Mediale Gewalt

Der Verlust von Wirklichkeit, den ein Ereignis in der Verzerrung durch seine mediale Darstellung erfährt, schockiert erst, wenn man Ereignis und Wiedergabe abgleichen kann – und das heißt: das Ereignete bezeugen kann. Erst mit der Möglichkeit des Abgleichs und der Feststellung der Verlusts schließt sich die Kluft zwischen einem so oft geäußerten „glauben, dass die Presse verzerrt“ und einem zu viel zu selten nachgewiesenen „wissen, in welchem Grad die Presse verzerrt“.

Der aktuelle Bildungsstreik ist gewissermaßen „meine“ Bestätigung solcher Verzerrungen; eine Bestätigung, die ich allerdings schon wieder trivialisieren möchte, wenn ich die vergleichsweise Milde des Ereignisses Max’ Schilderungen über die Situation in seiner Heimat gegenüberstelle. Leise deutet sich gerade für mich an, was es über einfache Solidaritätsbekundungen hinaus eigentlich bedeuten muss, die Übereinstimmung zwischen Ereignis und Darstellung, sprich: Pressefreiheit, zu fordern, aber auf sie verzichten zu müssen. Mit dem Vorenthalten dieses Rechts, mit der einseitigen Kontrolle der Berichterstattung, gewinnt die Rede von der „Macht der Medien“ eine brutale, hier vielen unvertraute Dimension: als „mediale Gewalt“. Auch sie kann man jemandem zufügen.

Versprochen, gehalten

Eine kleine Randnotiz: Im Austausch mit Herrn Keuschnig und metepsilonema über die mediale Aufarbeitung politischer Gewissensfragen; mit der Erfahrung des vergangenen Mittwochs im Hinterkopf, der die Verzerrungen vermeintlich faktenständiger Berichterstattung für mich persönlich deutlich gemacht hat – vor diesem Hintergrund beginne ich allmählich all jene Menschen zu verstehen, die eher Werbeprospekte anstelle der Tagespresse lesen: Ihre Angebote sind immerhin verbindlich. Oder hat jemand schon mal erlebt, dass einem die Angestellten im Discounter erklären, die Werbung sei wohl doch ein bisschen schöngeredet, eigentlich gar nicht so gemeint und mit ihrem Gewissen unvereinbar?

Putschversuch

Die Presse. Ich kann die „Presse“ nicht mehr lesen. Man beklagt sich ja regelmäßig: über die Voreingenommenheit der Berichterstattung, die Faktenwahl und -herstellung, die zum Teil miserable Qualität geleisteter „Recherchen“. Ich bin dann aber doch über den eklatanten Grad der Verzerrungen irritiert, wenn man Pressedarstellungen und Situation vor Ort selbst miteinander abgleichen kann.

Am vorgestrigen Mittwoch: Schul- oder Schülerstreik mit bundesweit knapp 100.000 Beteiligten. Von den ca. 8.000 in Berlin demonstrierenden Schülern haben ca. 1.000 das Hauptgebäude der Humboldt-Universität für etwa 20 Minuten besetzt. „Nach Polizeiangaben wurden Toilettenpapierrollen aus den Fenstern geworfen, Feuerlöscher auf den Fluren entleert, Wände mit Anarchie- Zeichen beschmiert, ein Vortrag durch das Umwerfen von Stühlen und Tischen gestört, ein Laptop gestohlen und Bilder einer Ausstellung über jüdische Unternehmer in der Zeit von 1933 bis 1945 heruntergerissen. Nach etwa 20 Minuten hätten die Randalierer das Gebäude wieder verlassen.“

Diese Darstellung der Neuen Presse ist in meinen Augen die mit Abstand nüchternste - und darüber hinaus die einzige, die das Ereignis gründlich kontextualisiert. Nicht alle Berichterstattung sind allerdings so ausgeglichen. Wenn kein Schaden entstanden ist, muss er offenbar herbeigeschrieben werden. „Teile des Hauptgebäudes [seien] stark in Mitleidenschaft gezogen worden“, beklagte sich dem Spiegel zufolge die Humboldt-Universität noch am späten Mittwoch. Eine gleichlautende Pressemeldung lässt sich allerdings nicht finden. Trotzdem berichtet die Welt am frühen Donnerstagmorgen von einem „teilweise verwüstet[en]“ Gebäude. Die Bild spricht heute Morgen von „Trümmer[n]“ und gemeinsam mit der TAZ von eingeworfenen Fensterscheiben. Es ist tatsächlich eine. Neun entleerte Feuerlöscher sind für den Tagesspiegel ganz vage „mehrere“, für die Bild selbstverständlich „sämtliche“. Ausgesprochen skandalös sind auch verrückte Kopierer und abgerissene „Pinnwände mit Informationen für Studenten“. „Ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland heute noch möglich ist, dass der Mob eine solche Ausstellung zerstört“, so der Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies heute Morgen gegenüber der Welt.

Der Aufhänger für alle Empörung über die „Verwüstungen“ und „Trümmer“ ist die durch die Besetzung „schwer beschädigte“ (weil im Foyer des Hauptgebäudes präsentierte) Sonderausstellung „Verraten und verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933-1945“. Die Presseberichte auch hier: übertrieben. Man müsse „Scherben“ zusammenkehren, „die Ausstellung [... hänge] in Fetzen“, schreibt die TAZ. Es seien „Bilder [...] von den Wänden“ gerissen (Tagesspiegel) und „Schautafeln der Ausstellung [...] zerstört“ worden (Morgenpost).

Man lasse dagegen Bilder sprechen: Zunächst braucht es kaum Gewalt, die auf einfachen Holzrahmen befestigten Papierplakate und das filigrane Montagesystem zu beschädigen (Bild 3/5). Vor dieser Berücksichtigung wäre es angebracht, die von den Medien implizierte Brutalität der Schülerschaft um die schiere Größe der überwiegend minderjährigen Masse zu relativieren:



Man erkennt nicht viel, sicherlich, aber was man erkennt: Ein überlastetes Gebäude. Eine aufgebrachte, gewaltbereite Masse verhält sich anders. Wenn man sich über möglichen Vandalismus beschweren möchte, sollte man genauer recherchieren. Eine vielleicht entscheidende Kontextualisierung deutet nur die Morgenpost an: „es mischten sich auch immer wieder schwarz Vermummte“ unter die demonstrierenden Schüler. Von Augenzeugen weiß ich, dass es allerdings nicht nur „schwarz Vermummte“, sondern auch Antifas waren, die die Feuerlöschaktionen im ersten und zweiten Stock des Hauptgebäudes inspirierten, will heißen: dort mit bestem Beispiel vorangingen.

Das aber geht in den Meldungen unter. Stattdessen wird immer wieder eine angenommene Mutwilligkeit der Beschädigungen an der Ausstellung im Foyer betont: „Peter-Michael Haeberer, Chef des Landeskriminalamtes, glaubt nicht, dass die Demonstranten ihre Zerstörungen wahllos angerichtet haben: ‚Wer jetzt versucht, diesen Zwischenfall als allgemeinen Vandalismus zu deklarieren, bedient sich einer billigen Ausrede.’ ‚Selbst ein Legastheniker müsste anhand der Bilder erkennen, worum es bei dieser Ausstellung geht.’“.

Durch die zahlreichen Dramatisierungen überliest man schnell, dass der Spiegel in seinem zeitnahen Bericht über die „Krawalle“ auch schon erwähnt, dass „die Ausstellung [noch am Nachmittag] notdürftig wieder [so weit] hergerichtet“ werden konnte, dass Projektleiter Christoph Kreutzmüller bald nach dem Ende der Besetzung sein Führungsprogramm durch die Ausstellung fortsetzen konnte.

Während man nun darum bemüht ist, den Sachschaden – der tatsächlich recht gering ausfallen dürfte – zu beziffern, setzt der Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies alledem gleich zwei Spitzen auf. In einer am gestrigen Nachmittag veröffentlichten Pressemeldung äußert er sich „sehr bestürzt darüber, dass wenige Tage nach dem 9. November eine Ausstellung, die nationalsozialistisches Unrecht an jüdischen Mitbürgern dokumentiert, von Chaoten schwer beschädigt wurde.“ Er spricht von einer „Verantwortung für Unrecht gegenüber jüdischen Mitbürgern“, die dazu verpflichte, „Menschen in diesem Land [...] vor der Gewalt anderer Menschen“ zu schützen. Als sei ein Staatsstreich versucht worden, schreibt er von einem „unerträglichen Angriff auf die freiheitliche Ordnung dieses Landes.“ Und als ob er damit immer noch nicht die passenden Worte gefunden hätte, setzt Markschies in einer etwa zeitgleich versandten universitätsinternen Mitteilung fort: Mit der Besetzung, und vor allem: durch das Verhalten der Besetzer – man erinnere sich: es waren demonstrierende Schüler – sei „ein Attentat auf unsere jüdischen Mitbürger und die ganze demokratische Kultur des Landes“, ein unmittelbarer „Angriff auf die Grundüberzeugungen unserer demokratischen Gesellschaft“, sogar: „auf die Menschenwürde und Freiheit“, verübt worden. Weshalb jetzt der Staatsschutz ermittelt. In den Worten der Bild: Bestraft die Uni-Chaoten, bestraft sie hart!

Ach, die Presse ...

Spiel, Spaß und Spannung

Wie viele Versuche sind wohl gemacht worden, das „Spiel“ zu definieren? Üblicherweise versteht man darunter „eine Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung ausgeführt wird.“ In der Soziologie betrachtet man die Sache indes etwas enger, wie zum Beispiel Michael Meusers jüngst erschienener Artikel „Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer“ (in: Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland, Opladen: Buderich, 2008) nachvollzieht: Spaß und Ernst treffen aufeinander, sofern Spaß eine „ernste“, d.h. sozialisierende Funktion zugewiesen wird, von dessen Teilhabe gelungene Identitätsstiftungen abhängen.

Verallgemeinernde Behauptungen: Ist Spiel nicht (auch) Alternative, Ausbruch aus dem status quo und Ablegen eingelebter Rollen? Das „so-tun-als-ob“ als Flucht nach vorne, Projektion von Wünschen, Träumen, Möglichkeiten, Utopien? Jedes auffordernde „stell-Dir-vor ...“: gedacht als hermetischer Freiraum, der, im günstigsten Fall nur zeitlich begrenzt, Entwürfen vorbehalten ist, die der Alltag zwar auslagert, aber doch inspiriert.

Und weil inspiriert und doch ausgelagert, kommt kein Spiel ohne Setzungen aus. Der Ausstieg aus Gegebenheiten ist schärfstens geregelt. Das Spiel bleibt Ausnahme. Man muss es begrenzen, ausgrenzen.

Darüber hinaus: Spiele sind Reduktionen. Insofern Spielen ein Ausleben von Vorstellungen ist, ist es auch ein Ausblenden von Komplexitäten. Selbst regelmäßiges Spiel – von SimCity bis SecondLife – ist nicht in dem Sinne „wirklich“, dass es gelebte Umwelten spiegeln könnte. Wunschtraum minus Realität = Spiel.

Schnitt. Das Spiel als Vorstellung aufgegriffen und die gerade genannte Formel in eine erkenntnistheoretische Perspektive eingespannt: Wenn Spiel = Reduktion oder Modell – gilt dann nicht: Spiel = Modell = Theorie? Und damit: Theorie als Spiel? Bedienen sich das vorgestellte „so-tun-als-ob“, die Aufforderung zum „stell-Dir-vor ...“ und ein „gesetzt, dass ...“, mit dem die Bedingungen einer theoretischen Überlegung formuliert werden, nicht derselben Sprache?

Konstruktive Unsicherheit

Zwischen Tür und Angel stellt sich mir die Frage, warum die Strategien, die man der Dekonstruktion zuschreibt: Selbstthematisierung, Ironisierung und das Unterlaufen von Sinnbezügen, eigentlich als verharmlosende Spielspäße "mißbilligt" werden? Als den der Sache doch angebrachten "Ernst" ignorierend? Als sorgfältiger philosophischer Arbeit gegenüber unseriös?

Nicht, dass ich auf solche Konfrontationen anspringe, aber dennoch ein zwei Gedanken in unzureichendes Kurzformat gezwängt: Welcher Aspekt des Bedürfnisses, ungewohnte Aufmerksamkeiten zu wecken, ist da so verachtenswert? Muss Forschung zwangsläufig Sicherheiten produzieren; kann sich nicht Fragen statt Antworten geben? Entfernt sie sich von stabil gearbeiteten Thesen: ist sie dann destruktiv (Ist Dekonstruktion im negativen Wortsinn destruktiv?)? Oder ist sie einfach nur gute Lehre?

Mannschaftssport


"stadium". Maurizio Cattelan, 1991.

Rücklagen

Vergangene Tage aus diesem Grund mit dem ZLA telefoniert. Am Apparat von Herrn Saager klärte man mich kurz und knapp über die Selbstverständlichkeit der Ablehnung auf. Obwohl ihm gegenüber so dargestellt, war die in Kürze bevorstehende Verlängerung der Aufenthaltsgesattung nicht der Grund. Stattdessen eine Erklärung über penible Buchführung: Im monatlich ausgezahlten Regelsatz sei ein Anteil von € 20,45 für Bekleidungsausgaben vorgesehen. Wollte ein Leistungsempfänger sich also etwas leisten, das diesen Anteil übersteige, müsse er eben "drauf hinsparen." Den Sparkurs eingerechnet: 200 € minus € 20,45 macht also € 179,55 als Ausgabensumme für den monatlichen Lebensunterhalt. Die Monatsfahrkarte kostet knapp € 30, damit wären wir bei unter € 150.

Vielleicht lasse ich mir die Tage nochmal darlegen, wie man sich mit den € 5,11 für Gesundheits- und Körperpflege gleichzeitig täglich naß rasiert und auf einen Rasierapparat spart.

Missverständnis

Yes, they did.