... und Äktschn, bitte!

Die innere Aufruhr, die sich seit vorgestern nicht legen möchte, als Empörung zu vermitteln, ist und bleibt zu kurz gegriffen. Der Grundtenor der Gedanken, die mir meine Kopfordnung verwirren und die in ihrem Durcheinander nicht wörtlich festzuhalten vermag, ist vermutlich eine sehr leise Wut. Kaum hörbar, aber doch: es ist eine Wut, die nach ihrem angemessenen Ausdruck sucht. Aus Hilflosigkeit, zu der sich wohl auch Fassungslosigkeit und Entgeisterung untergemischt haben.



Dieser Imagefilm von Krauss-Maffei Wegmann ist kein Format, das sich das Recht auf Fiktion vorbehalten könnte: Krauss-Maffei Wegmann ist einer der führenden deutschen Waffenfahrzeughersteller.

Ich kann diese in sieben Minuten auf positive Clichées heruntergebrochene "Darstellung" militärischer Gewalt noch nicht einmal als „gewaltverharmlosend“ bezeichnen – weil sie rohe Gewalt schlicht und ergreifend weder zeigt noch beiläufig thematisiert. Diese Produktwerbung ist im Kern ein Meisterwerk vollendeter Dekontextualisierung: Gerade in seiner Gewaltlosigkeit führt sie ihrer Zielgruppe den Traum einer Macht vor, die trotz ihrer Gewaltlosigkeit ihre gewaltige Überlegenheit behauptet.

Und dieser Traum hätte suggestiver nicht bebildert werden können. Auch nach wiederholtem Abspielen kann ich Vergleichbarkeiten mit Blockbustern wie
Michael Bays Transformers, Bad Boys oder Michael Manns Heat nicht leugnen. Das Gefahrenszenario eines Truppeneinsatzes in Afghanistan wird auf das Lebensrisiko eines Indiana Jones im Simulationsmodus heruntergespielt. Die Bundeswehr als Hort kleiner Jungen, die ihre Suche nach dem Abenteuerlichen noch nicht aufgegeben haben. Im Gegenteil: Sie haben das Abenteuer zu ihrem Beruf gemacht. Gut, dass sie sich dabei auf Krauss-Maffei Wegmann als ihren verlässlichen Partner vertrauen können.

Dass Gewaltdarstellungen unserer Tage unglaubwürdig sind, ist keine Rede mehr wert. Auch auf Entrüstungen, wie abstumpfend sie auf unsere Wahrnehmung tatsächlicher, ge- und erlebter Gewalt wirken, reagiere ich mit resignierter Selbstverständlichkeit, abgestumpft, und verweise mit leerer, ungeduldiger Geste auf Susan Sontags Regarding the Pain of Others: Ist alles schon gesagt worden; wissen wir doch längst. Aber dass sich Werbung, die sich – vielleicht auch nur indirekt – auf die Realität des Kriegs bezieht, so kompromiss- und verantwortungslos der Fiktion anvertraut: Darf das wirklich sein?

To do ...

Kurz ein paar Dinge von der Seele getippt, bevor ich übermüdet ins Bett falle. Es gibt einiges zu erledigen bzw. nachzuholen, und ich bin gespannt, ob die Idee, all das Unerledigte öffentlich kund zu tun, Konsequenzen nach sich zieht, die zur Umsetzung beitragen. In keiner von mir bewusst festgelegten Reihenfolge will ich:

[erledigt; 27.5.]- auf nerones letzten Post reagieren;

- das überaus *???* Wochenende in Regensburg verarbeiten. Mir fehlen noch die Worte, die mir die Einzelheiten begreifbar machen könnten. Vorrangig wären da die wiederholten, wenn auch nur kurzen Gespräche mit Sarah Brouillette; die Bekanntschaften mit Kristen, Claudia, Carla, Jenny und Nikas und zahlreichen anderen; die Vorträge und Diskussionen, die sich während und um's Programm ergaben (vor allem den für mich wichtigen Vortrag von Frank Schulze-Engler, für den ich noch eine nette Gegenkritik formulieren möchte);

[erledigt; 27.5.]- endlich Sumantra Ghoshals Aufsatz "Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices" lesen, der schon viel zu lange in meinem Regal verstaubt -> wichtiger Schritt für mein Argument, die postmodernen Denker müssten sich allmählich neue Aktionsfelder erschließen.

[erledigt; 21.7.]- und last but not least für eine Neuformulierung der Menschenrechte werben. Wollte ich schon lange, aber vielleicht finde ich diese Woche ja mal zwischen Uni, Hausarbeit, Gassi gehen und Einkauf die fünf Minuten Zeit, da ich dafür brauchen könnte :-).

Bestimmt hab ich irgendwas vergessen. Dankbarerweise ist der Kopf dran, und bei Hunger meldet sich der Magen durch lautes Knurren.

Und man siehe: Gelgentliche Reflexion hilft. [erledigt; 27.5.] Die Kommentare zu Bartholomäus Grills aktuellem Zeit-Artikel über Südafrika haben es in sich. Unfassbar, was ich dort gerade von Inschenioer und Flieger51 lesen muss. Schreiben wir tatsächlich das Jahr 2008?

Und jetzt aber ab in die Federn.

Lauschangriff

Ich bin gespannt: ab heute und bis Sonntag unterwegs in Regensburg - nämlich hier. Mal sehen, ob sich zwischendurch die ein oder andere Rückmeldung mitteilen lässt ...

Fortlaufende Arbeit, ohne Titel

So mal ganz nebenbei, wie man solcherlei Dinge handhabt: Ich versuche gerade, Gerechtigkeit als Aufhebung des Mittel-Zweck-Verhältnisses zu denken, als Streben nach einem machtfreien Raum. Natürlich: fraglos gilt, dass Gerechtigkeit als Zweck allen Strebens ohne Gewalt als Mittel niemals durchsetzbar war, ist und wäre. Aber Derrida fragte, wenn ich mich recht erinnere, schon danach, wie gerecht man überhaupt sein kann? Kann man jemals gerecht sein? Eine denkbare Antwort auf diese Frage ist: Gerecht kann man nur seinem Nächsten gegenüber sein - weil ich "hier", sprich: um mich herum, immerhin noch einen relativen Einblick in die Konstellationen der (Um-)Welt gewinnen kann. Diese Um- und Vorsicht aber ist nicht nur räumlich, sondern im weitesten Sinne auch sozial beschränkt. Denn wie ist mit den blinden Flecken umzugehen, den Missständen, die ich übersehe? "Meinem" Nächsten bin ich in der Regel ohnehin gerecht, aus dem einfachen Grunde, dass er oder sie mir wichtig ist - genau daher ist sie oder er ja mein/e "Nächste/r". Was also wird aus dem räumlich Nächsten, den ich nicht erreiche, den ich nicht wahrnehme oder übersehe? Was ist mit dem Unwichtigen, dem Ausgegrenzten? Die Tatsache ist gerade nicht, dass für sie anderes Recht gälte. Aber ihre Inanspruchnahme dieses Rechts, ihr Versuch, ihr gleiches Recht durchzusetzen, bleibt von Ungerechtigkeiten begleitet. Dass Nächstenliebe und Gerechtigkeit sich per se nahestünden: davon kann also keine grundsätzliche Rede sein. (Aber vielleicht habe ich auch einfach nur einen pessimistischen Tag.)

Andernorts

Bei aller Begeisterung, die ich mit der Zeit für das Bloggen, für den eigenen Blog entwickelt habe, finde ich es immer wieder nicht nur spannend, sondern auch mehr als notwendig, den Blick vom eigenen kleinen Schreibtisch zu heben und sich umzuschauen. Ich hab's Herrn Keuschnig gleichgetan und mich versuchsweise mit (bisher) zwei Beträgen auf die Kommentarseiten der Zeit eingelassen. Sofern man denn leserschaftsnahe Themen aufgreift, wird niemand abstreiten können, dass man seine Reichweite steigert. Aber als ob mir das am Herzen läge: Ich messe mich eher an der Herausforderung, meine "wissenschaftliche", ethische Welt so in Worte zu fassen, dass sie andernorts auch aufgenommen wird. Ich übe, bilde ich mir gerade ein, den Dialog, nehme an einer groß angelegten rhetorischen Fortbildung teil: Dem Austausch von Meinungen auf gemeinsamer Augenhöhe.

"Dünn ist die Decke der Zivilisation"

Darf man, oder unser Militär, dürfen unsere Geheimdienste im Grenzfall – gesetzt, es gehe um die Abwehr einer (inter)nationalen Bedrohung – foltern? Wie brutal, wie gewalttätig darf der Staat seinem potentiellen Feind gegenübertreten? Und wie sehr darf er sein eigenes Auftreten verharmlosen?

Diese Fragen beschäftigen mich mit Nachdruck, seitdem Bush in der zweiten Märzwoche sein Veto gegen ein vom US-Kongress bereits verabschiedetes Gesetz zur Abschaffung umstrittener Verhörmethoden (Stichwort waterboarding) eingelegt hat. Mit dem Gesetz sollte auch die CIA verpflichtet werden, den strengen Verhörvorschriften des Verteidigungsministeriums zu folgen, berichtete die NZZ. Von den L.A. Times lernt man genauer: The bill [...] included a provision to limit the CIA and other U.S. intelligence agencies to tactics allowed by the Army manual used by military interrogators. Bushs präsidiale Begründung: Das vom amerikanischen Kongress verabschiedete Gesetz «würde alle alternativen Methoden ausschliessen, die wir im Kampf gegen die gefährlichsten und gewalttätigsten Terroristen in der Welt entwickelt haben» [...].

Die Eigendynamik seiner Worte ist bemerkenswert. Fast könnte man aus ihnen herauszulesen glauben, er fühle sich bedrängt. Sein Feind ist nämlich migriert: Weil „die Terroristen“ in ihrer vermeintlichen Allgegenwart offenbar an Abschreckungspotenzial eingebüßt haben, muss Bush die Kriegsfront neu verorten und setzt einen Kampf gegen die „gefährlichste und gewalttätigste“ Vorhut der Terroristen, die besonders terroristischen Terroristen, in Szene. Und im Angesicht dieser terroristischen Terroristen verblasst die Schande der Folteranwendung als schlichte methodische "Alternative". Gut: Solche Euphemismen sind in der Regel schnell durchschaut; mit der Stellungnahme des amtierenden CIA-Direktors Michael Hayden dagegen weiss ich nicht recht umzugehen. Seine Worte (via): Die bisher von der CIA angewandten Methoden seien "legal und effektiv" [...].

Es mag durchaus sein, dass man dem Boden der Vereinigten Staaten alles, was nicht verboten ist, als legal, sprich: rechtmäßig betrachten darf. Hayden beharrt mit diesem Verweis auf zweierlei. Erstens – dass ein rechtmäßiger Akt zugleich auch ein gerechter, und damit unschuldiger Akt ist: Wir greifen zur Folter, aber ausschließlich motiviert durch die Unabwendbarkeit einer Notwehrsituation. Zweitens – über die streitbare Legitimation der Folter hinaus unterstreicht er die Rechtmäßigkeit ihrer Anwendung mit einem Verweis auf ihre "Produktivität": Folter leistet einen Beitrag zur (inter)nationalen Sicherheit – sie liefert trotz ihrer Brutalität wertvolle Ergebnisse. Sie ist effektiv; unschön, aber schlussendlich doch sinnvoll.

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Was Folter eigentlich ist: (weitaus) barbarischer als die tiefgreifende, unformulierbare Verletzung, als die ich sie grundsätzlich ohnehin bereits wahrnehme. Über ihre eigene unmittelbare Gewaltzufügung hinaus, die doch legal und effektiv sein soll, ist Folter eine Verletzung, die – gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst – zwei weitere Gewalttaten, zwei weitere Gewalten, mit ihr ineinssetzt. Über ihre physisch-psychische Gewalt hinaus ist sie ein Akt, dessen Gewalt dreifach ist. Folternde Gewalt ist dreifach gewalttätige Gewalt. Diese Ineinssetzung ist allerdings keine synchrone.

Erste Gewalttat
Die erste Gewalttat der Folter besteht bereits darin, bestehendes Recht (oder eine bestehende Rechtskonvention) aufzuheben, es (oder sie) mit Missachtung (ausbleibender Achtung) zu strafen. Das Gesetz oder Gebot körperlicher Unversehrtheit wird jeglicher (Rechts)Grundlage beraubt; diesem Gesetz fehlt, trotz seiner formalen Kodierung als Gesetz, die exekutive, "effektive" Gewalt. "Effektiv" ist Folter also nicht verboten. Die Menschenrechte sind in dieser Situation, in dieser Sache, zwar formuliert, aber keineswegs "effektiv", sondern im Gegenteil gewalt-, d.h.: macht- und damit folgenlos. Als ihr potentielles Opfer ist man, so scheint es daher also, nicht mehr dem Recht, irgendeinem Recht, sondern allein der übermächtigen gewalttätigen Gewalt ausgeliefert, die außerhalb jedes sonst geltenden Rechts sich selbst zum Recht erklärt, sich selbst Recht ist, selbstgerecht ist. (Selbst gerecht ist eben sie keineswegs). Das Recht als unabhängige dritte, regelnde, richtende "Instanz" zwischen zwei im Konflikt stehenden Parteien verstummt: In Räumen der Folter wird kein Recht gesprochen. Jedweder geheimdienstlichen Beteuerung zum Trotz ist Folter damit in Anlehnung an Walter Benjamins Worte ein militaristisches Instrument: Eine Doppelheit in der Funktion der Gewalt ist nämlich für den Militarismus [...] charakteristisch. Militarismus ist der Zwang zur [...] Anwendung von Gewalt als Mittel zu Zwecken des Staats. Die Verwurzelung der Gewalt im Militarismus manifestiert sich nämlich darin, dass sie [...] in einer Anwendung von Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken [...] besteht (S. 40). Dieser Rechtszweck – die Grundlage, auf die sich die Verteidiger der Folter berufen – ist das Recht auf staatliche Selbstverteidigung. Einer seine Vernichtung androhenden Gewalt soll der Staat seine eigene Gewalt vorausgreifend gegenüberstellen und entgegenhalten dürfen. Was aber, wenn dieser Vorausgriff nicht gerechtfertigt werden kann? Wie weit darf er gelten, wie unmittelbar muss die Bedrohung ausgesprochen oder erkannt worden sein? Als Gewalt ist nämlich, wiewohl dies auf den ersten Blick paradox erscheint, dennoch auch ein Verhalten, das in Ausübung eines Rechts eingenommen wird, unter gewissen Bedingungen zu bezeichnen. Und zwar wird ein solches Verhalten, wo es aktiv ist, Gewalt heißen dürfen, wenn es ein ihm zustehendes Recht ausübt, um die Rechtsordnung, kraft deren es ihm verliehen ist, zu stürzen; wo es passiv ist, aber nichtsdestoweniger ebenso zu bezeichnen sein, wo es [...] Erpressung wäre (37). Für die Anwendung der Folter gelten unweigerlich beide Fälle – sie ist zugleich (zeitweiliger?) Umsturz einer ratifizierten, und daher: geltenden Rechtsordnung als auch Erpressung des Gefolterten durch angedrohte (und alsbald effektiv gemachte) Gewaltanwendung.

Zweite Gewalttat
Wenn die Vereinigten Staaten diesen Vorausgriff in Guantanamo vermutlich zu einer "allgemeineren" Praxis ausbaut haben, kristallisiert sich gerade dort das Risiko einer zweiten Gewalttat heraus: Der Folter liegt eine (wie auch immer stark begründete) Mutmaßung zugrunde. Letzten Endes weiß der folternde Staat (noch) nicht, was der Gefolterte weiß, oder was er seinen Befürchtungen zufolge wissen soll, was er angeblich weiß. Anstelle eines wie auch immer gearteten Beweises ist es daher also allein das Indiz, das als Ausgangspunkt für die Aufhebung bestehenden (Menschen)Rechts dienen kann. Diese Ahnung ist es vermutlich, die Bush (oder seinen Redenschreiber) zur rhetorischen Fixierung, zum kompensatorischen Fingerzeig auf die „gefährlichsten und gewalttätigsten“, die terroristischsten Terroristen, bewogen hat.

Aber: Man folgt einem Irrtum, einem falschen Eindruck, wenn man daraus ableitet, mit der Folter betrete man rechtsfreien Raum. Auch wenn man allein der "nackten Gewalt", dem Recht des Stärkeren, ausgeliefert scheint: Im strengen Sinne greift der Staat in dieser Ausnahmesituation vielmehr auf einen archaischen, nur vermeintlich überlebten Rechtsrahmen zurück, der zwar nicht mit dem des gothischen Rechts, den Foucault in Überwachen und Strafen (Kap. II) beschreibt, gleichzusetzen ist, aber einige seiner Züge doch modernisiert. Der folternde Staat entsagt sich nämlich dem gültigen, geltenden „dualistischen System“, das strikt zwischen Schuld und Unschuld eines Menschen trennen soll. Strafverdächtigung und -verfolgung bleiben heute strengen Auflagen unterworfen: die gesellschaftlich-juridische Ahndung eines Verbrechens soll nur unter der Voraussetzung eines fairen, unparteiischen Prozesses durchgesetzt werden können, in dem nicht nur der Anklagende, sondern gerade auch der Angeklagte zu Wort kommen kann – ohne zu seiner Aussage gezwungen worden zu sein. Mit einem Rückgriff auf die „alternativen“ Methoden der Folter aber verliert der Rechtsstaat diese Unvoreingenommenheit und verfällt dem Versprechen spezialisierter, professionalisierter (geheimdienstlich akquirierter) Vorannahmen und Vor(ab)urteile. Der Staat verteidigt sich nicht nur selbst im Angesicht einer Bedrohung – er be- und verurteilt diese Bedrohung auch selbst, wie auf Guantanamo, ohne die Verpflichtung einzugehen, letztendliche, urteilsbegründende Rechenschaft ablegen zu müssen. An die Stelle des „dualistischen Systems“ tritt also ein System gradueller Strafen, das seine ausführlichste Differenzierung in einem der literarischen Großwerke des Mittelalters findet: in Dante Alighieris divina commedia. Bei den Strafformen folgt Dante im wesentlichen der mittelalterlichen Idee des contrapasso, der replikartigen angemessenen Bestrafung, die im Prinzip Gleiches mit Gleichem vergilt: Dem Dieb wurde die Hand, dem falschen Zeugen die Zunge abgehackt usw (Manfred Hardt, „Nachwort“ zur divina commedia in der Übersetzung von Hermann Gmelin. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 548). Auf einen Begriff der „Unschuld“ kann man sich demnach nicht berufen, weder im Mittelalter, noch auf Guantanamo – heute genügt allein der geheimdienstliche Verdacht ohne auswärtige Gegenprüfung, um archaisches Recht wiederherzustellen und somit einen formal Unschuldigen (die gerichtliche, faire Feststellung seiner Schuld fällt/steht ja aus!) einer folternden, dreifachen Gewalt auszusetzen. Das zur zweiten Gewalttat.

Dritte Gewalttat
Als dritte Gewalttat deute ich die ausbleibende Anerkennung der erlittenen Gewalt, des Opfers nach der Zufügung von Folter. Damit ich nicht missverstanden werde: Es gibt keine Anerkennung, keine Entschädigung, die die Ausmaße einer Folter „wieder gut machen“ könnten – niemals. Aber sowohl rechtlich, und damit gerichtlich, als auch psychisch und emotional lassen wir Folteropfer im Stich und setzen sie einer weiteren, vielleicht noch verstörerenden Isolation aus. Folterprozesse werden vor geheimen Militärtribunalen geführt, deren Verhandlungen der Öffentlichkeit, der unabhängigen Berichtserstattung verschlossen bleiben – aus der perversen, aber fast selbsterklärenden Logik heraus, die Offenlegung interner Organisationsgeheimnisse vereitelten die staatlichen Selbstverteidigungsmechanismen vor den terroristischsten Terroristen weiter. Und für das Opfer, verlangte es denn die öffentliche Strafverfolgung? Es gibt kein Gesetz, und vor allem: kein Gericht, vor dem sie oder er eine Anklage wegen Folter „effektiv“ durchsetzen und zu einem bindenden Urteil führen könnte.

Das auf Guantanamo und andernorts verübte Unrecht bleibt also sowohl von vornherein als auch nachträglich geheim, ungeahndet, auf perverse Weise „effektiv“. Der oder die Gefolterte lebt allein mit seiner physisch-psychischen Schändung – wenn er oder sie denn überhaupt im gewöhnlichen Sinne zu „leben“ imstande ist.

In abschließender, freier Anlehnung an Benjamin: man muss, freiwillig oder trotz vehementen Abstreitens, eingestehen, dass es wohl keine Zivilisation gibt, die im Zuge ihrer beständigen Berufung auf ihren kulturellen Fortschritt und ihre ontologische Überlegenheit nicht auch ihre barbarische Rückständigkeit beweist. Das Verstörende daran ist aber: Unsere freiheitlich-demokratische „Zivilisation“ scheint mir die unverkennbar Scheinheiligste. Ihre Decke ist ausgesprochen dünn.

Über das „Kulturheilige“

Gelegentlich haben die Vertreter modernisierungstheoretischer Ansätze doch die eine oder andere inspirierende Idee abgeworfen. Tendenziöse Einleitung, ich weiß, aber trotz allen Ernstes, den man den Modernisierungsdenkern ob ihres maßgeblichen politischen Einflusses entgegenbringen muss, wirkt ihr zentrales Manifest lächerlich. W.W. Rostows universalistische Ableitung der Stadien Wirtschaftlichen Wachstums aus der europäischen Wirtschaftsgeschichte (1960) versteht sich im Kern als easy-to-follow Fünf-Stufen-Plan zur Überführung „traditionaler“ Gesellschaften in das (natürlich „moderne“) Zeitalter des (natürlich kapitalistischen) Massenkonsums.

Von Edward Shils, der das Ganze etwas weiter differenzieren wollte, distanziere ich mich nicht weniger. Während das Stadien-Modell für Rostow und seine Gefolgschaft so selbsterklärend war, dass sie auf eine Benennung der Akteure kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Wandels verzichten konnte, wollte Shils immerhin „Eliten“ (und nur sie allein) als kulturelle Impulsgeber verstehen, die es in ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion für das Modernisierungsprojekt zu gewinnen gilt (vgl. seinen Aufsatz „The Intellectuals in the Political Development of the New States“, 1966).

Das aber nur am Rande; ich will lediglich auf ein Detail hinaus. „Shils vertrat […] die These, daß in jeder Gesellschaft, also auch in der modernen, bestimmte Vorstellungen über das Heilige existieren“ (Joas/Knöbl, 442). Mit dem „Heiligen“ will Shils allerdings keineswegs nur Religiöses gemeint wissen: „Whether it be God’s law or natural law or scientific law or positive law or the society as a whole, or even a particular corporate body or institution like an army, whatever embodies, expresses, or symbolizes the essence of an ordered cosmos or any significant sector thereof awakens the disposition of awe and reverence, the charismatic disposition” (zitiert nach Joas/Knöbl, 443).

Indem Shils Durkheims Verständnis des „Heiligen“ mit Webers Begriff des „Charisma“ verschmilzt, letzteren aber ausdehnt, um mit ihm auch auf politische Rollen, Institutionen, Symbole oder Schichten verweisen zu können (Joas/Knöbl, 443), stellt er einen (zumindest potentiell) starken Wahrnehmungsrahmen in den Vordergrund, durch den es mir gelingen könnte, meine Begegnungen mit „dem Anderen“, meine Wertungen ihm gegenüber, von denen ich niemals frei bin, zu enthierarchisieren und zu provinzialisieren: Indem ich den kulturellen, sozialen oder wie auch immer aus meiner Perspektive begriffenen Hintergrund des Anderen „wie etwas Heiliges“, „als etwas Heiliges“, sprich: für mich nur mittelbar (wenn überhaupt) Begreifbares oder Zugängliches achte, trete ich ihm bereits vorab mit einer respektvollen Geste gegenüber, die mir eine voreilige, vermeintlich objektiv-aufgeklärte Aneignung und Vereinnahmung verbietet. Diese erste Geste, dieses Vorausgehen, diese Vorannahme, diese gewollte Annahme (in ihrem doppelten Sinne!) ist also die eigentliche, tatsächliche Anerkennung des Anderen im Gegenüber, die Anerkennung des Heiligen seiner Herkunft, seines „Kulturheiligen“.

Einwände?

[Nachtrag 11. August 2008: Das "Kulturheilige" aufgegriffen und weitergedacht, nämlich als "Hermeneutische Variable".]

Literatur: Hans Joas / Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie: Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004.

Regenschirm trotz Sonne

Wo wir gerade doch beim Thema sind: Nerone hat mich vor geraumer Zeit auf parapluie - elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen aufmerksam gemacht. Und siehe da: Fast als Aufforderung zur Vertiefung des letzten Posts steht das aktuelle Heft im Zeichen einer unserer zentralen Erzählungen: der Autobiographie. Lesenswert, kontrovers, vor allem aber: richtig gut.

Frohes Pfingsfest und so ...

Rede ohne Wirkung

Klingt vielversprechend, der Titel: Beyond Postmodern Politics: Lyotard, Rorty, Foucault (Routledge, 1994). Aber Honi Fern Habers Arbeit enttäuscht, und das um Längen. Nach drei Kapiteln zu den politischen Potenzialen und Grenzen poststrukturalistischen und postmodernen Denkens bleibt ihr Fazit genau den Paradigmen verhaftet, die sie zu überwinden versucht. Das Subjekt bleibt ein sprachliches, narratives Konstrukt, das erst, oder besser: allein in sozialen, diffe/ärenziellen Räumen entsteht.

Aber Schritt für Schritt, weniger überstürzt, an ein paar Auszügen aus dem abschließenden Kapitel „Evaluating ‚Post-Philosophies’“ nachvollzogen: Fern Haber plädiert zurecht für mehr Vorsicht. Mit ihrem Plädoyer, dass “the law of difference need not imply the universalization of difference“ (118), trifft sie meines Erachtens die entscheidende, lähmende Tendenz postmoderner, poststrukturalistischer Ansätze. Ihr Gegenvorschlag: “Borrowing from the poststructuralist account of difference, I suggest we accept the idea that all structure is temporary and even artificial, and is always open to the possibility of being redescribed. However, […] I nevertheless insist […] that any viable political theory necessitates structure – in particular it necessitates the need for the generation of subjects (or what I call ‘subjects-in-community’, suggesting that there are no autonomous or non-plural subjects) and communities – even if these are themselves plural, internally inconsistent, open ended, and always amendable to deconstruction” (114). Der Gedanke, den Weg eines pragmatischen Kompromisses zu gehen, scheint konsequent – nicht zuletzt deshalb, weil Sprache in ihrer Eigenschaft als Kommunikationsmedium uns diese Pragmatik aufdrängt: “One cannot at the same time speak differently and speak coherently” (124).

Schade, dass Fern Haber diesen Gedanken nicht weiter ausgearbeitet hat: Die Pragmatik der Argumentation ist es, die wenigstens ein Grundverstehen zweier Parteien möglich macht. Es ist dieses notgedrungen Diachrone des Denkens, die der Sprache innerliche Zeitlichkeit, der wir im gemeinschaftlichen Austausch unterworfen bleiben. Ohne uns dessen ausdrücklich bewusst zu sein, generieren die Sprechenden in jedem Dialog, genauer: im Verlauf eines jeden Dialogs vorläufige Strukturen, einen situativen „Dritten Ort“ (Bhabha). Die Frage ist daher nur eine nach dem Abbau der vermeintlich essentiellen, wesentlichen Erstarrung, mit der wir diese Dialektik(en) belegen: “The lesson to be learned from poststructuralism is that the logic of difference reveals the artificiality of any and all closure (structure)” (127).

Vielleicht gelingt es mir, diese Überlegungen für das brauchbar zu machen, was ich in einem verspielten Moment als Textonik angedacht habe. Die wichtigere Frage aber für jetzt: Was macht Fern Haber aus dieser Einsicht? Aus der Konzeption ihres „Subjektes-in-Gemeinschaft“, also einem Subjekt, das nicht isoliert, autonom und selbstbestimmt agiert, sondern erst in seiner multiplen Vergemeinschaftung zu einer Vielfalt von (auch widersprüchlichen) Ausdrücken findet, leitet sie im Umkehrschluss ab: Insofern uns jede Gemeinschaft ein Vokabular, eine Sprache zur Verfügung stellt, ist es erst die Annahme und der Gebrauch einer dieser vielfältigen Sprachen, die uns eine Distanzierung und Loslösung von großen, umfassenden Strukturen, oder auch: Erzählungen, ermöglichen. “[… I]t is only as a member of some community or other that we are empowered. […] Empowerment is made possible […] by realizing the extent to which we are never simply the member of a single community. In identifying ourselves as members also of marginalized communities we find the tools, i.e. the images and the vocabularies, with which we can imagine a world other than the one suited to the interests of bourgeois liberalism. [… T]he recognition that each one of us is radically plural makes alternative discourses an open possibility (121).”

Daraus folgt: Wer ein eigenes Narrativ zu formulieren imstande ist, wer sich strategisch verständigen und vorläufige Strukturen etablieren kann, verstärkt sein emanzipatorisches Potenzial. “The hope is that these newly heard voices will become available as tools for shaping new ways of thinking about ourselves and our relation to others and the world and will become useful as tools for the implementation of new ways of being and acting” (129).

Ja, die Hoffnung, diese realitätsentrückte Hoffnung. Der Kreis, den sie damit zu schließen glaubt, zerplatzt als akademische Seifenblase. Den Postmodernen und Poststrukturalisten scheint es nicht möglich, ihr abstrahiertes Paradigma Sprache für die akute Realität erlittener Konflikte brauchbar zu machen. Die Frage, die die Grenzen dieses Ansatzes deutlich macht, ist trivial: Was, wenn ein Dialog gar nicht möglich ist? Eine Pluralität der Identitäten setzt eine Freiheit voraus, die über den Rückgriff auf sprachliche Narrativen hinaus grundlegende physische, menschliche Freiheiten gesichert sehen muss. Viel zu vielen Schicksalen auf der Welt muss dieser sprachlichen Emanzipation noch eine physische Emanzipation, die Garantie körperlicher Unversehrtheit vorausgehen. Und selbst wenn dieser Schritt getan ist, bleibt offen, was diese Pluralität der Identitäten für Gemeinschaften bedeutet, die sich vordergründig anderer Sozialstrategien bedienen als der des vermeintlich selbstverständlichen „Subjekts“.

Solche Arbeiten verwundern mich inzwischen nicht mehr nur, nein: sie verunsichern mich grundlegend in Bezug auf meine „Karriereabsichten“. In Momenten solcher Lektüren drängt sich mir immer stärker die Frage auf, ob ich mich wirklich auf solche professionalisierten Diskussionen einlassen möchte, und ob ich nicht außerhalb der Akademie Nachhaltigeres leiste.

Das Unmögliche ...

... möglich machen, oder doch zumindest denken - und gerade durch das Denken vielleicht doch möglich machen: Jacques Derrida über bedingungslose Vergebung.