Fallstricke der Postmoderne

Rückblickend wirkt das, was ich "damals" als den groben Entwurf für diesen Blog vorgestellt habe, mehr als unbeholfen. Zeit also für eine ausführlichere Ausarbeitung. Gründe dafür gibt es genug - vornehmlich meine Magisterarbeit, die sich mit dem Thema auseinandersetzen soll. Den entscheidenen Impuls für das "Jetzt!" aber haben zugleich Claudias „Nachtrag“ als auch der hochgeschätzte Gregor Keuschnig mit seinen beiden Begleitschreiben zu Jerzy Jedlicki gegeben. Aus Die entartete Welt zitiert Keuschnig den folgenden Abschnitt über "[d]ie Intellektuellen als europäische Spezies":

„Der Grundzug der neuen Zeit ist nicht die Festigkeit der Überzeugungen – davon hatten wir immer mehr als genug -, sondern im Gegenteil eine Ungewissheit, die selbst jene Denker nicht verschont, die mit dem Absoluten auf vertrautem Fuss stehen, die aber wissen, dass heilige Gebote nur sehr verschwommene Hinweis geben, wie man in konfliktträchtigen und unübersichtlichen Situationen zu urteilen und zu handeln habe. Die Ethik der Erkenntnis heisst uns grösseren Respekt vor ehrlich eingestandenen Zweifeln als vor unzureichend begründeten Überzeugungen zu haben. So kann der Respekt vor der Wahrheit paradoxerweise zu einer Schwächung unserer moralischen Entschlossenheit im handeln führen.“

Das erinnert mich doch stark an Odo Marquard: „Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die Überzeugungen sind. Skeptiker ist nicht der, der - als Inhaber geballter Ratlosigkeit – gar keine Position hat sondern zu viele.“

Grundsätzlich: Die Postmoderne hat Recht mit ihrer aufmerksamen Verfolgung der so vertrakten Weltverhältnisse. Alles vielschichtig, alles hybrid, alles ständig im Fluss. Alles richtig, aber alles sehr privilegiert. „Die philosophische Demontage des Subjektbegriffs mag den berechtigten Zweifel spiegeln, ob in einer zunehmend vermittelten Welt die Verhältnisse ein Handeln im Sinne übersichtlicher Kausalketten überhaupt zulassen, ob die/der Einzelne frei ist, die Ziele seines Handelns in eigener Machtvollkommenheit zu bestimmen, und ob sie/er die eigene Position am Kopf der Kausalkette genießen kann. Im Generellen, außerhalb der Philosophie, denke ich, haben wir nicht die Wahl“, schreibt Hartmut Winkler. Und so belassen die postmodernen Denker Unrecht bei Unrecht, weil sie nichts für eindeutig erkennbar halten. Ihre zunehmende Selbstlähmung ist damit die endgültige Verzerrung ihres vielleicht ursprünglichen Anliegens: Emanzipation, Befreiung aus ungerechten und ungerechtfertigten Machtverhältnissen, ideologiefreie Selbstverortung und -bestimmung.

Die Quelle dieser Selbstlähmung? Ich will zur Beantwortung die Provokation wagen, die Anliegen von Postmoderne und Aufklärung gleichzusetzen. Die wohlbekannten Worte Kants:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Foucaults Interpretation derselben: „[...] the way Kant poses the question of Aufklärung is entirely different: it is neither a world era to which one belongs, nor an event whose signs are perceived, nor the dawning of an accomplishment. Kant defines Aufklärung in an almost entirely negative way, as an Ausgang, an 'exit', a 'way out.' In his other texts on history, Kant occasionally raises questions of origin or defines the internal teleology of a historical process. In the text on Aufklärung, he deals with the question of contemporary reality alone. He is not seeking to understand the present on the basis of a totality or of a future achievement. He is looking for a difference: What difference does today introduce with respect to yesterday?“

Verfolgt man diese Frage radikal, um mit ihr nicht nur die Basis unseres Bewusstseins, unserer Vernunft, sondern vielmehr noch: unseres Wissens in Frage zu stellen, kann das Projekt der Aufklärung das Versprechen seines Wortsinns niemals einlösen. Die Frage nach der Differenz wird zum Grund für die Diffärenz der Beantwortung, oder anders: Die verlangte Aufmerksamkeit für die Differenz des „Heute“ in Abgrenzung zu seinem „Gestern“ macht eine endgültige Aufklärung unabschließbar. Aufklärung klärt die Vertraktheit der Welt nicht auf, sondern verdichtet sie im Gegenteil bis in die individuellsten, subjektivsten Lebenswelten hinein.

Allerdings: Sie enttarnt sich dabei selbst als eine der zentralen europäischen „großen Erzählungen“ (Lyotard). Bei aller bereits von Beginn an formulierten Kritik ist es allerdings erst die Selbsterfahrung des Zweiten Weltkriegs, der Aufklärung und Moderne zerbricht und ihren Selbstbetrug aufdeckt. „Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal“, lautet Theodor Adornos und Max Horkheimers Variante dieser These, die sie in ihrer Dialektik der Aufklärung 1947 formulieren: „[...] der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Welt gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. [...] Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden. [...] Als Sein und Geschehen wird [...] vorweg nur anerkannt, was duch Einheit sich erfassen lässt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt. [...] Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen.“ Daher ihre deutliche Schlussfolgerung: „Aufklärung ist totalitär“ (S. 10-13).

Auf die Nuancen, die Adorno und Horkheimer vor ihrem unmittelbaren Erfahrungshintergrund überschreiben, verweist später Henri Lefebvre in seiner Einführung in die Modernität: 12 Präludien (1978). Er thematisiert nicht allein die „Entzauberung der Welt“ (Weber), sondern die allmähliche Entfernung vom Universellen und die folgliche Hinwendung zum Speziellen, den Perspektivwechsel vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen. „Überall entdeckt man [...] distinkte Einheiten: Atome, Partikel, Gene, Elemente der Sprache, Phoneme, Morpheme, usw.“ Mit diesen „neuen Termini“ habe man gleichzeitig auch „[...] die Probleme der Stabilität der Gesamtheiten, der Strukturen, Typen, der provisorischen oder dauerhaften Gleichgewichte thematisiert“ (S. 211).

Die postmoderne Zersplitterung ist also als Vorzeichen in den modernen „Probleme[n] der Stabilität der Gesamtheiten“ bereits angelegt. Aber nochmals: Es ist erst die katastrophale Destabilisierung des Zweiten Weltkriegs, die ihre allmähliche Ausformulierung provoziert - in der Einsicht, dass „[d]as Elend der großen Erzählungen herkömmlicher Machart [...] keineswegs darin [liegt], daß sie zu groß, sondern [...] nicht groß genug waren“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2006, S. 14). Die Postmoderne darf sich damit als Aufklärung der Aufklärung verstehen: Sie lehnt den Rückgriff auf transzendentale Wahrheiten und Teleologien ab; „einfache Erklärungen“ sind ihren Denkern ein Unding; man argumentiert fortan aus dem Eingeständnis eingeschränkter Perspektiven, mit Gegensätzen, Widersprüchen, Antinomien, oszillierenden Mehrdeutigkeiten.

Jedoch: So grundsätzlich ihre Ansätze, so radikal offenbar die aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen. Das Fazit Zygmunt Baumans: „The postmodern perspective offers more wisdom; the postmodern setting makes acting on that wisdom more difficult. [...] The postmodern mind is aware that each local, specialized and focused treatment, effective or not when measured by its ostensive target, spoils as much as, if not more than, it repairs. [...] The means to act collectively and globally, as the global and collective welfare would demand, have been all but discredited, dismantled or lost“ (Bauman, Postmodern Ethics, S. 245). Man dreht sich im Kreis, wie die hilflose Kapitelüberschrift der zitierten Passage bekräftigt: „In the end is the beginning“.

Wie bei Bauman, so auch hier zurück zum Anfang: zu Jedlicki. „Daher wird die Herausbildung eines neuen Typus des Intellektuellen – sensibel gegenüber Leiden und Unrecht, bereit zum Protest gegen Verfolgungen und Ungerechtigkeit, dabei aber Individualist und Skeptiker, der niemals als Apostel der Einen Wahrheit auf die Fähigkeit zum kritischen Denken und Zweifeln verzichtet – ganz gewiss ein schwieriger Wandlungsprozess, der unter dem Beschuss der Anwälte diverser heiliger Werte verlaufen wird. Sie werden dieser Haltung moralischen Relativismus vorwerfen und nachzuweisen versuchen, wie nutzlos solche Weicheier seien, die sich auf Vorbehalte und Zweifel, auf all diese verschiedenen „Aber“ spezialisiert hätten, wo die Menschen doch vor allem des Gefühls eines kollektiven Sinnes bedürften – und dessen Quellen könnten allein Glaube und Tradition sein.“

Die weniger verkopfte Variante dieser Zeilen formuliert Claudia – und sie trifft den Kern meines Anliegens: „Um nicht in der Verstörung der [postmodernen] Selbstlähmung zu verfallen“, schreibt sie, „ist es hilfreich, sich zu erinnern, dass der Impuls zum Handeln allermeist nicht aus der Analyse und Beschreibung von Welt entsteht, sondern aus der existenziellen Konfrontation mit ihr.“Ihre Beobachtung deckt sich mit der Aufforderung Jedlickis, die eigenen Denkhorizonte zu erweitern, weiter zu streuen, sie gegebenenfalls auch zu verlassen, um sie in konkretere Arbeitshorizonte münden zu lassen. Damit unterschreibe ich noch keinen ideologischen Marxismus, der die grundsätzliche Vereinigung von Kopf- und Handarbeit anstrebt. Stattdessen werbe ich immer wieder für einen Schritt in die BWL (z.B. mit Sumantra Ghoshals Aufsatz "Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices") oder in die Jura (Mark Wu, "Free Trade and the Protection of Public Morals: An Analysis of the Newly Emerging Public Morals Clause Doctrine"). Es gilt, unsere kritischen, aber unbewegenden Gedankenexperimente auf radikale, aber nicht aggressive Weise in andere Felder, in andere Diskurse zu übertragen, von "geistigen" in "technische" Bereiche vorzudringen; man setzt sich ansonsten zu offen dem Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Stand der Dinge aus. Die Ansätze sind bereits gemacht worden – ich habe sie im vorangehenden Satz verlinkt: Wir müssen sie nur auflesen.

Anonym hat gesagt… said:

23. August 2008 um 21:03  

Das Zitat (Claudia) finde ich sehr schön, d.h. treffend.

Die beschriebene Lähmung bzw. Handlungsunfähigkeit kenne ich (leider) nur allzu gut. Ich glaube aber, dass das noch nicht unbedingt etwas mit der Postmoderne zu tun hat, sondern sich aus zwei Sacherhalten ergibt:

a) Wir leben im Informationszeitalter, und müssen in einem Überangebot von Information Belangloses von Relevantem trennen.

b) Je mehr uns interessiert und desto allgemeiner der Blickwinkel sein soll, desto schneller ist man überfordert, weil man ja mehr Information verarbeiten muss.

Irgendwann ergeben sich dann die beschriebenen Phänomene ganz von selbst. Erst die Schlüsse die aus dem Informationsdschungel - der Unübersichtlichkeit der Welt - gezogen werden sind postmodern zu nennen. Oder eben nicht.

Willyam hat gesagt… said:

25. August 2008 um 13:20  

Ohne Fragen stimmen Deine beiden Einschätzungen - aber ich würde die Verwirrung, die Du beschreibst, eher einem Phänomen wie der Digitalen Demenz zurechnen. Die Postmoderne betont ja weniger (oder besser: kaum) die überfallartige Zunahme von Information, sondern vergegenwärtig Dir und mir immer wieder, wie schwammig Bedeutungen, Interpretationen, Botschaften sind. Definitiv muss in meine Denke also Deinen Hinweis aufnehmen. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, unterstreiche ich aber: Es geht nicht allein um die Masse, die "bildliche" Flut von Information, von der inzwischen zu sprechen gelernt haben und in der wir uns erst zu orientieren lernen müssen, sondern auch um die "Qualität", die inhärenten Einschränkungen und unentzifferbaren Kodierungen einer jeden "Information". Die reine Perspektivenflut kannst Du unter Umständen navigieren. Bedeutungen aber bauen sich aus mehr als Bits und Bytes auf; sie sind nicht annähernd monadisch. Das ist das Gefühl, das ich zu beschreiben versucht habe: dass Du nach einem "Informationsbyte" greifst, es sich aber hundertfach drehen, wenden und kontextualisieren lässt ...

Metepsilonema hat gesagt… said:

25. August 2008 um 22:40  

Ich bin mir nicht sicher (aber wann bin ich das schon).

In unserem Verständnis von Postmoderne stimmen wir überein. Mit Bauman: Die Welt ist grundsätzlich ambivalent, Eindeutigkeit ist unmöglich. Alles ist schwammig etc. Es geht aber nicht ausschließlich um Sprache, wenn ich Bauman richtig im Kopf habe.

Und Du hast recht, die bloße Flut von Bildern und Information ist nicht entscheidend.

Aber hätte - rein theoretisch - ein Gelehrter des 18. Jahrhunderts auf diese postmodernen Ideen kommen können? Ich glaube nein, da seine Lebensweltlichkeit das gar nicht zugelassen hätte. Er hätte vielleicht sprachliche Ambivalenz eingestanden, aber mehr?

Ist das immer neu kontextualisierbare Informationsbyte nicht unserer medial konstituierten Welt homolog? Ist es (das Byte) nicht deshalb so realistisch, weil uns der russisch-georgische Konflikt auch nur als ein Sammelsurium verschiedenster (medialer) Perspektiven zugänglich ist? Genauso dreh- und wendbar? Lebten wir in einer Welt die allen eindeutig erschiene, gäbe es keine postmodernen Gedanken. Oder doch?

Willyam hat gesagt… said:

26. August 2008 um 09:41  

Nein, natürlich geht es Bauman nicht nur um Sprache. "Die Welt ist weder Sprach noch Spiel", erklärte mir mal einer meiner Dozenten. Es geht um gerechteres Handeln, dem - wie anders? - gerechteres Denken vorangehen muss. Postmodern waren weder die 68er, noch sind's die Grünen: sie handeln. (Vielleicht, weil sie tatsächlich den Kompromiss zwischen Theorie und Praxis wagen und realistischer zu den unerreichbaren Idealen postmoderner stehen?)

Grundsätzlich aber denke ich, Informationszeitalter und Postmoderne fallen auf unseren Zeitachsen zusammen, verstärken sich gegenseitig - ohne dass das eine Vorbedingung oder ursprüngliche Verknüpfungen mit dem anderen gehabt hätte. Ich habe postmoderne Diskurse vor allem als ethische Diskurse kennengelernt - vielleicht, weil Postkoloniale Studien und Postmoderne Theorien so eng miteinander verschlungen sind. Es geht um das Aufspüren von Machtzentren; das Ausleuchten von Widersprüchen, die im alltäglichen Verständnis so getarnt sind, dass sie unerkannt bleiben; das Ausrenken von Zentrismen, die das verhindern, von dem wir (vielleicht zu selbstverständlich) zu reden gelernt haben: von Freiheiten und Freiräumen, von Alternativen, die nicht anders, sondern selbstverständlich sein müssen - auch wenn sie mir unverständlich, verschlossen bleiben (z.B. hier). Das Ende der Universalismen, kurz gefasst.

Das WWW und unserere Reaktionen darauf verstärken die Unsicherheiten, die diese Versuche, unser Denken zu verschieben, mit sich bringen - weil sie "hier", in der "hochindustrialisierten Welt", jeden belangen können: Jeder hat den Luxus des Freiraums, sofern er sich einlassen möchte, sich verunsichern zu lassen.

Ob daher ein Gelehrter des 18. Jhdts. postmodern gedacht hat, hätte denken können? Vermutlich schon, aber nicht mit der Konsequenz. Ich wage die These aufzustellen, dass die Postmoderne ohne den Ersten und Zweiten Weltkrieg, ohne Kolonialismus und Imperialismus nicht so konsequent hätten gedacht werden "müssen": Viele Gedankenimpulse stammen ja aus inzwischen ehemals kolonisierten Gebieten, von Intellektuellen, die vor Erfahrung der Kolonalisierung, aus dem britischen oder französischen Bildungssystem der großen Empires heraus geschrieben haben ...

Anonym hat gesagt… said:

27. August 2008 um 18:55  

Ich glaube, dass zumindest einzelne politische Konzepte postmodern sind. So z.B. die Idee der mulitkulturellen Gesellschaft, die ja u.a. von den Grünen vertreten wird. Zugegebener Maßen ist oft nicht ganz klar was mit dem Schlagwort genau gemeint ist, aber wenn man darunter eine Gesellschaft ohne Grundlage zu der sich alle bekennen müssen (es gibt keinen "Zwang" zu einem "Verfassungspatriotismus", und folglich keine gemeinsamen Werte) versteht, kommt das postmodernen Ideen doch zumindest sehr nahe ("alles ist gleichwertig", "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen").

Ob gerechtem Handeln immer gerechtes Denken vorausgehen muss, wage ich zu bezweifeln, denn Handlungen aus Mitleid, oder Liebe, brauchen keine gedachten Ideale, o.ä. - im allgemeinen ist es aber sicher richtig.

Sonst weitgehende Übereinstimmung; ich glaube aber, dass die Metaphysik- und Universalismuskritik bereits vor der Postmoderne einsetzte (z.B. Camus), wenn gleich sie diese sicher auf die Spitze getrieben hat.

Und ja: Ohne den Verlauf den das vergangene Jahrhundert in seiner ersten Hälfte genommen hat, und ohne den Kolonialismus wäre manches anders gedacht (und natürlich nicht nur das) worden.

Willyam hat gesagt… said:

30. August 2008 um 23:15  

Mein Problem mit postmodernen Gedanken ist inzwischen - und das hat mich zu diesem Blog angetrieben - dass viel von dem Gedachten schlicht und ergreifend nicht lebbar ist. Einer der ersten Posts, und später dieser, haben das einigermaßen auf den Punkt gebracht.

Deinem gewagten Widerspruch möchte ich indes wiederum widersprechen. Wie sehr Denken meinem Handeln vorausgeht (mittelfristig überschneiden sie sich natürlich gegenseitig), zeigt folgendes Beispiel: "Meinem" Nächsten bin ich in der Regel ohnehin gerecht, aus dem einfachen Grunde, dass er oder sie mir wichtig ist - genau daher ist sie oder er ja mein/e "Nächste/r". Was also wird aus dem räumlich Nächsten, den ich nicht erreiche, den ich nicht wahrnehme oder übersehe?

Anonym hat gesagt… said:

5. September 2008 um 20:39  

Ich hätte nicht erwartet, dass sich aus den postmodernen Konzepten etwas Praktisches, ja Lebbares ableiten lässt, einfach weil dort, wo alles vieldeutig ist, sich im Grunde gar keine Handlungsmaximen entwickeln lassen.

Für den räumlich nicht anwesenden Nächsten brauchen wir natürlich gerechtes Denken, das wollte ich gar nicht bestreiten.

Im Grunde gibt es, fürchte ich, für unser Problem keine Lösung, zumindest was unser Wirken in dieser Welt betrifft. Ich behaupte folgendes: Wer sich nicht aus dieser Welt zurückzieht (als weltfremder Einsiedler, der sich nur von Früchten ernährt und in einer Höhle haust), der verursacht notwendiger Weise Leid. Wir können versuchen das Leid auf ein Maß zu reduzieren, das wir für berechtigt und erträglich halten, aber nicht mehr. Überlegen wir uns doch: Jeder Gegenstand den wir verwenden zieht einen Rattenschwanz an Problemen, Ursachen und Wirkungen nach sich, sei es der Computer auf dem ich gerade schreibe, die Waschmaschine, das Auto, oder sonst etwas. Wir können versuchen unser Handeln so gut wie möglich an der Verminderung von Leid zu orientieren, aber mehr nicht. Und je mehr wir tun, desto mehr Dinge wir bewegen, desto schwerer überschauen wir dessen Ursachen und Wirkungen.

Nein, kein Aufruf zur Mutlosigkeit, aber vielleicht einer zu realistischen Idealen. Man kann nicht zu allen gerecht sein, man muss darüber nicht verzweifeln, und wahrscheinlich reicht es, wenn jeder ein (sein) "Betätigungsfeld" wählt.

Willyam hat gesagt… said:

17. September 2008 um 13:00  

Gegen die Aufforderung, dass sich jeder "sein" Betätigungsfeld sucht, habe ich nicht im Geringsten etwas einzuwenden. Mein Problem beginnt erst an der Stelle, an der ich feststelle, dass sich Anspruch und Wirklichkeit nicht mehr decken: Ich studiere meine postkolonialen, postmodern angehauchten Theorien - und stelle im Gespräch mit Akademikern, auf Konferenzen fest, mit welchem Maß an Selbstgefälligkeit man sich zu einer Avantgarde zählt, die im Kern aber keine politische Arbeit mehr leistet - weil sie eben Akademiker und keine öffentlichen Intellektuellen mehr sind. Natürlich: waren sie's je? Meine Vorbilder schon: Max Weber, Edward Said, Jacques Derrida, Michel Foucault. Daher beispielsweise meine Überlegungen zum "Feldwechsel".

Vor ihrem Hintergrund kann ich Deinem Ruf zum Rückzug aus der verflochtenen Welt nicht ganz folgen. Kommunitarismus mag eine feine Idee sein - jedoch allein für die, die sich ihn leisten können - siehe beispielsweise die ganze Bio-Bewegung um ökologisch produzierte Lebensmittel. Statt nach den sieben oder acht in Deutschland gängigen Bio-Labels Ausschau zu halten, wäre es "ethisch korrekter", mehr Produkte aus afrikanischen Landwirtschaften zu kaufen. DAFÜR wiederum setzt sich öffentlich keiner ein. Statt Rückzug aus den Ungerechtigkeiten also eher meine Forderung zur Aufklärung, die immer Selbstaufkärung, d.h.: selbst vorgenommene Aufklärung ist - Aufklärung von Ungerechtigkeiten und etablierten Vorteilsstrukturen also. Wenn Du, als weiteres Beispiel, das Auto erwähnst: Ich bin davon überzeugt, dass die Automobilhersteller schon längst, aber wirklich LÄNGST, sichere Antriebstechniken auf Wasserstoffbasis hätten entwerfen können, wäre der "ökologische Druck" spürbar genug gewesen.

Anonym hat gesagt… said:

21. September 2008 um 22:42  

Dein Problem erinnert mich ein wenig an den Ethiker der eine Ethik entwickelt und vergisst sie zu leben, oder an den guten, aber vollkommen realitätsfernen Wissenschaftler.

Das liegt teilweise am Akademismus selbst: Man redet gerne, viel, und klug, aber die Umsetzung lässt auf sich warten. Der sich an die Öffentlichkeit wendende Intellektuelle ist doch eher die Ausnahme, denn die Regel, oder?

Zum Teil liegt das auch an einem Spagat, den man bewältigen will: Erfolg im eigenen Bereich ist schwer genug, und kostet immens viel Zeit und Mühe. Nicht jeder schafft es das Allgemeine mit dem Speziellen in dem Sinne zu versöhnen, dass er sich um beides kümmern kann. Natürlich, nicht jeder will das (Richtig: wer den Anspruch vertritt, sollte es dennoch tun, oder zumindest versuchen).

Ich habe mir einmal selbst überlegt was ich denn täte, müsste ich mich für das Allgemeine oder das Spezielle entscheiden. Nicht einfach.

***

Ich wollte zu nichts aufrufen, ich meinte nur, dass unsere einzige Hoffnung das Minimieren, aber niemals das Ausschalten von "Leid" sein kann (Die Anführungszeichen, weil ich Leid hier allgemeiner verstehe als sonst üblich).

Vollste Zustimmung was die Selbstaufklärung betrifft.

Das Wasserstoffauto hat schon massive Probleme, aber es gibt ja andere Alternativen. Klar, wenn wir vor lauter Abgasen nicht mehr die Hand vor den Augen sähen, dann summten vielleicht Elektroautos durch die Gegend. Aber es ist menschlich sich eher um das Naheliegendere zu kümmern - wenn auch nicht klug.

Willyam hat gesagt… said:

30. September 2008 um 21:46  

Zwischen dem Allgemeinen und dem Speziellen glaube ich mich nicht entscheiden zu müssen. Eher sehe ich mich vor dem Dilemma, auf das Du sehr passend anspielst: Ich bin der Ethiker, der seine Ethik vermitteln möchte, deren Umsetzung die derzeitigen Konstellationen allerdings unmöglich machen, weil jene Konstellationen einfach zu vertrakt und undurchsichtig geworden sind. Wie geht er vor? Zieht er sich zurück? Setzt er alles darauf, gehört zu werden? Sollte er sich und seine Forderungen mäßigen, um eher gehört zu werden? Während ich sehr gern zugebe, dass an der Uni vieles mit viel zu viel Kopf und zu wenig Herz oder Erfahrung diskutiert wird, sind eben immer wieder die konservativen Reaktionen erstaunlich, die man erntet, wenn man a) gewisse Erfahrungen persönlich gemacht hat und b) aus ihnen die Ohnmacht der Akademie aufzeigt. Was für mich im Kern deshalb so absurd ist, weil sich Postcolonial Studies als so durch und durch politisch verstehen und geben. Die Position, die ich daher in der Sache angenommen habe, mag sie auch zynisch und überheblich sein: Ja, in der Akademie wird zu viel gedacht und zu wenig gehandelt; außerhalb der Uni aber wird zu viel gehandelt, ohne zuvor das Handeln und seine Konsequenzen zu bedenken ...

Macht's Sinn?

Anonym hat gesagt… said:

26. Oktober 2008 um 21:49  

Tut mir leid, wenn ich so unregelmäßig kommentiere, das ist eine Unsitte, die bei mir leider immer wieder einreißt. Das hat nichts mit der Diskussion zu tun, die ich als sehr gewinnbringend ansehe.

Ja, ich glaube es macht Sinn.

Zum Allgemeinen und Speziellen: Ich sehe hier schon einen Konflikt, und zwar einen zeitlichen. Will ich einen allgemeinen Blickwinkel bewahren, dann kann ich mich nicht mit allen Details beschäftigen, wobei die aber oft entscheidend sind. Ich kann nicht alle Informationen in meine Überlegungen einbauen, muss also mit einem Mangel leben, wobei den Mangel beheben auf Lasten des allgemeinen Blickwinkels geht. Zudem erfordern etliche Berufe Zeit (Karriere bzw. Erfolg) und zusätzliche Spezialisierung (meist das Gebiet in dem man zu Hause ist). Ich sehe - da ich kein Genie bin - nur eine Möglichkeit, nämlich eine der beiden auf Kosten der jeweils anderen zu betreiben.

Zur Vertracktheit, und Undurchsichtigkeit: Hier kann ich den postmodernen Blickwinkel nur bedingt verstehen (aber vielleicht irre ich mich). Durch die von Dir beschriebene Machtkritik nimmt man sich doch selbst das Heft aus der Hand (ich verstehe Macht als Möglichkeit Dinge zu verändern). Was sollte der Ethiker also tun? Handeln, ja (sonst ist seine Ethik wertlos bzw. unglaubwürdig). Dazu muss er Macht ausüben, also Gewalt anwenden (in dem weiter oben angeführten Sinn, dass der völlige Gewaltverzicht Handlungsverlust bedeutet) und er wird dafür eine Rechtfertigung zur Hand haben, eine Argumentation. Ich glaube, dieser Schritt ist auch in Ordnung (bei mir scheitert es irgendwie immer an der Umlegung zum Handeln - naja vielleicht nicht ausschließlich). Alles andere ist eine Frage pragmatischen Abwägens: Will man gehört werden, und kann man die wesentlichen Ziele umsetzen, darf das mit gewissen (theoretischen) Inkonsequenzen einhergehen (in der Hoffnung erfolgreich zu sein bzw. auch im Hinblick auf drängende Probleme). Natürlich hat das Grenzen.

Sonst stimme ich Deinen Schlüssen zu (außerhalb und innerhalb der akademischen Wände).