Putschversuch

Die Presse. Ich kann die „Presse“ nicht mehr lesen. Man beklagt sich ja regelmäßig: über die Voreingenommenheit der Berichterstattung, die Faktenwahl und -herstellung, die zum Teil miserable Qualität geleisteter „Recherchen“. Ich bin dann aber doch über den eklatanten Grad der Verzerrungen irritiert, wenn man Pressedarstellungen und Situation vor Ort selbst miteinander abgleichen kann.

Am vorgestrigen Mittwoch: Schul- oder Schülerstreik mit bundesweit knapp 100.000 Beteiligten. Von den ca. 8.000 in Berlin demonstrierenden Schülern haben ca. 1.000 das Hauptgebäude der Humboldt-Universität für etwa 20 Minuten besetzt. „Nach Polizeiangaben wurden Toilettenpapierrollen aus den Fenstern geworfen, Feuerlöscher auf den Fluren entleert, Wände mit Anarchie- Zeichen beschmiert, ein Vortrag durch das Umwerfen von Stühlen und Tischen gestört, ein Laptop gestohlen und Bilder einer Ausstellung über jüdische Unternehmer in der Zeit von 1933 bis 1945 heruntergerissen. Nach etwa 20 Minuten hätten die Randalierer das Gebäude wieder verlassen.“

Diese Darstellung der Neuen Presse ist in meinen Augen die mit Abstand nüchternste - und darüber hinaus die einzige, die das Ereignis gründlich kontextualisiert. Nicht alle Berichterstattung sind allerdings so ausgeglichen. Wenn kein Schaden entstanden ist, muss er offenbar herbeigeschrieben werden. „Teile des Hauptgebäudes [seien] stark in Mitleidenschaft gezogen worden“, beklagte sich dem Spiegel zufolge die Humboldt-Universität noch am späten Mittwoch. Eine gleichlautende Pressemeldung lässt sich allerdings nicht finden. Trotzdem berichtet die Welt am frühen Donnerstagmorgen von einem „teilweise verwüstet[en]“ Gebäude. Die Bild spricht heute Morgen von „Trümmer[n]“ und gemeinsam mit der TAZ von eingeworfenen Fensterscheiben. Es ist tatsächlich eine. Neun entleerte Feuerlöscher sind für den Tagesspiegel ganz vage „mehrere“, für die Bild selbstverständlich „sämtliche“. Ausgesprochen skandalös sind auch verrückte Kopierer und abgerissene „Pinnwände mit Informationen für Studenten“. „Ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland heute noch möglich ist, dass der Mob eine solche Ausstellung zerstört“, so der Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies heute Morgen gegenüber der Welt.

Der Aufhänger für alle Empörung über die „Verwüstungen“ und „Trümmer“ ist die durch die Besetzung „schwer beschädigte“ (weil im Foyer des Hauptgebäudes präsentierte) Sonderausstellung „Verraten und verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933-1945“. Die Presseberichte auch hier: übertrieben. Man müsse „Scherben“ zusammenkehren, „die Ausstellung [... hänge] in Fetzen“, schreibt die TAZ. Es seien „Bilder [...] von den Wänden“ gerissen (Tagesspiegel) und „Schautafeln der Ausstellung [...] zerstört“ worden (Morgenpost).

Man lasse dagegen Bilder sprechen: Zunächst braucht es kaum Gewalt, die auf einfachen Holzrahmen befestigten Papierplakate und das filigrane Montagesystem zu beschädigen (Bild 3/5). Vor dieser Berücksichtigung wäre es angebracht, die von den Medien implizierte Brutalität der Schülerschaft um die schiere Größe der überwiegend minderjährigen Masse zu relativieren:



Man erkennt nicht viel, sicherlich, aber was man erkennt: Ein überlastetes Gebäude. Eine aufgebrachte, gewaltbereite Masse verhält sich anders. Wenn man sich über möglichen Vandalismus beschweren möchte, sollte man genauer recherchieren. Eine vielleicht entscheidende Kontextualisierung deutet nur die Morgenpost an: „es mischten sich auch immer wieder schwarz Vermummte“ unter die demonstrierenden Schüler. Von Augenzeugen weiß ich, dass es allerdings nicht nur „schwarz Vermummte“, sondern auch Antifas waren, die die Feuerlöschaktionen im ersten und zweiten Stock des Hauptgebäudes inspirierten, will heißen: dort mit bestem Beispiel vorangingen.

Das aber geht in den Meldungen unter. Stattdessen wird immer wieder eine angenommene Mutwilligkeit der Beschädigungen an der Ausstellung im Foyer betont: „Peter-Michael Haeberer, Chef des Landeskriminalamtes, glaubt nicht, dass die Demonstranten ihre Zerstörungen wahllos angerichtet haben: ‚Wer jetzt versucht, diesen Zwischenfall als allgemeinen Vandalismus zu deklarieren, bedient sich einer billigen Ausrede.’ ‚Selbst ein Legastheniker müsste anhand der Bilder erkennen, worum es bei dieser Ausstellung geht.’“.

Durch die zahlreichen Dramatisierungen überliest man schnell, dass der Spiegel in seinem zeitnahen Bericht über die „Krawalle“ auch schon erwähnt, dass „die Ausstellung [noch am Nachmittag] notdürftig wieder [so weit] hergerichtet“ werden konnte, dass Projektleiter Christoph Kreutzmüller bald nach dem Ende der Besetzung sein Führungsprogramm durch die Ausstellung fortsetzen konnte.

Während man nun darum bemüht ist, den Sachschaden – der tatsächlich recht gering ausfallen dürfte – zu beziffern, setzt der Präsident der Humboldt-Universität Christoph Markschies alledem gleich zwei Spitzen auf. In einer am gestrigen Nachmittag veröffentlichten Pressemeldung äußert er sich „sehr bestürzt darüber, dass wenige Tage nach dem 9. November eine Ausstellung, die nationalsozialistisches Unrecht an jüdischen Mitbürgern dokumentiert, von Chaoten schwer beschädigt wurde.“ Er spricht von einer „Verantwortung für Unrecht gegenüber jüdischen Mitbürgern“, die dazu verpflichte, „Menschen in diesem Land [...] vor der Gewalt anderer Menschen“ zu schützen. Als sei ein Staatsstreich versucht worden, schreibt er von einem „unerträglichen Angriff auf die freiheitliche Ordnung dieses Landes.“ Und als ob er damit immer noch nicht die passenden Worte gefunden hätte, setzt Markschies in einer etwa zeitgleich versandten universitätsinternen Mitteilung fort: Mit der Besetzung, und vor allem: durch das Verhalten der Besetzer – man erinnere sich: es waren demonstrierende Schüler – sei „ein Attentat auf unsere jüdischen Mitbürger und die ganze demokratische Kultur des Landes“, ein unmittelbarer „Angriff auf die Grundüberzeugungen unserer demokratischen Gesellschaft“, sogar: „auf die Menschenwürde und Freiheit“, verübt worden. Weshalb jetzt der Staatsschutz ermittelt. In den Worten der Bild: Bestraft die Uni-Chaoten, bestraft sie hart!

Ach, die Presse ...

Anonym hat gesagt… said:

15. November 2008 um 12:58  

Das eigentliche Problem sind nicht die dokumentierten Fälle (so ärgerlich sie auch sind), sondern die, die quasi durch den Rost fallen, weil man glauben muss was geschrieben steht, weil man es nicht überprüfen kann, oder die Zeit dazu fehlt. Oder man Fehler gar nicht erst vermutet.

Aber wir leben in einer verhältnismäßig gesegneten Zeit, da durch die mittlerweile stark entwickelte Blogsphäre Möglichkeiten bestehen, rasch an Informationen zu kommen, die unmittelbar von betroffenen Personen usw., stammen. Gut beobachtbar jüngst im Georgienkonflikt, oder vor einiger Zeit in der Flutkatastrophe von New Orleans, um zwei Beispiel zu nennen. Den Medien wird viel mehr auf die Finger geschaut als früher.

[Man könnte natürlich auch meinen - aber das hat schon fast etwas Zynisches an sich - Du seist ein unverbesserlicher Anhänger der Moderne, und übersiehst, dass das was Du beschreibst nichts weiter ist, als der Konstruktionsprozess individueller Wahrheiten. Postmoderne, mit einem Wort.]

Willyam hat gesagt… said:

15. November 2008 um 15:11  

Naja ... "individuell" ist wohl eher die Wahrheit, der Markschies Platz eingeräumt sehen möchte: das der Sturm ein „Angriff auf die Grundüberzeugungen unserer demokratischen Gesellschaft“ ... „auf die Menschenwürde und Freiheit“ sei. Die Presse zitiert ihn, ohne sich davon zu distanzieren. Und erschreckend "individuell" ist für mich, der die Nachwirkungen des Ereignisses und Berichtetes vergleicht, auch die Eigendynamik der gedruckten Meinungen, die mehr und mehr an Bodenhaftung verliert. Plötzlich ist jetzt auch von antijüdischen Parolen die Rede, die während der Besetzung gefallen sein sollen. Das ist mehr als eisig ...

Anonym hat gesagt… said:

15. November 2008 um 15:40  

Ich gebe Dir in allem recht. Und das Wort "eisig" trifft es sehr gut.

Es geht eben nicht ohne diese altmodischen Begriffe, ohne Wahrheit, oder Wissen ... vielleicht gerade deswegen, weil wir etwas von ihrer Problematik verstanden haben...

Willyam hat gesagt… said:

15. November 2008 um 18:44  

Ich würde jetzt nicht in Anspruch nehmen, im Gegensatz zur Presse die "Wahrheit" wiederzugeben. Aus der Perspektive eines unmittelbar, schockierten liest sich das sicherlich noch einmal ganz anders. Es gibt allerdings einen Grad der Darstellung, der sich soweit vom Ereignis entfernt hat, dass ich ihn nicht mehr "dramatisiert", sondern "Lüge" nennen möchte.

Anonym hat gesagt… said:

18. November 2008 um 01:26  

Das meinte ich eigentlich nicht (das in-Händen-halten der Wahrheit). Aber Du hast eine Idee davon, wie die Wahrheit aussehen könnte, oder zumindest eine Idee, wie man sich ihr nähert.

Das ist eine eigenartige Diskrepanz (ich meine das überhaupt nicht vorwurfsvoll): Auf der einen Seite fragst Du (an anderer Stelle) "Unter welchen Umständen ist dann noch Gerechtigkeit möglich [...]", auf der anderen hast Du aber offensichtlich Vorstellungen darüber, wie eine gerechte Berichterstattung aussehen kann.

Ich habe das auch schon an mir selbst beobachtet: Man operiert im alltäglichen Leben wie selbstverständlich mit Kategorien, die aus theoretischen Überlegungen problematisch oder gar nicht möglich sind.