine Antwort lautet ja. Meine Reaktion darauf lautet: Dann brauchen wir von Demokratie nicht mehr reden.

- Und wie verteidigt man Demokratie in der Tradition der Aufklärung, wie Du schreibst? Der Westen ist häßlich, nicht aufgeklärt. Schon grundsätzlich gesehen ist man meines Erachtens nach nicht aufgeklärt. Man muss es immer wieder werden. Die Aufklärung ist kein Geisteszustand, mit dem man als Menschenkind des 21. Jahrhunderts geboren wird. Aufklärung ist eine europäische Denkart, eine Rationalität, eine Weltdeutung, der sich das Individuum, und allein das Individuum, annehmen kann. Keine Gesellschaft ist aus sich heraus aufgeklärt. Es gibt einzelne aufgeklärte Denker, aber keine aufgeklärte Gesellschaft. Wie Kant es in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? formuliert:

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Rechtfertigt das unseren Verstandesgebrauch alle vier Jahre? Ausdrücklich will ich daher auch den nachfolgenden, zweiten Absatz zitieren:
"Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Dies alles auf den Punkt gebracht, bedeutet, wie wir von Lennart Mari lernen: "Der Staat ersteht nur einmal, die Freiheit jedoch musst Du jeden Tag erkämpfen."

Deswegen die Pflicht zur Verantwortung des Einzelnen, deswegen der fortwährende Dialog. Natürlich kann ich in der Folge schwer einfordern, dass Du Dich mit jedem muslimischen Busfahrer und jedem muslimischen Gelehrten austauschst. Was ich Dir aber abverlangen dürfte, ist Deine eigene, persönliche, mündige Auseinandersetzung mit dem, was zur Verhandlung aussteht - in diesem Falle also die Frage, ob in Deutschland lebende Menschen muslimischen Hintergrunds integrationsfähig und -willig sind, oder ob ihnen ihre vermeintliche Andersartigkeit lediglich unterstellt wird - von Angesicht zu Angesicht. Du als ein kritischer Mitdenker, der weiß, das vieles von dem, was in den Massenmedien kursiert, auf verkürzten Darstellungen aufbaut, solltest Dich in dieser Debatte selbst von der Tiefe und Richtigkeit der Für- und Gegenargumente überzeugen wollen. Gerade weil Du um die Qualität der Berichterstattung weißt. Gerade weil Du um die deutsche Geschichte weißt. Denn das "letzte Mal" haben die Deutschen ihre Verantwortung ebenfalls delegieren wollen; im Nachhinein will keiner Bescheid gewusst haben über Ausschwitz, Sachsenhausen und die schätzungsweise sechs Millionen Menschen, die - ebenfalls aufgrund Ihrer kulturellen Herkunft und Religion - als nicht integrationsfähig und -willig galten. Aufklärung also als Denken im Andenken an die Vergangenheit. Die Prozesshaftigkeit dieses Denkens unterstreichen Adorno und Horkheimer im Titel ihrer "Dialektik der Aufklärung". Aufgeklärt sein zu wollen, so be-deute ich es, heißt: sich niemals ausruhen zu dürfen auf den Einsichten und Erkenntnissen von Gestern - denn es bleibt die Möglichkeit, dass die Aufklärer von heute Kants potentielle "Seelsorger", sprich: Vormunde von Morgen sind. Für das enge Verwandtschaftsverhältnis on Aufklärung und Demokratie folgere ich daraus: Auch Demokratie ist situativ, nicht ererbt. Sie muss immer wieder, tagtäglich, geboren, erneuert, gefestigt und verteidigt werden. Als Möglichkeit ist sie sicherlich ererbt, das will ich gelten lassen; ein Freiraum zur Demokratie ist uns gegeben. Aber er muss gefüllt sein - mit unseren Stimmen. Mit unserem Dialog. Demokratie ist kein System, sie ist ein Ort: Ein "dritter Ort" zwischen Menschen.

"fordern, fordern, fordern, ohne jeden Sinn für eine Bringschuld." Broder, Giordano und eine Frage der Integration

Lieber Christoph,

meine Antwort auf Deine Kritik hat einige Tage auf sich warten lassen; ich wollte bedächtig, ausführlich und möglichst weitsichtig antworten. Dein Einwand steht außer Frage: Es ist wichtig, unermüdlich immer wieder die Mahnung auszusprechen, dass Islam und Islamismus scharf voneinander zu unterscheiden sind. Genau diese Trennung, glaube ich, droht aber in den öffentlichen Wortmeldungen Broders und Giordanos - vor allem in der "ungehaltenen" Rede Giordanos - zu verwischen.

Damit will ich keine pauschale Aburteilung ankündigen. Einen vielleicht gewagten Schritt will ich zu Anfang allerdings tun, obwohl ich nicht glaube, dass ich mich damit ausliefere: Ich setze Broder und Giordano in ein Boot. Differenzen der beiden in anderen Streitfragen blende ich aus und berufe mich dabei auf Deine eigenen Worte:

"Henryk Broder wird nicht müde, zwischen Islamismus und Islam zu unterscheiden. Zuletzt mit einem sehr lesenswerten Text von Giordano [...]."
Ich gehe davon aus, ich mache zur Voraussetzung, dass Deine Verteidigung Broders nicht ganz so pauschal erfolgt wie meine neuerlichen Kommentare in dieser Diskussion, die hier ihren Ausgang genommen hat. Ferner hat Broder die Veröffentlichung der "ungehaltenen Rede" Giordanos auf seinem eigenen Blog weder kommentiert noch sich ausdrücklich von ihr distanziert. Eher noch darf ich den Hinweis geben, dass Broder Giordanos Rede mit dem Titel "Nicht die Moschee, der Islam ist das Problem!" in ihrer Brisanz verschärft [1]. Vielleicht kannst Du Dich daher mit mir darauf einlassen, die Meinungsübereinstimmung Broders und Giordanos (in dieser Sache) anzunehmen?

Aber zur Kritik - zu Giordanos Rede und Broders vermuteter Übereinstimmung. Ich habe im Kern nichts gegen ihre "konservative", d.h. "bewahrende", globalisierungsskeptische oder traditionsorientierte Haltung vorzubringen; sie gehört zur gesellschaftlichen Dialektik im Streit um die Zukunft, die eine Gesellschaft einschlägt. Im zentralen Streitpunkt stimme ich ihm im Kern - unter Zurücknahme der Vehemenz, mit der er seine Befürchtungen unterstreicht - zu. Giordano macht deutlich:
"Wir sind hier angetreten, um auf ein schwer wiegendes Problem der deutschen Innen- und Außenpolitik hinzuweisen, das seit Jahrzehnten regierungsübergreifend von den Politikern unter der Decke gehalten, geleugnet, verdrängt oder geschönt worden ist: auf das instabile Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit, vorwiegend türkischen Ursprungs."
Ob dieses Problem tatsächlich an den "Grundfesten unserer demokratischen Gesellschaft" zehrt, möchte ich bezweifeln, aber weiter beklagt er mit - von meiner Seite wiederum eingeschränktem - Recht:
Vor uns liegt der Scherbenhaufen einer Immigrationspolitik, die sich zäh geweigert hat, Deutschland zu einem Einwanderungsland zu erklären und es mit den entsprechenden Gesetzen und Regularien auszustatten. Über Jahrzehnte hin gab es deutscherseits nichts als Hilflosigkeit, Konfliktscheue und falsche Toleranz, das ganze Arsenal gutmenschlicher „Umarmer“: verinnerlichte Defensive christlicherseits bei den sogenannten „interreligiösen Dialogen“; verheerende Nachsicht der Justiz bei Straftaten, bis in den Versuch, Teile der Scharia in die deutsche Rechtsprechung einzuspeisen; überängstliches Vorgehen und wehrloses Wegschauen von Polizei und Verfassungsschutz auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik; beängstigende Reserve gegenüber islamischen Organisationen, die den Terror unterstützen, wie auch gegenüber Plänen für eine schleichende Umwandlung westlicher Staaten in eine islamische Staatsform.
Das Kreuzfeuer der Kritik ausschließlich auf Politik und Staat zu lenken, verfehlt allerdings die Richtung, die diese Kritik nehmen könnte - und meiner Ansicht nach auch nehmen sollte. Denn Demokratie ist auf lange Frist dialektisch: Es sind unsere Delegierten, Vertreter des Volkes, die im Bundestag Politik machen. Wie Herr Lambing über die herkömmliche Idee des öffentlichen Raums formuliert: Die
"räsonierende Öffentlichkeit betrachtet sich selbst nicht als ausführendes oder beschließendes Organ. Sie ist Kontrolle der Macht, nicht selbst Macht. Sie schränkt die politische Macht, alos [sic] ihre Eliten und Entscheidungsträger durch ihr laut hörbares, mit großer Autorität gesprochenes Urteil ein, ohne sich selbst als Teil der politischen Sphäre zu verstehen."
Warum also, muss sich die Frage anschließen, sind es allein die Politiker, denen Giordano (und so gern auch Broder) die Generationsabschlussrechung vorlegt? Warum ist das Veto, das Urteil der mündigen Bürgerschaft verstummt?

Meine starke Vermutung: ein Veto wurde niemals, noch nie, formuliert. Unsere Gesellschaft ist mehrheitlich politisch enttäuscht, uninteressiert, resigniert. 85% der Bürger, so eine Hochrechnung von TNS Emnid im Auftrag der Zeit (Die ZEIT Nr. 37, S. 4), sind der Überzeugung, dass Bundestagsabgeordnete "nicht so genau oder gar nicht" mit "Leben, Alltag und Sorgen ihrer Wähler" vertraut sind. Die Gegenfrage fällt noch deutlicher aus: 95% der Befragten wissen "eigentlich nicht" oder "nicht so genau", wie sich der Alltag des eigenen Bundestagsabgeordneten gestaltet (ebd., S. 5). Und ein Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre wird sicherlich nichts anderes wiederspiegeln.

Entfremdete Welten. Wie kann Giordano auf Parallelwelten von Deutschen und Ausländern schimpfen, wenn sich doch die Bevölkerungsmehrheit insgesamt politisch verloren fühlt? Kein Wunder also, dass es an gesellschaftlich-demokratischer Eigeninitiative mangelt - wo sich doch so leicht der Staat als Exekutive verstehen lässt. Mitnichten: Die Gesellschaft in ihrem Ganzen ist (auch) Exekutive: Sie ist es, die lebt, die Teilhabe gewährt und gewähren muss. Sie trägt Verantwortung. Demokratie, ich betone es nochmals, bedeutet Dynamik - und das nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft, Bürgerschaft oder Volk. Sie bedeutet Dialog. Fortwährenden Dialog. Mit den Bürgern, den Menschen, den Anderen um uns herum.

Ein integrierender Dialog wurde auf politischer Ebene nie geführt, das prangern Giordano et. al. zurecht an. Allerdings blenden sie offenbar nur zu gerne aus, dass er auf gesellschaftlicher Ebene vielen, gar dem Großteil, von vorherein verwehrt geblieben ist. Zuständig waren und sind, so meine pauschalierter Eindruck, der Sozialstaat. Nicht aber die Sozialgesellschaft. Eine persönliche Fußnote dazu: Meine Mutter lebt seit beinahe dreißig Jahren in Deutschland. Sie arbeitet, zahlt ihre Steuern, spricht fließend Deutsch; sie ist gemeinhin eine Person, die man als "integriert" betrachten würde. Dennoch bleibt ihr ihre Stimme verwehrt: Sie hat keine Mitsprache an bundespolitischen Entscheidungen und "genießt" allein kommunalpolitisches Wahlrecht. Ist es vor diesem Hintergrund nicht verständlich, dass sich Menschen zurückziehen? Daher beunruhigt mich seit jeher jener nur schmale Grat, der traditionellen Bewahrungswillen von gesellschaftlicher Stagnation trennen soll. Sein Übertreten passiert leider allzu leicht:
"Was dann nahezu unkontrolliert und in philanthropischer Furcht vor dem Stempel „Ausländerfeindlichkeit“ nachströmte, waren Millionen von Menschen aus einer gänzlich anderen Kultur, die in nichts den völlig berechtigten Eigennutzinteressen des Aufnahmelandes entsprachen, ohne jede Qualifikation waren und nur bedingt integrationsfähig und -willig. Und dazu gewaltige Belastungen der Sozialkassen."


Indem Giordano mit seinen Überspitzungen der Zivilgesellschaft jegliche Verantwortung in der Debatte abspricht, stellt er ihre Pflichten, ihre Versäumnisse, ja: sogar ihre Existenz in grundsätzliche Frage. Stattdessen wird, wie so oft, die Verantwortung delegiert, ganz so als ob man seine bürgerliche Verantwortung in dem Moment abtritt, in dem der eigene Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag einzieht: Die Vertreter der Verbände, die Politiker tragen die Schuld am Versagen deutscher Integrationspolitik.

Wir müssen Demokratie leider (immer) noch lernen. Wir hätten ihre Prinzipien schon seit 1949 verinnerlichen sollen, haben sie aber in der Aufschwungszeit des Wirtschaftswunders vernachlässigt - und mit ihr Giordanos "nachströmenden Millionen", die diesen Auschwung mitgetragen haben. Mit dem Fehlen dieses Rückblicks, dem Mangel an Selbstkritik, führen Giordano und oftgenug auch Broder ihr eigenes Versagen als Bürger, und viel gewichtiger noch: als Intellektuelle und öffentliche Meinungsführer, vor. Das strahlt zurück: "[...] Angst [...] machen mir Politiker, die ihre Denkmuster von Toleranz und Antirassismus heute nicht einer Neudefinition unterziehen. Nur wenige ihrer Vertreter sind in der Lage, die intellektuellen Wertmesser ihrer Jugend in Frage zu stellen", zitiert Giordano aus dem Brief einer Frau, der ihn erreicht hat. Diesen Vorwurf muss ich, befürchte ich, auf Giordano und Broder ausweiten: Die Integration einer als gänzlich anders empfundenen Minderheit für "gescheitert" zu erklären, ohne zu erkennen, dass die Mehrheit der Gesellschaft, der man selbst entstammt, einen integrierenden, willkommenheißenden Dialog niemals angeboten hat, bleibt für mich der entscheidende Kritikpunkt. Es ist ihre Schwäche, die fehlende Dialektik zwischen Politik und Öffentlichkeit, die spürbar sein sollte, und es de facto allerdings eher selten ist, diese Schwäche also, die ich mir von Broder, Giordano und Anhängerschaft angesprochen sehen wünsche.

Bisher halten sie beide an einem kulturellen Determinismus fest, aus dessen Perspektive "wir" Deutschen den Anderen immer bloß als Anderen wahrnehmen können und wollen. Integration, ein Miteinander, bleibt ausgeschlossen, denn der Andere ist zu anders, um unsere Lebenswelten mit uns zu teilen: sie enstammen eben "einer gänzlich anderen Kultur" und sind "nur bedingt integrationsfähig und -willig."

Zum Abschluss: Ich verstehe diese Perspektive, will aber gestehen, dass sie mir lächerlich erscheint. Sobald unsere scheinheilige "demokratische Kultur" als Demarkationslinie instrumentalisiert und missbraucht wird für die Einordnung, wer deutschland- oder europatauglich ist und wer nicht, gilt es aus meiner Sicht stets den Blick auf diejenigen zu richten, die diese Richt(er)schnur aufzuspannen sich erlauben. Wie ich schon im Vorfeld Salman Rushdie zitiert habe: "Beware the writer who sets himself or herself up as the voice of a nation."

Es ist und bleibt ein feiner Unterschied, ob man mehr Öffnung von den in Deutschland lebenden Muslimen einfordert, oder wie Herr Giordano den Schlussstrich zieht: "Die Integration ist gescheitert." Die eine Position lässt die Möglichkeit für ein Nachholen des verpassten Dialogs zu, während ich die andere als radikalisierende, reaktionäre Antwort auf die Verzweiflung vor dem bisherigen Misslingen einer geforderten, aber nicht unterstützten Integration lese. Diese feinen Unterschiede aber vermisse ich bei Giordano und Broder schmerzlichst. "Der Islam ist das Problem", schreit Giordano, nicht der Islamismus. Überhaupt sollten, sogar: müssen wir die "muslimische[...] Drohung" thematisieren: denn "statt auf Integration [arbeiten viele Verbände und Parteien] auf kulturelle Identitätsbewahrung der Immigranten und ihrer Nachkommen hin[...]". Die Trennung zwischen Religion und politisiertem Fundamentalismus fällt ihm vermutlich deshalb so schwer, weil die erste den letzteren hervorbringt, der Fundamentalismus also schon im Islam angelegt ist: unter Umständen kann "er bald schon identifiziert werden mit einer Bewegung, die das Zeug zum Totalitarismus des 21. Jahrhunderts in sich trägt."

Wie bereits angemahnt: Wenn Herr Broder und Herr Giordano schon die Rückständigkeit des Islam (oder islamischer Gesellschaften), seine (oder ihre) Verspätung und seine (oder ihre) fehlende Aufklärung in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellen, so verzerren sie deutlich das Ziel der "kritischen Methode", die sie für sich in Anspruch zu nehmen glauben: Neben Kritik sollte auch stets Selbstkritik geübt werden. Unsere - die deutschen - Verfehlungen bleiben für beide aber nicht der Erwähnung wert.

Und um kurz die globale Dimension "westlicher" Verfehlungen anzureißen: Die Merkmale von unserer Seite sind anhand gegebener historischer Vergleichsmöglichkeiten alarmierend genug: Fordert die Globalisierung, fordert die Verteidigung unserer Interessen am Hindukusch etwa keinen "Einfluss", kein Zusammenspiel aus "soft" und "hard power"? Wen verwundert die von Giordano zitierte Forderung daher ernstlich: "Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens und ihre Ersetzung durch islamische Herrschaft"? [2] Aber das soll ein anderes Kapitel werden.

Was zum Abschluss auszusprechen bleibt? Eine Reihe von Forderungen, die "ohne Sinn für eine Bringschuld" - eine Haltung, die Giordano der (so verstehe ich ihn) muslimischen Mehrheit zum Vorwurf macht - genauso realitätsfern sind wie der von ihm geforderte Islamisierungsstopp: Während wir uns in dieser Debatte auf "unsere" "europäische" Kulturgeschichte berufen, ist es endlich an der Zeit, unsere Lehrer zu achten. [3] Etwas mehr Historismus, etwas mehr Selbstkritik, etwas mehr Empathie, weniger Selbstgerechtigkeit, etwas mehr Pragmatismus. Wir müssen miteinander reden lernen. Sprechen können doch wir bereits. Schimpfende Giordanos und Broders können und müssen sogar dazu beitragen - ohne ihre Arroganz, ihre Geschichtsvergessenheit.


[1] Das Titelzitat ist einem offenen Brief Giordanos an die Ditib vom 15./16. August 2007 entnommen.
[2] Giordano schreibt: "Die Merkmale anhand gegebener historischer Vergleichmöglichkeiten sind alarmierend genug, bis hinein in das erklärte Ziel des politischen Islam: „Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens und ihre Ersetzung durch islamische Herrschaft.“"
[3] "Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer achtet." (Karl Jaspers)

"Liebe Globalisierung!" - von Wolfram Weimer

Wolfram Weimer, Herausgeber und Chefredakteur von Cicero, über die derzeit wilden Tage eines heranwachsenden Teenagers - die Globalisierung. [direkter Link zum Artikel]


Das Donnerwetter an Deinen Weltbörsen mag glimpflich ausgehen wie ein Sommergewitter oder übel wie ein Orkan, der uns in eine Weltwirtschaftskrise stürzt. In jedem Fall ist es symptomatisch für Dein seltsames Verhalten in jüngster Zeit. Lass uns ehrlich sein: Du bist mitten in der Pubertät.
In Deinem Geburtsjahr 1989 haben wir Dich alle freudig gefeiert, in den neunziger Jahren hast Du grenzenlos laufen gelernt und spaziertest wohlstandsmehrend um die Welt. Seit einiger Zeit aber steckst Du in Deiner wilden Jugend. In Deinem Kopf geistern allerlei Allmachtsfantasien wie der Glaube, man könne sich amerikanische Häuser ohne Geld kaufen, das Klima retten oder ganz Asien in einem Katzensprung vom Armenhaus in ein Glitzerkasino verwandeln.
Auch jenseits Deiner Börsen scheint die schrille Zurschaustellung Deiner Potenz wie eine Grundsignatur unserer Zeit. Ob sie nun in Dubai künstliche Inseln ins Meer werfen, in Schanghai mit flimmernden Hochhäusern protzen, in der arabischen Wüste Skihallen bauen, wie Rocker mit Private-Equity-Milliarden durch die globale Unternehmenswelt ziehen oder sich in New York mal eben das Wall Street Journal unter den Nagel reißen – das globale Kerletum triumphiert. Die Grundpose dieser Heldentaten hat immer etwas von einem Michael-Jackson-Tanz-Imitat vor dem heimischen Spiegel.
Zum Gestus Deiner Sturm-und-Drang-Zeit gehört auch die zuweilen rabiate Art, Konflikte zu lösen. Der globale Kult des islamistischen Terrorismus trägt starke Züge pubertärer Massen-Aggression. Aber auch George Bushs Reaktionskriege wirken so durchdacht und erfahrensklug wie eine studentische Spring-Break-Schlägerei in Texas. Das besonnene, das reife, das gutmütige Amerika scheint wie in einem elterlichen Mittagsschlaf, während der wilde Sohn ums Haus jagt.
Aber Du hast mit Deiner Pubertät auch Russland angesteckt. Putins Protzerei, russische Fähnchen auf den Nordpol zu pflanzen, mit Langstreckenbombern herumzudonnern, Nachbarn anzupöbeln und sich mit Muskelbody als Sibirien-Cowboy zu inszenieren, erinnert fatal an den fünfzehnjährigen Vorstadt-Django. Und wenn die dritte, die chinesische Weltmacht ihrem wilden Nationalismus huldigt, dann fühlt man sich auch eher an Fußballfan-Flaumbärte in der Südkurve erinnert denn an den weisen alten Mann aus Peking.
Die politische Kultur der Weltbühne lässt Deinem pubertären Trieb leider ziemlich freie Bahn. Drum sind auch Deine rabiaten Protagonisten wieder so präsent: Von Gaddafi über Chavez bis Ahmadinedschad reicht die globale Rowdy-Gang schwer erträglicher Typen, deren Testosteronspiegel irgendwie nicht zu ihrer sozialen Intelligenz passt. Und selbst unter den Demokraten obsiegen auffallend oft die Macho-Sarkozys, Angeber-Berlusconis und Kerle-Kaczynskis. Deutschlands Lafontaine passt in diese Szenerie wie die Faust aufs Auge.
Auch das brave, nüchterne Deutschland pflegt inzwischen Globalisierungs-Selbstlügen wie die, dass das schwerfällig gewordene Land seine Hausaufgaben schon gemacht habe und sich nun in einem tollen Aufschwung zurücklehnen könne. Oder die Einbildung, dass die Abermilliarden Schulden, die Deutschland mitten im Boom weiter anhäuft, eine solide Haushaltpolitik seien. Die Politik schimpft über unseriöse Hypothekenbanken und verhält sich mit ihrer Staatskasse selber so.
Selbst im Alltagskulturellen hinterlässt Du Spuren: Vom Bungee-Jumping über die Haudrauf-Computerspiele bis zur grotesken Sonnenbrillengröße reichen die Chiffres Deiner Jugendzeit, die die spätpubertären Eskapaden einer Britney Spears oder Paris Hilton verfolgt wie weltweite Selbstfindungsromane.
Nun mag man es mit Woody Allen halten, dass die Pubertät zwar nervt, aber auch prächtig unterhält. Und doch – lass uns ehrlich sein – wäre es ganz angenehm, wenn Du nun langsam ein wenig erwachsener, seriöser, ausgewogener, verlässlicher würdest.
Probier es doch in der Wirtschaft mal mit soliden Bilanzen, in der Politik mit Diplomatie, im Gesellschaftlichen mit Fairness, im Medialen mit echten Inhalten statt mit schrillen Formen. Respekt. Kultur, Tradition, Bescheidenheit – alles uncool? Denk an Deine Börsen. So wie dort die Coolen jetzt crashen, so könnte es Dir mit Deiner ganzen Grenzenlosigkeit gehen, wenn Du bis zum Realitätsschock wartest. Linke Etatisten wie rechte Nationale lauern nur darauf, Dir, also uns allen, die Freiheit wieder auszutreiben. Beide schimpfen schon wortgleich über den „Raubtierkapitalismus“ und den „Globalisierungshexenkessel“. Wenn Deine Freiheit scheitert, dann fallen wir zurück ins ideologische Dunkel vor 1989. Lass das nicht zu. Gib Dir endlich eine kultivierte, bürgerliche Fasson. Deine Welt ist mehr als nur ein Jahrmarkt.
Du wirst in diesem Jahr 18 Jahre alt; es ist Zeit, erwachsen zu werden. Mit Blick auf den Ernst des Lebens solltest Du jetzt Karl Jaspers lesen: „Die Tiefe des öffentlichen Tuns liegt in seiner leisen Nüchternheit.“

Update: Basisdemokratie via youtube?

The Democratic Debate - "Kleiner Gewinn oder reine Farce?", fragte ich neulich. Ein paar bei youtube verbrachte Minuten ergeben, dass ich mit meiner intuitiven Mahnung durchaus im Rechten gelegen habe. Ich schrieb: 

[...] ohne einen Blick in die eigentliche Sendung darf man sich eigentlich kein ernsthaftes Urteil erlauben: Wer mit CNN vertraut ist, weiß um die Tiefgründigkeit des Programms. Dazu kommt die mit Sicherheit auf das Programm (sowohl von CNN als auch der Demokraten) zugeschnittene Auswahl der Videobotschaften.
Die Frage nach der Zuständigkeit ist leicht zu beantworten: Sie oblag dem "CNN political team". Ein Kommentar dazu:



Nachfolgend noch der erste von insgesamt (offenbar) elf Teileinblicken in die Originalsendung. Ihr Erfolg lässt zu wünschen übrig: Lediglich 2,6 Mio. Zuschauer haben sich vom Format angezogen gefühlt. Bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 301,139,947 wären das weniger als 1%. Soviel zum Anbahnungsprojekt "Demokratie 2.0".



Im Übrigen, wer's spannend findet: Morgen Abend dürfen sich die republikanischen Präsidentschaftskandidaten derselben Herausforderung stellen. Halt - ich muss korrigieren:
The debate had been scheduled for mid-September, but some candidates balked at the format after the Democratic debate and expressed concern that it would take time from their fundraising before the third-quarter deadline.

(Ohn)Mächtige Rechte im Netz?

Michael hat mich in seinem neulichen Kommentar zu meinem "Dank" an Herrn Broder auf sein wiederholtes Anbandeln mit dem "rassistischen" Lager hingewiesen. Über Broders eingefärbte Kritik möchte ich mich (noch) nicht äußern - dafür habe ich bisher zu wenig über ihn in eigene Erfahrung gebracht. Allerdings bin ich ein zwei Schritte den Spuren nachgegangen, auf die man durch den Verweis auf Herrn Niggemeier fast zwangsläufig stößt.

Ich bin schockiert. Im Ernst: Nach meinen ersten Eindrücken bin ich überrascht, wie zahlreich und dicht sich diese "konservative" Szene im Netz organisiert. Ich lese nun seit zwei oder drei Tagen immer wieder Stefan Herres Blog Politically Incorrect. Der stumpfen Beharrlichkeit, den verkürzten Argumenten, der populistischen Voreingenommenheit ist man ja irgendwie irgendwo schon mal begegnet, oder sie ist einem immerhin vom Hören-Sagen vertraut. Jetzt aber erschrickt mich die Präsenz, die Zahl. 16.964 Besucher im Verlauf des gestrigen Tages. Es ist ganz so, als würden die Stimmen dieser Menschen für mich zum ersten Mal wahrnehmbar. Denn das Sensationslüstern der Massenmedien plättet oftmals die Unterscheidung zwischen gefühlter Angst und drohender Gefahr - und das für alle Seiten: Das verrät mein Schock, das verrät aber auch die Haltung von Herrn Herre. Ohne das verzerrende Rauschen der großen Medien, ganz "un-medial", ganz "un-vermittelt", liest sich das in seinem Forum und den mit ihm Partei ergreifenden Bloggern Gedachte, Geäußerte und vor allem: auch Demonstrierte, ganz anders. Bedrohlicher, vielleicht weil für mich eben umso konkreter. Wahrscheinlich aber auch, weil es sich als "gewöhnlich", als "rechtens" zu gebärden versucht. Keine Abschottung liest man hier, sondern ein offenes, selbstbewusstes, missionarisches Auftreten. Glaubt man Herrn Herre und seinen Mitstreitern, sind es "wir" Deutschen, "wir" Europäer, in die Defensive gedrängt sind. Ich erinnere mich bei solchen Aussagen immer an die mahnend-witzigen Worte Salman Rushdies:

Beware the writer who sets himself or herself up as the voice of a nation. This includes nations of race, gender, sexual orientation, elective affinity. This is the New Behalfism. Beware behalfies! [1]
Wie Herr Herres bipolare Welt zustande kommt, hinterfragt dort niemand. Herzlich Willkommen in Saids ontologischem Orientalismus.

Ich fühle mich wachgerüttelt, bestürzt. Wenn ich allerdings im zweiten und dritten Anlauf darüber nachdenke, brauche ich mir meine Augen gar nicht so verwundert zu reiben, denn wie anders sollte meine Reaktion sein: Ich sitze hier, renne tagtäglich in die Uni, studiere meinen postmodernen Kiki, komme dann nach Hause und schreibe darüber eine diskursive Hausarbeit. "Orientbilder in Shakespeares Antony and Cleopatra" oder so. Nicht, dass ich dieses intellektuelle Geplänkel als "unpolitisch" abwerten will. Foucault ist lehrreich, Derrida ebenso, und sich wie nerone et. al. mit dem Nachlass Rudolf Steiners auseinanderzusetzen, ist fernab jeder Frage ein nicht weniger notwendiges Stück kritischer, bildungsgeschichtlicher Aufarbeitung.

Diskussion aber, und darauf will ich vermutlich gerade hinaus, ist nicht gleich Aktion. Der Vorwurf der Weichspülerei, dem man in den Kommentaren vieler Beiträge lesen kann, gilt, und das will ich betonen: berechtigterweise auch mir. Die Untätigkeit der Postmoderne, ihre apolitische Ferne zum Alltag, will auch ich überwinden.

Diese Bewegung, die sich u.a. um Herrn Giordano schart, ist konkret; in dem Sinne konkret, dass es öffentliche Orte jenseits der Öffentlich-Rechtlichen gibt (wie in diesem Fall das Netz), zu denen auch ich - wie jeder unter Euch - uneingeschränkten Zutritt habe.

Aber - und das ist ein entscheidender Punkt: Ich fühle mich nicht ohnmächtig. Diese Orte sind rein aus sich heraus keine Monopole, sie sind Meinungspole. Diejenigen unter Euch, die schon Erfahrungen mit oder in diesem Milieu gemacht haben, werden mich sicherlich, und vermutlich nicht zu unrecht, als Naivling sehen, dem seine Lehrstunde noch bevorsteht. Dennoch: Ich sehe mich verpflichtet, meine Stimme zu erheben, mit ihnen zu diskutieren. Mit "Hand und Fuß", wie man sagt, wobei ich damit keine aggressive Auseinandersetzung provozieren möchte. Im Gegenteil: Ich möchte diesen Hass verstehen. Wie kommt jemand dazu, eine derart ausgeprägte Angst gegenüber einem Fremden zu entwickeln? Mir ist und bleibt das unverständlich: Ich habe das seltene Recht auf drei Staatsbürgerschaften und bin sieben Jahre meiner Kindheit in Afrika aufgewachsen. Aus diesem Grunde habe ich vor "Fremdem" und "Unbekanntem", vor "Fremden", "Unbekannten" - seien sie aus Oranienburg oder Beijing, Moskau oder Teheran, keine Angst. Sie müssen mir diese Angst schon machen.

Ich will mich dort demnächst also behutsam einbringen, mit Respekt, Vorsicht und Bedacht, und sehen, wie tolerant die Reaktionen sind, die an mich zurückgetragen werden. Denn wie es weiter in Rushdies Essay heißt: "In the best writing, [...] a map of a nation will also turn out to be a map of the world." Man kann über das "best" streiten, die Richtung aber stimmt für mich.


[1] Salman Rushdie, "Notes on Writing and the Nation", in: Step Across this Line, New York, 2002, S. 58-61, hier: S. 60.

Revolte gegen die Moderne - Sendereihe des D-Radio

In der Ankündigung heißt es:

Die Gesprächsreihe "Revolte gegen die Moderne" setzt einen Kontrapunkt, der die historischen und gesellschaftspolitischen Dimensionen des zugrundeliegenden Nord-Südkonflikts und die Bemühungen um eine Erneuerung der Demokratie unter den Bedingungen der globalisierten Welt ins rechte Licht zu rücken versucht.
Mein Eindruck: Einmal mehr typisch postmodern. Viele "freundschaftliche" Ideen, wenig Handlungsansätze - Utopien ganz unpolitisch. Aber hört selbst.

"Barbarischer Westen" - Außenansichten der Moderne
Folge Eins

Wurzeln des Terrors
Der renommierter Politikwissenschaftler und Anthropologe, Mahmood Mamdani, schreibt über religiösen Fundamentalismus und seine politischen Auswirkungen. In seinem Buch "Guter Moslem, böser Moslem" verwirft er die These von den "guten" (säkularisierten, westlichen) und den "bösen" (vormodernen, fanatischen) Muslimen. Sein Apell lautet, rasch die islamophobische Sicht der Welt abzulegen, denn sie verstellt den Blick auf die wirklichen Probleme.
Folge Zwei

"Multikulti" am Ende
Für von Barloewen ist die homogene, globalisierte Welt vorerst nur eine Oberfläche, unter der die Kulturunterschiede der verschiedenen Gesellschaft fortbestehen. Lateinamerika beispielsweise habe eine stark metaphysisch, aufs Jenseits ausgerichtete Kulturtradition, die mit dafür verantwortlich sei, dass sich der Kontinent mit dem wirtschaftlichen Fortschritt so schwer tut. Japan dagegen verdanke seinen wirtschaftlichen Erfolg einer in ihren Wurzeln pragmatischen Kultur.
Folge Drei

Weltgesellschaft ohne Alternative
Detlev Claussen ist Publizist und Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover. Zwischen 1966 und 1971 studierte er bei Horkheimer und Adorno, Habermas und Negt in Frankfurt am Main und gehört zu den Gesellschaftswissenschaftlern, die sich bis heute der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule verpflichtet fühlen.
Folge Vier

Markus J. Prutsch
Folge Fünf 

Passivismus & Pop-Globalisierung

Ich bin mir ja nach wie vor nicht ganz sicher, wie ihn einschätzen soll: Henryk M. Broder. Früher stand ich ihm ablehnend gegenüber. Zu Gast auf einer von mir mitorganisierten studententischen Konferenz, hat er meine Einschätzung jedoch massigen können: Weil er sehr schnell entlarvte, wie viel "Schizophrenie" (mein Zitat, nicht seines) hinter den vielen vermeintlich guten Ansätzen zur Problemlösung steckt: Immer sind es die anderen, die ermahnt werden müssen, immer sind es insbesondere die Vereinigten Staaten, die das Ur-Böse darstellen, während wir nur moderates Abbild, kleineres Übel sind - auch dies nur, weil der Marshall-Plan die Amerikanisierung zwangsläufig mit sich brachte. Der Kern aller Entwicklungen war, ist und bleibt in den USA zu suchen.

Vieles von dem, was er uns Jungspunden nahegelegt hat, war daher keine weise Neuerkenntnis: Fang mit der Kritik an Dir selbst an. Wie trägst Du zu den Umständen bei, die Du verändert sehen möchtest?

Genau das ist ja der Ansatz von Projekten wie "Deine Stimme gegen Armut"; den Afrikabesuchen von George Clooney; den Kinderadoptionen von Madonna, Ms. Jolie und Herrn Pitt; Aktion Mensch und den Workcamps der Kolping-Werke.

"Ihre Hilfe trägt Früchte", versichert "Brot für die Welt" auf Werbeplakaten, als ob Empathie und Nächstenliebe plötzlich durch Investitionssicherheit motivert und gedeckt werden müssen. Die "Aktion Mensch" unterstreicht's:

"Das 5 Sterne-Los ist da!

Der 1. Stern steht für Ihr soziales Engagement
4 weitere Sterne stehen für Ihre Wünsche: Geld-
gewinne, Traumhäuser,
Haushaltsgeld, Rente!"


Eine potentielle Rendite von wieviel? Und bald gibt's Afrika-Aktien. Warum muss all diese Hilfe versickern in den Strukturen der Hilfskampagnen, die in Europa aufrechterhalten werden? Man informiert sich halb(herzig) - und delegiert. Ins politische Bewusstsein, in den alltäglichen Dialog, ins alltägliche "Gemeinsein" mit anderen, dringt wenig von dem vor, in welchem Maß in Afrika tatsächlich Tode gestorben werden. Guten Gewissens kann man sich zurücklehnen und beruhigt von sich behaupten, man "tue ja was". "Passivisten" hat meine Mitbewohnerin diese vermeitnlich Aktivisten neulich benannt, und damit einmal mehr das Kartenhaus der alltäglicher Verblendung und Einbildung zum Einsturz gebracht. Und das bringt mich zurück auf Herrn Broder: Danke Ihnen für die Erinnerung: "Man muss das Kind beim Namen nennen." Verantwortung für die Zukunft tragen hierzulande nur Wenige.

Broders eigene Worte dazu unter http://www.radioeins.de/meta/_programm/8/20070504_freitagskomm.ram

Basisdemokratie via you-tube?

Ist das vielleicht ein erster Schritt in eine richtige Richtung? Gewährt man dem Demos mehr Verantwortung, mehr "Kratie", wenn es via Videobotschaft ins Wahlkampfstudio durchdringen kann? Ein ernstzunehmender Versuch? Kleiner Gewinn oder reine Farce? Bei turi2 kommentiert man das Projekt zwar als Vorschau auf "Demokratie 2.0", aber ohne einen Blick in die eigentliche Sendung darf man sich eigentlich kein ernsthaftes Urteil erlauben: Wer mit CNN vertraut ist, weiß um die Tiefgründigkeit des Programms. Dazu kommt die mit Sicherheit auf das Programm (sowohl von CNN als auch der Demokraten) zugeschnittene Auswahl der Videobotschaften.
Aber, wie angemahnt: keine Überstürzung. Ich will sehen, ob youtube Einblicke in Sendung und Einsendungen (auch im derrida'schen Sinne) gewährt. Meine Vorahnung aber: Für mich ist dieses Projekt einmal mehr Anzeichen und Beweis dafür, dass Demokratie und Nationalstaat unvereinbar sind. Zu groß sind die Distanzen, zu vage die Bezüge zwischen Wähler und Politiker, Demokrat und Kandidat. Um Michaels Begriff aufzugreifen: Der Aktionsradius demokratischer Selbstorganisation ist viel kleiner als ntowendige Bewegungsraum, den ein Nationalstaat in Anspruch nimmt. Dialoge lassen sich nur mit einer begrenzten Zahl an Stimmen führen. Mehr dazu aber bald ...

Mehr Realismus in die Utopie

In der Tat, lieber Michael: Politik dem Einzelnen und seiner Verantwortung. Meine Stimme hast Du; das utopische Programm, für das Du Derrida zitierst, steht dem meinen gar nicht so entfernt. Im Folgenden ein Essay, den ich für eine studentischen Konferenz zusammengesponnen habe. Er erinnert mich immer wieder daran, dass Utopien wenig nützen - und seien sie auch noch so freundschaftlich gedacht - solange sie es versäumen, ihren Zukunftswert zu beweisen. Mit anderen Worten: Jede Utopie, will sie ihr Gehörtwerden unterstreichen, muss mir nicht nur das "was?", sondern zugleich auch das "wie?" beantworten - sie muss "politisch" sein. Was ich genauer darunter verstehe, will ich Dir demnächst gern erläutern; für heute: der angekündigte Essay.

Auf bald _ W



Postcolonial Immigration – Shaping the “Western World”?


How can we openly and critically discuss the impact(s) of immigration on the so-called “Western World” without taking into account the consequences of the process we call “globalisation”? We can’t, and yet, often we do. The majority of the “Western World”’s attempts to deal with immigration fall short due to a distorted sense of perception that will leave us ignoring global challenges until the very moment we are inevitably confronted with them. Frequently, the “western” public engages in discussions on the chances, scopes and limits of integration and assimilation; the necessity of reworking immigration policies; the carving out and relevance of individual national Leitkulturen. [1] However, such political frameworks remain too narrow and all too easily allow us to focus on a development – immigration – which at the same time in fact is a constituent and consequence of a much larger shift in global set-up: I refer, of course, to globalisation (Let me provocatively ask: Were it not for the questions (and self-questioning) that current issues and debates on immigration raise, could one not presume that globalisation takes place only on the “peripheries”?).
There are cardinal questions, then, that need to be addressed: How can we come to understand the fundamental transformations we are currently witnessing? How can we as already “democratised” and “globalised” societies deal with the challenges which global immigration brings with it? Are we ready to respect the “other”; are we ready to fully embrace the ideals we so often consider universal, epitomised in the revolutionary call for “liberty, equality, fraternity”?
Our answers to these questions will undoubtedly inform the perspective from which we approach one of globalisation’s most inherent challenges: How to interpret the undeniable reality of global inequality which, since Marx, economists have modelled into the euphemistic concept of “uneven development”. For is it not this radical “unevenness” that accounts for the vast stream of global migration towards the “West”?
In dealing with this question, scholars have taken up positions on both sides of the issue. Dependency theorists constitute one camp which argues

not so much for a rational or planned disparity of wealth growing out of colonialism […] as for a logic within capitalism that wishes to block development in specified areas of the world. […] One region, rather than another, is permanently subject to robbery, rapacious investment, and structurally unequal terms of trade. These regions, as a direct legacy of colonialism, are ruled by a lumpen bourgeoisie, a comprador class that makes its living in the interstices of multinational capital, cutting lucrative deals for its inner circles while ignoring development as such. [2]

Opposed to this point view are those who consider globalisation a force so revolutionary that it will eventually succeed the present-day political order and replace the nation-state. Departing from the idea that capital currently already flows “nationlessly”, “acting on behalf of its own interests and profits rather than those of a given state and for that reason […] becoming harder to define or oppose than its predecessor” [3], Michael Hardt and Antonio Negri’s Empire in fact insists that “[n]othing can be outside the global flows of capital and Empire.” [4] Consequently, if there is no possibility of being ‘outside of Empire’, everyone/thing can only be inside, i.e. one, unified. According to Hardt and Negri’s prophecy, then, globalisation is to be reckoned with as a force so irresistible that it will eventually level all differences, reproducing nothing else except itself.
Holding up theory to past practice, the “West” seems to have favoured the former model, supporting an “uneven” globalisation process with its ceaselessly double-tongued declarations: We officially advocate democracy, but secretly “engineer” soon-to-be liberal governments [5]; officially advertise policies of free trade abroad (as did the American Ambassador in the opening session of our forum, when he pleaded for countries such as China and India to broaden access to their markets) while reinforcing a protectionist hand in the “West” [6]; insist on cultural autonomy but then attempt to influence “developing countries” through mechanisms of “soft power” [7].
Keeping these “concomitant effects” of “globalisation” in mind, opinions such as those voiced by Tom Friedman, Foreign Affairs columnist at The New York Times, seem only too cynical:

I always say, in this globalization system there is just one road; […] and it’s the road, I believe, of free markets, of liberalized markets, and liberalized politics. But there are many speeds […]. There’s one road, and there’s many speeds. But promise me you just won’t do one thing – not go down the road at all. If you do that, I promise you, you’ll bring nothing but ruin and devastation to your people. [8]

According to Friedman’s perception of globalisation, History – and I deliberately spell it with a capital H – is already inevitably and unalterably laid out before us; all we have to do is follow the road globalisation has finely paved out. What is intriguing about his point of view is that it preaches economic assimilation while in the same instant it unconsciously implies the idea of cultural assimilation: One road, no intersections, no side streets. One of the ultimate, but of course unintended mirrors of these calls are global development rankings such as the Bertelsmann Transformation Index (BTI) which “measure” the “development” and “transformation” of non-“western” nations according to “western” criteria. [9]
It remains, of course, easier to critique the current wave of development than to offer valid analyses and starting-points that will motivate and enable an active reshaping of configurations. So, what have I to add to the plea that “[g]lobalization, to benefit everyone, must shed the idea that its purpose is to mold weaker countries’ cultures in the image of stronger ones” [10]? In order to formulate my thesis, let me return to the paper’s title – Postcolonial Immigration – Shaping the “Western World”?. I intend to make aware of two separate sets of questions here: 1) The forum’s title Immigration – Shaping the Western World leaves open who is currently shaping, or about to shape, the Western World. Is it us? Or is it the continuously growing flow of immigrants? Are we still in control, still in “power”, or are we about to be “overpowered”? These puns, superficial as they may be, serve well to reveal the struggle involved in current debates on immigration in Europe and the United States: namely, that we are not prepared – in the double sense of the word – to open up to those “others” who will in the future continue to arrive knocking at our door. 2) At the same time, while acknowledging “western” socienties’ reluctance to open up, I refer to global immigration as “postcolonial”. I wish to take a (what some would call moral) stand on the topic by contextualising current migration trends within and as a consequence of the history of colonialism. Despite the formal collapse of European empires, or even: because of the formal collapse of European empires, do we not have the undeferrable duty, responsibility and engagement to invite to participate in the wealth we have been able to enjoy those to whom we have neglected this very wealth? Are we, as “globalised” nations, at the same time entitled to limit the distribution of wealth while profiting from its disparate production?
Seeing that I am already proposing radical and messianic measures: Why not begin by aspiring to transform the global social sphere into a truly democratic space – with roads to follow, surely, but also rules to safeguard that no-one is harmed. As Hugh Silverman puts it – and please forgive me for quoting him in the German translation: „[R]echte Freundschaften legen die Räume fest, in denen die einzige Art, Freunde zu sein, diejenige ist, nur Freunde zu sein, Freundschaften, in denen die Differenzen zwischen Personen in Freundschaft eine Sa-che von Gerechtigkeit sind.” [11]



[1] Compare, for instance, http://yaleglobal.yale.edu/display.article?id=4790 and http://yaleglobal.yale.edu/display.article?id=7392.
[2] Timothy Brennan, “The Image-Function of the Periphery”, in: Ania Loomba et. al. (eds.), Postcolonial Studies and Beyond, Duke University Press (Durham, London) 2005, pp. 101-122, here p. 109.
[3] Vilashini Cooppan, “The Ruins of Empire: The National and Global Politics of America’s Return to Rome”, in: Postcolonial Studies and Beyond, pp. 80-100, here p. 85.
[4] Michael Hardt and Antonio Negri, Empire, Harvard University Press 2001, p. 43. For introductory reading consider the London Review of Books: Michael Bull, “You can't build a new society with a Stanley knife”, October 4th, 2001, http://www.lrb.co.uk/v23/n19/bull01_.html.
[5] “If you believe the White House, Iraq’s future government is being designed in Iraq. If you believe the Iraqi people, it is being designed at the White House. Technically, neither is true: Iraq’s future government is being engineered in an anonymous research park in suburban North Carolina.” Naomi Klein, “Hold Bush to His Lie”, posted February 6th, 2004, on www.nologo.org. Similar degrees of western “influence” are obvious, for instance, in Sudan and Tschad.
[6] “[O]ur aid policies are not coherent with the rest of the [foreign] policy agenda. In regard to trade and aid we give out with one hand, and we take back with the other. The agricultural policies prevent access for poor farmers to our markets. But even more problematic is, of course, that export subsidies for the surplus food produced by European farmers are being flooded into the markets of the poor.” Anders Wijkman, “Rethink Development cooperation”, address at the meeting of the Eko-social Forum in Vienna, October 15th, 2004, www.globalmarshallplan.org. Wijkman is a member of the European Parliament. See also José Antonio Ocampo, “Globalization, Development and Democracy”, in: Items and Issues, Vol. 5, No. 3, Social Science Research Council, 2005, pp. 11-20, here p. 11: “[V]arious goods of special interest to the developing countries are subject to the highest levels of protection, and in the case of agriculture, to subsidies in the industrialized countries.”
[7] “In recent years, a number of American thinkers, led by Joseph S. Nye Jr. of Harvard, have argued that the United States should rely more on what he calls its ‘soft power’ — the […] appeal of its ideas, its culture and its way of life — and so rely less on the ‘hard power’ of its stealth bombers and aircraft carriers.” Josef Joffe, “The Perils of Soft Power”, in: The New York Times, May 14th, 2006, http://www.nytimes.com/2006/05/14/magazine/14wwln_lede.html.
[8] “Terrorism May Have Put Sand in its Gears, but Globalization Won’t Stop.” Tom Friedman, interviewed by Nayan Chanda, YaleGlobal, February 3rd, 2003, http://yaleglobal.yale.edu/display.article?id=870.
[9] http://www.bertelsmann-transformation-index.de/11.0.html?&L=1.
[10] “Globalization and Culture”, Address by Queen Noor of Jordan at the 50th Anniversary Symposium of The Aspen Institute, August 22, 2000 – Aspen, CO, http://yaleglobal.yale.edu/about/academicpapers.jsp.
[11] Hugh J. Silverman, “Rechte Freunde: Die Ethik der (postmodernen) Beziehungen”, in: Erik M. Vogt et. al. (eds.), Derrida und die Politiken der Freundschaft, translated and with an introduction by Erik M. Vogt, Turia + Kant (Vienna) 2003, pp. 19-42, here: p. 21.