"Die Wissenschaft als geistige Macht ist skeptisch und wirkt etwas destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt, während sie als technische Macht genau die entgegensetzten Eigenschaften besitzt. Die technischen Entwicklungen, die den Naturwissenschaften zu verdanken sind, erhöhten Größe und Wirkungsbereich der Organisationsformen und vermehrten insbesondere die Macht der Regierungen."
Bertrand Russells Unterscheidung der Wissenschaften zwischen geistigem und technischem Lager, die ich im vorangegangenen Post aufgegriffen habe, verdient ausführlichere Erklärung; sie ist tiefgründiger, als sie beim ersten Lesen glauben lassen will. So monolithisch die Kategorien zunächst wirken mögen, so verweigern sie doch einer vorschnellen Antwort auf die Frage, welche Wissenschaften denn nun "geistigen", welche "technischen" Einschlags sind. Die Zweiteilung erlaubt nämlich keine grobschlächtige Tabellarisierung nach Forschungsgegenständen; sie ist keine umformulierte Neuauflage der klassischen Grenzziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften; sie beharrt nicht auf eine strikte Trennung von "erklärender" und "verstehender" Methode, wie sie sich offenbar in der Nachfolge Diltheys in den Köpfen und Statuten akademischer Institutionen festgeschrieben hat. Die Unterscheidung ist auch nicht per se in der erkenntnistheoretischen "Wertigkeit" der einen oder anderen Wissenschaft verankert; sie bedeutet keine durchgängige Hierarchisierung; keinen noch so allgemein gehaltenen "Qualitätsunterschied" der Forschungsergebnisse. Das für Russell entscheidende Kriterium scheint das inzwischen allgegenwärtige Schlagwort der Anwendbarkeit zu sein: Den technischen Wissenschaften ist an der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung gelegen, den geistigen Wissenschaften aber gerade an der Infragestellung des status quo. Ausschlaggebend ist daher, ob sich Wissen in bestehende, übergeordnete, dominante Diskurse einordnen lässt. Oder vermehren die gewonnenen Erkenntnisse im Gegenteil die Skepsis? Wirken sie in Russells Worten "destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt"?
Damit spürt man einer spannungsvoll geladenenen Dynamik nach, die einen durchdringenden Blick auf die Funktion der Wissenschaften wirft. Dem "technischen" Lager wäre demnach, wie bereits angedeutet, jedes Wissenschaftsfeld zuzurechnen, das Macht konsolidiert: heute zählte ich große Zweige der Soziologie, Ethnologie und Psychologie; die überwältigende Mehrheit der Lehre an geschichts-, politik-, wirtschafts-, rechts- und erziehungswissenschaftlichen Instituten dazu. Eben alles, was Macht in ihren bestehenden marktwirtschaftlich-liberalen Konstellationen reproduziert, ohne sie grundlegend zu destabilisieren.
"Geistige" Wissenschaften scheinen dagegen all jene Disziplinen, denen entweder an keiner grundsätzlichen Infragestellung ihrer Umwelt gelegen ist oder deren Infragestellung keine tatsächlichen Auswirkungen auf den "technischen" Ereignisablauf hat. Auch hier liegen Beispiele auf der Hand: die heutigen Philologien, Sprachwissenschaften, die Kulturwissenschaften, postmoderne Gesellschaftswissenschaften.
Der Forderung nach einer differenzierteren Beleuchtung dieser stark schematisierenden Einteilung muss selbstverständlich die ergänzende Notiz beiliegen, dass ich hier wohl eine europäische Rasterung vornehme. Dasselbe Pamphlet, dieselbe Veröffentlichung mag hier müde diskutiert werden, obwohl sie doch in zweitausend Kilometer Entfernung Entrüstungs-, Begeisterungs- oder Revolutionsstürme provoziert.
Soll der postmoderne Veränderungselan sich nicht gänzlich selbst vorführen, wäre hiermit, so scheint es mir, also eine Orientierungsbasis aufgestellt: Die postmodernen Kulturwissenschaften müssen "technischer" werden. Aufrücken zur BWL, zur Politkwissenschaft! Auf auf!
Über Wissenschaft als geistige und technische Macht
at 3.1.08 Posted under Denkschubladen: Auswege, Wissenschaftstheorie
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