unzeitgemäß zitiert: Nietzsche

Meine bereits so oft vorgetragene, mich motivierende Sorge in Nietzsches Worten:

"Es mag das Erstaunlichste geschehen, immer ist die Schar der historisch Neutralen auf dem Platze, bereit, den Autor schon aus weiter Ferne zu überschauen. Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als 'Kritik', während kurz vorher der Kritiker von der Möglichkeit des Geschehenden sich nichts träumen ließ. Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern nur wieder zu einer 'Kritik'; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder Kritik. Dabei ist man übereingekommen, viele Kritiken als Wirkung, wenige oder keine als Mißerfolg zu betrachten. Im Grunde aber bleibt, selbst bei sotaner 'Wirkung', alles beim alten: man schwätzt zwar eine Zeitlang etwas Neues, dann aber wieder etwas Neues und tut inzwischen das, was man immer getan hat. Die historische Bildung unserer Kritiker erlaubt gar nicht mehr, daß es zu einer Wirkung im eigentlichen Verstande, nämlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme: auf die schwärzeste Schrift drücken sie sogleich ihr Löschpapier [...] Gerade in dieser Maßlosigkeit ihrer kritischen Ergüsse [...] verrät sich die Schwäche der [post]modernen Persönlichkeit."

Friedrich Nietzsche, "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", in: Unzeitgemäße Betrachtungen, 5. Abschnitt.

Toleranz in Grenzen

Furchtbar vage, das, aber vielleicht kommt der Stein ins Rollen:
Ich verweigere mich inzwischen dem Versuch, der Kolonialismus und Imperialismus als „Schattenseiten“ der sich aufklärenden Moderne verstehen will. Anstelle einer Apologie: Sind sie nicht im Gegenteil diskursive Parallele, ergänzend und selbstverständlich, zum Kontrollimpuls über Natur und Globus? Denn rationalistischer Aufklärung und brutaler Fremddominanz gemeinsam ist die Sicht auf das Fremde / Unbekannte, das im weitesten Sinne assimiliert, d.h. erkannt, benannt, entzaubert zu werden verlangt.

Die Fortführung im heutigen Abwehrdenken gegenüber globaler Migration zeigt das überdeutlich, freilich in anderer Form und unter anderer Instanz. Wenige Gesten kristallisieren unsere Kälte so klar wie die Aufforderung zu mehr „Toleranz“ gegenüber „Ausländern“. Die linke Kritik an der kulturellen Berührungsscheue der Konservativen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ihr vorbehaltloses, offenes, interessiertes und verständniswilliges Entgegenkommen nur vermeintlich und bei Weitem herzlicher formuliert ist als es ausgelegt werden kann: Warum „kultivieren“ wir sonst unsere Rede von der „Toleranzgrenze“?

Gute Lehre

Offensichtliches wiederholt und voreingenommen in eigene Worte gefasst: Die mit dem Historismus etablierte Forderung, man solle im Unterricht lehren anstelle zu werten, kann sich nicht gerecht werden. Zwar kann man sich einbilden, die Streitfrage um das inhaltliche "Was?" beiseite gelegt zu haben, da jede Epoche jetzt gleichwertig "unmittelbar zu Gott" ist, wie Ranke es formulierte. Diese Öffnung objektiviert allerdings kaum unseren Quellenumgang; sie erlaubt uns noch weniger, jede Geschichtsauseinandersetzung ausschließlich auf das methodische "Wie?" zu konzentrieren. Ich kann mir zwar wünschen, "daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen [...] und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen beurteilende, in diesem Sinn 'bewertende' Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle [...]". Doch Weber argumentiert noch ohne Michel Foucaults Einsichten in die Zusammenspiele von "pouvoir-savoir", "power-knowledge", Macht und Wissen.

Der sie im Französischen und Englischen verbindende Gedankenstrich polarisiert Wissen und Macht ausdrücklich nicht, um ihnen eine kontrahentische Gegenüberstellung zuzuweisen oder ihre idealtypisierte Trennung in zwei Sphären reinen, unvoreingenommenen "Wissens" einerseits und roher, selbstreproduzierender "Macht" andererseits vorzuschlagen; noch deutet der Gedankenstrich ihr Verschmelzen an. Nein - Wissen und Macht, darauf besteht Foucault, überschreiben sich gegenseitig, permanent und bis zur Undifferenzierbarkeit: Wissen baut ebenso auf Macht wie Macht zugleich auch auf Wissen baut. Weder gibt es machtfreies Wissen, noch wissensenthobene Macht.

Das "Was?" ist also umso aktueller, bleibt es doch perspektivabhängig: "unterrichten" heißt doch im Unterschwelligen, bereits durch die Vermittlung, und vor allem: indirekt, d.h. mit der Auswahl der Vermittlung, zu richten. Das Einzige, was daher unhinterfragt zu lehren sein kann, ist die Motivation zum Impuls des unmittelbaren Selbst(be)fragens und Selbst-er-/-auf-klärens - der Wille einer Aufklärung, die immer selbst vorgenommene Aufklärung ist.

"Krise des Wissens"

Grandios und ohne Einschränkung lesenswert -> Nils Minkmars Sicht auf die aktuelle globale Finanzkrise. Ja: die aktuelle. Wer wird denn so blauäugig sein wollen und Zukünftige ausschließen ... ???

Unmittelbare Ergänzung um die Aussichten, die Michael (nicht mehr dort, sondern) hier skizziert ...

Überflüssige Wahl?

Jede Wahl ist gleichzeitig Zurückweisung, ein „entweder oder“ - das eine Marktwirtschaft allerdings schon bei nächster Gelegenheit in ein „sowohl als auch“ zu revidieren verspricht: Entscheide Dich heute für dies, morgen für jenes; übermorgen hast Du beides. Verzicht war vorgestern.

Hat sich diese Revidierbarkeit, dieses Versprechen nicht schon längst in die Politik übertragen?

Deutschland den Deutschen?

Auch wenn es so interpretiert werden könnte als ob ich dazu abdrifte, nur noch Videos zu posten: Über das Radio ffn-Gespräch zwischen Andrea Ypsilanti und "Franz Müntefering" hat mich YouTube auf den folgenden Panorama-Bericht aufmerksam gemacht.



Bei Beleidigung also Ausweisung. Die Schizophrenie ist interessant: dass Christian Wagners Position hierzulande noch im politischen Mainstream verortet werden will, während wir sie jenseits einer unserer Grenzen als rechtspopulistisch verschreien. Nirgends in Wien, wo ich die vergangene Woche verbracht habe, konnte ich mich den umformulierten, aber im Kern doch deckungsgleichen Botschaften von FPÖ und BZÖ entziehen:





Was denkt sich eigentlich ein Ausländer, wenn er sich durch Haiders Slogan "Österreich den Österreichern! Deinetwegen." angesprochen sieht? "Scheißösterreicher"? Q.E.D., und in dem Fall hätte sich die Schlaufe ja geschlossen: Dem aggresivem Potential muss man drastisch entgegentreten und einen nationalen Schutzraum gegen fremde "Unterwanderung", wie Wagner es noch formuliert hat, errichten. "Deutschland den Deutschen!" also. Und damit zurück in "heimatliche" Gefilde. Die Denkparallelen drängen die Frage auf, womit die Hessen-CDU nun als nächstes aufwartet? Vielleicht findet sie ja Gefallen an elektronischen Fußfesseln? Die viel dringlichere Sorge ist aber die: Wie lange wird es wohl dauern, bis die demokratischen Verstandssicherungen eingreifen?