Das Kreuz mit der direkten Demokratie

Habe mich in den vergangenen Tagen endlich mal einem immer wieder verschobenen Vorsatz gewidmet: Das kleine "Archiv" von Zeitungsartikeln aufzuarbeiten, das sich inzwischen auf meinem Schreibtisch angesammelt hat. Heute also zum Auftakt und mit ein zwei Lektürenotizen versehen:

Frank Decker, "Das Kreuz mit der direkten Demokratie", Die Zeit Nr.45 vom 31.10.2007, S.6.

Das Volk soll entscheiden! Klingt gut. Nur hat sich in Hamburg einmal mehr gezeigt, warum Plebiszite oft scheitern: Ihre Befürworter wollen zuviel.

So heißt es im Untertitel. Die Bürgerinnen und Bürger "wollen zuviel"? Wovon zuviel? Zuviel Demokratie? Mehr Mitsprache? Oje, das kann ja werden. Meine Frage an Herrn Decker: Mit welcher Begründung von vornherein die Klage nach dem Übermaß der Forderungen?

Aber vielleicht sollte man erst einmal klären, worum es im Oktober vergangenen Jahres abzustimmen galt:

Nun liegt das Resultat des jüngsten Volksentscheids in Hamburg vor: ein weiteres klares Votum für einen Ausbau der plebiszitären Demokratie. Mehr als drei Viertel der Abstimmenden wollten (1) in Zukunft auch über finanzwirksame Gesetze abstimmen können. Zudem wollten sie (2) die Zustimmungsquoren senken, um die Erfolgswahrscheinlichkeit von Volksbegehren zu erhöhen. (3) Und drittens sollte gewährleistet werden, dass die Ergebnisse für die Regierenden tatsächlich verbindlich wären.

Damit ist also bereits zu viel verlangt??? Mein Unverständnis, vollstens. Aber weiter:

Gerade an dem letztgenannten Punkt hatte sich die Debatte in Hamburg in den letzten Jahren entzündet. Anfang 2004 stimmten die Bürger über einen von der CDU-Regierung geplanten Verkauf der staatlichen Krankenhäuser ab, den sie mit großer Mehrheit ablehnten. Wenige Monate später votierten sie für eine weitreichende Reform des Landeswahlrechts, die mit dem Monopol der Parteien bei der Kandidatenrekrutierung Schluss gemacht hätte. In beiden Fällen ignorierte die seit 2004 mit absoluter Mehrheit regierende CDU die ihr nicht genehmen Volksbeschlüsse.

[...]

Hätten die Anhänger der Volksgesetzgebung sich durchgesetzt, wären die Konflikte aber keineswegs beendet gewesen, im Gegenteil: Konflikte zwischen Bürgern und der Parlamentsmehrheit würden dann noch häufiger vorkommen und die Konkurrenz zwischen dem plebiszitären und parlamentarischen Gesetzgeber verschärfen. Das Problem liegt im Volksgesetzgebungsmodell als solchem. Dessen Befürworter haben gewiss recht, wenn sie den heutigen Zustand der Direktdemokratie als unehrlich kritisieren. Die Bürger dürfen über fast nichts abstimmen, die Quoren sind so hoch, dass erfolgreiche Volksentscheide kaum möglich sind. Und der Mangel an Verbindlichkeit der getroffenen Beschlüsse untergräbt nicht nur die Legitimität des Instruments selbst, sondern die der gesamten Parteiendemokratie.


Wunderbar. Aber ist denn überhaupt grundsätzlich sinnvoll, fragt Decker nun, [...] den Bürgern ein so weitreichendes Demokratieversprechen zu machen?

Seine Einwände:

Ein so radikales Modell der Direktdemokratie ist in keinem anderen Land Europas verwirklicht. Selbst in der Schweiz wurde die Volksinitiative für einfache Gesetze erst kürzlich eingeführt. Dort konnten die Bürger bislang nur Verfassungsänderungen begehren.

Na, dann ist es wohl eindeutig?

Die Vereinbarkeit der Volksgesetzgebung mit dem parlamentarischen System steht von daher generell in Zweifel. Nur hat in der politischen Klasse auch unter den Skeptikern niemand den Mut, dieses Problem offen anzusprechen.

Toter kann man ein Gegenargument meiner Ansicht nach nicht formulieren. Was mich daher erstaunt, ist der pragmatische, durch und durch konstruktive Umschlag, den Decker plötzlich macht:

Dabei gäbe es durchaus Alternativen. Auch hier hilft ein Blick in die Schweiz, wo sich die Direktdemokratie vornehmlich im sogenannten »fakultativen Referendum« konzentriert. Mit diesem tritt der Bürger nicht selbst als Gesetzgeber in Aktion - vielmehr hat er die Möglichkeit, ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz einer nochmaligen Abstimmung zu unterwerfen und es gegebenenfalls abzulehnen.

Die Einführung einer solchen »Vetoinitiative« könnte die Debatte um eine plebiszitäre Erweiterung der repräsentativen Demokratie aus der Sackgasse herausholen, in die sie durch das starre Festhalten an der Volksgesetzgebung (als vermeintlich fortschrittlichster Form der Direktdemokratie) geführt worden ist. Denn mit der letzteren dürften nicht nur alle Versuche, die Plebiszite auf Bundesebene einzuführen, zum Scheitern verurteilt sein. Es werden auch die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der Volksgesetzgebung in Ländern und Kommunen weitergehen und ein ständiges Hin und Her zwischen plebiszitfreundlichen und restriktiven Reformbestrebungen auslösen.

Einen solchen Streit um einen wesentlichen Teil seiner konstitutionellen Grundlagen kann sich auf Dauer kein Gemeinwesen leisten, ohne Schaden zu nehmen. [...]


Ob man nun um "Schadensbegrenzung" oder Demokratieausbau bemüht ist - sinnvoll scheint ein Plädoyer für das Schweizer Veto allemal, oder etwa nicht?