Postmoderner Weber?

Glaube ich der These, die Christopher Norris in seinem Aufsatz „Why Derrida Is Not a Postmodernist“ entwirft, dann gilt für Denker wie Lyotard in Kurzfassung: „there is just no point in pursuing […] analysis beyond the stage where it acknowledges the open-ended plurality of narratives, language-games, or discourses” (S. 155). Der Einsatz ihrer Instrumente ist allein ihren unermüdlichen Hinweisen auf die übersehene Pluralitäten und die gelebte Uneindeutigkeit unserer Lebenswelten gewidmet. Es geht ihnen prinzipiell um das Aufdecken dieser – mit Vorsicht formuliert: „Tatsache“ und dem Wunsch, unsere Alltagsorientierung zu enthierarchisieren.

Wenn ich neulich noch die Postmoderne als Aufklärung der Aufklärung aufgefasst habe, dann wohl ganz in diesem Geist. So exklusiv lässt sich der Gedanke allerdings nicht aufrechterhalten. Nerone gegenüber habe ich ausgerufen, wie sehr ich immer wieder fühle, dass die Resignation einer meiner Dozenten durchaus Berechtigung hat: Viel weiter als Max Weber sind wir mit unseren postmodernen Erkenntnisversuchen nicht gelangt.

Auch Weber geht es unter anderem darum, die eigentlichen Motive und Motivationen individuellen Handelns zu benennen: Erkenntnis kann die „[…] ‚Ideen’, die dem konkreten Zweck zugrunde liegen oder liegen können […] dem geistigen Verständnis […]“ (17) erschließen. Diese „Verständlichmachung“ (49), diese bewusstgemachte und zugleich bewusstmachende „Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst“ (17), schließt unmittelbar auch den Anspruch ein, die bewussten und unbewussten, gewollten und ungewollten Folgen individuellen Handelns aufzuzeigen (16). Wie aber kann diese Kenntnis von einer unbewussten Bewertung ausgeschlossen werden? Hierzu bedarf es einer nüchternen Spiegelung der untersuchten Wertideen, die Weber in der „[…] Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten […]“ (18) umgesetzt sieht. Ziel dieser Prüfung ist letztendlich die „Selbstbesinnung“, mit anderen Worten: die kritische Hinterfragung des menschlichen Handels auf seine Chancen, „mit bestimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt […] erreichen, abwägen und mithin direkt die Zwecksetzung selbst […] als praktisch sinnvoll oder aber der gegebenen Verhältnisse nach sinnlos“ (16) erkennen zu können.





Christopher Norris, „Why Derrida Is Not a Postmodernist“, in: Beyond Postmodernism: Reassessments in Literature, Theory, and Culture. Berlin: de Gruyter, 2003, S. 143-155.
Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Schutterwald (Baden): Wissenschaftlicher Verlag, 1995.

Präsenz ohne Präsens

„Der Geist des Noch-Nicht“: „Neuzeit ist nonum-Zeit – die Zeit eines vielversprechenden Werdens, die sich von der Statik der Ewigkeit ebenso emanzipiert hat wie von der kreisenden Zeit des Mythos“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2006, S. 59). Mit diesem Optimismus sind die Schlagworte der europäischen Moderne verknüpft, allesamt realisierbar, schon fast: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit.

Ich war bisher kein ausgesprochener Freund der Psychoanalyse, aber die Erklärungen, die Herbert Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft (Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1995 (1957)) festhält, stoßen bei mir auf offene Ohren. Hinter dem modernen „Geist des Noch-Nicht“ steht für ihn „die fundamentale Wirklichkeit der Ananke, der Lebensnot, die bedeutet, daß der Existenzkampf in einer Welt vor sich geht, die zu arm ist, um die menschlichen Bedürfnisse ohne ständige Einschränkungen, Verzichte und Verzögerungen zu erfüllen. Mit anderen Worten: jede mögliche Befriedigung erfordert Arbeit“ (ebd., S. 40).

Die Drastik seines Arguments qualifiziert er näher. Lebensnot ist, abhängig vom gesellschaftlichen Wohlstand, nicht ausschließlich als „brutale[…] Tatsache“ zu bewerten, sondern „in Wirklichkeit die Folge einer spezifischen Organisation der Not und eine spezifische Daseinshaltung […] die durch diese Organisation erzwungen wird. Der herrschende Mangel ist durch den gesamten Verlauf der Kultur hindurch so organisiert worden (wenn auch in höchst unterschiedlichen Weisen), daß die vorhandenen Mittel nicht in Übereinstimmung mit individuellen Bedürfnissen kollektiv verteilt wurden, noch ist die Beschaffung der Güter für die Bedürfnisbefriedigung mit dem Ziel organisiert worden, die sich entwickelnden Bedürfnisse der Einzelnen in der besten Weise zu befriedigen. Statt dessen wurde sowohl die Verteilung der mangelhaften Güter als auch die Anstrengung, den Mangel zu bekämpfen, die Arbeitsweise also, den Individuen aufgezwungen durch eine rationalere Anwendung der Macht“ (ebd., S. 40-41.)

Diese internalisierte Ananke kennt allein ein „es war“, „es wird“, vielleicht auch ein „es wird einmal gewesen sein“. Sie verweigert mir nicht nur den Präsens, sondern macht des „Jetzt!“ einer / jeder zukünftigen Gegenwart unmöglich. Und doch: Setzt diese Perspektive nicht einen fest im Gegenwärtigen verankerten Standpunkt voraus? Sogar: Dass es keine Zukunft gibt, nein, falsch: niemals geben kann, weil sie nicht (auf mich zu)kommt, sondern bleibt, zwar transzendental, aber unerreichbar? Und ich, körperlich präsent, an-wesend, soll ohne Präsens auskommen?

Folter - Question ou Torture (Jurisprudenz)

"Dieses Mittel wendet man zuweilen in Strafprozessen an, um den Angeklagten so weit zu bringen, daß er das Verbrechen gesteht, dessen man ihn beschuldigt, oder daß er seine Mitschuldigen verrät. Dieses Verfahren besteht darin, den Angeklagten heftige Qualen ausstehen zu lassen, die allerdings gewöhnlich nicht zum Tode führen. [...]

Ganz abgesehen von der Stimme der Menschlichkeit, erfüllt die Folter nicht den Zweck, zu dem sie bestimmt ist. Ganz im Gegenteil: Sie ist eine zuverlässige Erfindung, um einen Unschuldigen von schwacher und zarter Konstitution zugrunde zu richten und einen Schuldigen von kräftiger Natur zu retten. Diejenigen, die eine solche Qual ertragen können, und die anderen, die nicht so viel Kraft besitzen, als nötig ist, um sie auszuhalten, leugnen im gleichen Maße. Die Folter, die man beim hochnotpeinlichen Verhör anwendet, ist gewiß; das Verbrechen des Menschen, der sie erleidet, ist dies nicht. Jener Unglückliche, den Sie der Folter aussetzen, denkt weniger daran, auszusagen, was er getan hat, als sich von dem zu befreien, was er verspürt. So sagt Montaigne, die Höllenqualen seien eine gefährliche Erfindung. 'Es ist mehr eine Geduldsprobe als eine Wahrheitsprobe', fährt er fort. 'Denn warum soll der Schmerz einen Unglücklichen eher dazu bringen, zu gestehen, was er ist, als ihn zu zwingen, zu sagen, was er nicht ist? Und umgekehrt: Wenn der, welcher die Tat, deren man ihn beschuldigt, nicht begangen hat, die nötige Ausdauer besitzt, um solche Qualen zu ertragen, warum soll dann der, welcher ein Verbrechen begangen hat, nicht eine ebenso starke Veranlagung haben, da ihm doch als schöne Entschädigung das Leben sicher ist? Kurz, das ist ein sehr unzuverlässiges und gefährliches Mittel; denn was würde man nicht alles sagen und tun, um so grausamen Schmerzen zu entgehen? So kommt es, daß der, den der Richter Höllenqualen ausstehen ließ, damit er nicht unschuldig stürbe, unschuldig und unter Höllenqualen stirbt.'

Sehr beklagenswert ist also der Zustand eines Menschen, dem die Folter das Geständnis eines Verbrechens entreißt; aber der Zustand eines Richters, der sich durch das Gesetz ermächtigt glaubt und diesen unschuldigen Menschen die Folter durchmachen läßt, muß meiner Meinung nach ein gräßlicher Zustand sein. Hat er denn irgendwelche Mittel, ihn für sein Leiden zu entschädigen? Es hat in allen Zeiten unschuldige Menschen gegeben, welche die Folter zum Geständnis von Verbrechen gebracht hat, deren sie nicht schuldig waren. Die Heftigkeit des Schmerzes oder die persönliche Schwäche läßt den Unschuldigen etwas gestehen, das er nicht begangen hat, und die Hartnäckigkeit der Schuldigen, die sicht trotz ihrer Verbrechen stark und sicher fühlen, läßt sie alles leugnen. (Jaucourt.)"


aus: Diderots Enzyklopädie. Eine Auswahl, Leipzig: Reclam, 2001, S. 290-291.

Trauma und Teilhabe

Gestern in einem sehr spannenden Seminar, das sich Fragen der Wiedergutmachung widmet, Andrè Van Ins Film Die Wahrheitskommission gesehen.

Meine emotionale Stimmung: ich bin verstört. Einige der Stimmen, einige der Bilder aus Südafrika werden mich über die kommenden Tage verfolgen. Aber wie diese Heimsuchung kommunizieren? Wie über etwas schreiben oder reden, das sich vielleicht nur im Abstrakten aus emotionalem Abstand austarieren lässt?

Indem ich meiner Unbeholfenheit Raum gebe? Ich frage mich schon länger, aber jetzt erst recht, warum ich als Zeit-Leser immer wieder Bartholomäus Grills Begeisterung für Südafrika Glauben schenken soll. Wie kommt er dazu, dieses Land als Hort der Stabilität auf einem unruhigen Kontinent, als demokratisches Vorbild und ökonomische Lokomotive Afrikas, als Inbegriff der Versöhnung von Schwarzen und Weißen, ja als Labor für die multiethnischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu sehen? Wie konnte sich dieses Bild mit solcher Stärke durchsetzen, dass es erst jetzt bröckelt?

Vor den Wahrheits- und Wiedergutmachungskommissionen dieselben verachtenden Sätze wie nach dem Zweiten Weltkrieg während der Nürnberger Prozesse. "Man hat dem Vorgesetzten nicht widersprochen."; "Dass Menschen während der Apartheid gefoltert wurden, ist auf die Initiative einiger weniger Individuen zurückzuführen", behauptet ein ehemaliger Vorsitzender der National Party. "Ich wusste von nichts." Wenn, ausnahmsweise, von Tätern eine gewisse Brutalität eingestanden wurde, dann nur, um im nächsten Satz die eigene Unschuld durch Normalitäten zu rechtfertigen. "Ja, unsere Methoden waren vielleicht ungesetzlich, aber sie waren weit verbreitet." "Es gibt im Krieg keine Regeln. Nur die, dass man gewinnt." Unter diesen Umständen branntmarkte man demokratische Aktivisten eben als staatsuntergrabende "Terroristen". Reue für das brutal und zu Unrecht Begangene? Nein. Nur die Angst, nachträglich bestraft zu werden. Was ein Wort, noch heute, legitimieren kann ...

Bedeutet der Versuch der Wiedergutmachung, diese Täter für ihre Morde zu bestrafen, oder bedeutet er, diese Denke abstellen zu wollen?

"Warum haben sie ihre Frauen nicht dabei?", fragen sich Mütter gegenseitig, als sie die Zeugenaussagen der Mörder (nein: es lässt sich nicht anders sagen) ihrer Kinder vor der Kommission hören. "Wollen sie nicht, dass sie hören, was ihre Männer getan haben?" Die Frage muss sich leider verallgemeinern lassen: Offenbar wollten nur wenige Afrikaaner wissen, was sie getan haben, was ihr Regime getan hat. An ihren Besucherzahlen zu den öffentlichen Kommissionsverhandlungen gemessen, kann noch nicht einmal mehr von "geringem" Interesse eine Rede sein, sondern von kollektivem Desinteresse. Vielleicht fürchteten sie sich vor fremden Wahrheiten, die sich mit ihren nicht decken.

All das bestätigt mich in dem, was ich in den vergangenen beiden Wochen in mehreren Varianten geäußert habe: (wie) kann ich etwas verstehen, dass ich selbst nicht erlebt habe? Es wirft mich zurück auf diese eine Aussage einer Mutter: Wenn sie [die Mörder ihrer Kinder] keine Toten zu beklagen haben - woher wollen sie wissen, wie es ist, zu leiden?

Mittendrin statt nur dabei

Wenn ich in dem kleinen Pro und Kontra über die Harmonie bei nerone zuletzt immer wieder behauptet habe, eine der maßgeblichen Qualifikationen für das Recht auf Mitsprache in einer Angelegenheit sei eine möglichst unmittelbare Nähe zum diskutierten Gegenstand, wollte ich damit im Kern folgendes betont wissen: dass die Fruchtbarkeit einer Diskussion von dem Grad empathischer Teilhabe lebt. Wer das Diskutierte / dem Diskutierten Ähnliches nie erlebt hat, kann kaum für sich in Anspruch nehmen, für oder gegen die Sache Position beziehen zu können. Wer meint, er könne fehlende Erfahrung durch Empathie ausgleichen, täuscht sich meines Erachtens grundlegend. Empathie ist nicht kreatives Vorstellungsvermögen; Empathie ist Erfahrung, übertragen auf fremde, aber ähnliche Deutungs- oder Wirkungszusammenhänge – auch wenn die Psychoanalyse meiner Position schärfstens widerspricht. Man höre Dante kurz vor seinem Aufstieg auf den Läuterungsberg:

Wenn ich die harten, rauhen Verse hätte,
Wie sie dem traurigen Abgrund ziemen würden,
Zu welchem alle andern Felsen führen,
So könnte ich den Saft aus meinem Stoffe
Viel besser pressen; doch weil sie mir fehlen,
Geh ich nicht furchtlos an die weitre Rede.
Denn nicht zum Scherze ist das Unterfangen,
Den Grund des Universums zu beschreiben,
Und nicht für Kindlein, die die Mutter rufen.
Es mögen meinem Lied die Frauen helfen,
Die einst bei Thebens Bau Amphion halfen,
Daß Sache sich und Wort nicht unterscheiden.



(Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Einunddreißigster Gesang, 1-12)

Philosophische Früherziehung

Was man nicht auf der Suche nach fruchtbaren Lektüreergänzungen zu Georgio Agambens Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben aufstöbert: Diese spielfreudigen Jungs sorgen für philospohische Stimmung in jedem Kinderzimmer ...

Aufklärung der Aufklärung?

Ist "die Postmoderne" eine Aufklärung der Aufklärung?

Zur Erläuterung der Rückgriff auf Horkheimer und Adorno: Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal, lautet ihre "Variante" dieser These, die ich in ihre Dialektik der Aufklärung (1947) hineinlese: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Welt gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. [...] Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden. [...] Als Sein und Geschehen wird [...] vorweg nur anerkannt, was duch Einheit sich erfassen lässt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt. [...] Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen. Daher ihre deutliche Schlussfolgerung: Aufklärung ist totalitär (S. 10-13).

Auf die Nuancen, die sie vor ihrem unmittelbaren Erfahrungshintergrund überschreiben, verweist Henri Lefebvre in seiner Einführung in die Modernität: 12 Präludien (1978). In ihr bezieht er sich nicht allein auf die von Max Weber diagnostizierte "Entzauberung der Welt", sondern auch auf die allmähliche Entfernung vom Universellen und die folgliche Hinwendung zum Speziellen, den Perspektivwechsel vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen. Überall entdeckt man [...] distinkte Einheiten: Atome, Partikel, Gene, Elemente der Sprache, Phoneme, Morpheme, usw. - und mit dieser Verschiebung, diesem "Abzug auf Materie" (frei nach Adorno & Horkheimer; s.o.) habe man gleichzeitig auch [...] die Probleme der Stabilität der Gesamtheiten, der Strukturen, Typen, der provisorischen oder dauerhaften Gleichgewichte thematisiert (S. 211).

Die postmoderne Zersplitterung ist also als Vorzeichen in den modernen Probleme[n] der Stabilität der Gesamtheiten bereits angelegt - in der Einsicht, dass [d]as Elend der großen Erzählungen herkömmlicher Machart [...] keineswegs darin [liegt], daß sie zu groß, sondern [...] nicht groß genug waren (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2006, S. 14).

Daher also die Ausgangsfrage: Darf sich die Postmoderne damit als Aufklärung der Aufklärung verstehen, weil sie ihre Aufstützung auf transzendentale Wahrheiten und Teleologien aufgibt und "einfache Erklärungen" ihren Denkern ein Unding sind?

Alternativ dazu, um die Gefahr des intellektuellen Größenwahns zu meiden: Vielleicht sind die Reden von der "zweiten" und der "reflexiven Moderne" gar nicht so fehlangebracht, wie ich in meiner groben Ablehnung von Beck, Giddens & Co. immer habe denken wollen ... ?

zitiert: Deleuze, Guattari

The two of us wrote this article together. Since each of us was several, there was already quite a crowd.

David M. Berry & Jo Pawlik
What is code? A conversation with Deleuze, Guattari and code

Gut gemeint

Oft zitiert, diese Worte Kants: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Foucaults Interpretation derselben: [...] the way Kant poses the question of Aufklärung is entirely different: it is neither a world era to which one belongs, nor an event whose signs are perceived, nor the dawning of an accomplishment. Kant defines Aufklärung in an almost entirely negative way, as an Ausgang, an 'exit', a 'way out.' In his other texts on history, Kant occasionally raises questions of origin or defines the internal teleology of a historical process. In the text on Aufklärung, he deals with the question of contemporary reality alone. He is not seeking to understand the present on the basis of a totality or of a future achievement. He is looking for a difference: What difference does today introduce with respect to yesterday?

Verfolgt man diese Frage radikal, um mit ihr nicht nur die Basis unseres Bewusstseins, unserer Vernunft, sondern vielmehr noch: unseres Wissens in Frage zu stellen, kann das Projekt der Aufklärung das Versprechen seines Wortsinns niemals einlösen. Die Frage nach der Differenz wird zum Grund für die Diffärenz der Beantwortung, oder anders: Die verlangte Aufmerksamkeit für die Differenz des "Heute" in Abgrenzung zu seinem "Gestern" macht eine endgültige Aufklärung unabschließbar. Aufklärung klärt die Vertraktheit der Welt nicht auf, sondern verdichtet sie im Gegenteil bis in die individuellsten, subjektivsten Lebenswelten hinein.

Nie wieder

Die Frage, wie man Unrecht wieder gut macht, findet bereits nur schwer ihre Beantwortung. Wie also, auf welche Weise, leistet ein Staat „Wiedergutmachung“? Kann ein Staat durch abstrakte Leistungen reparieren? Kann er für einen Völkermord (an den Herero, an den europäischen Juden, um nur zwei Fälle aufzugreifen) entschädigen, den begangenen Schaden annullieren, seine Schuldbilanz ausgleichen?

Und wonach orientiert sich die Höhe der dem Einzelnen geleisteten Wiedergutmachung? An dem historisch begangenen Unrecht? Oder an der aktuellen Bedürfnislage des Opfers / seiner Nachkommen? Sollte, pauschal gedacht, ein heutiger Millionär in gleicher Höhe / mit gleicher Leistung entschädigt werden wie ein Geringverdiener?

Unrecht wirkt nach, wächst unter Umständen sogar weiter. Die Sklaverei mag abgeschafft worden sein – trotzdem lebt eine ihrer eigentlichen Dimensionen bis heute im Rassismus fort. Selbst wenn es möglich ist, diese Nachwirkungen als Rassismus zu benennen – kann man Rassismus beziffern? Kann man ihn wiedergutmachen? Ist man bereit, strukturelle Eingeständnisse zu machen: Ja, die Nachkommen amerikanischer Sklaven leiden noch heute an gesellschaftlichen Umständen, die ihnen ihre volle Freiheitsentfaltung unmöglich macht?

Und welchen Ursprüngen entstammt diese eigentümliche Kopplung von Erinnerung und finanzieller Reparation? [Eine Vermutung, auf Restitutionsfälle entzogenen Eigentums im Dritten Reich bezogen, das in Einzelfällen verhandelt wurde: Weil der finanzielle Ausgleich als Recht und Unrecht zugleich wahrgenommen wird. Über Lippenschuldbekenntnisse hinaus muss man den Profittragenden etwas nehmen, was zentral ist, Lebensgrundlage bildet, ohne doch wieder erneutes, anhaltendes Unrecht zu provozieren. Vermögen ist dafür das ideale Ausgleichsmittel: Man entzieht jemandem das, was er sich erarbeitet hat, sich wieder erarbeiten lässt.]

Kundenservice

Bei facebook soll es keine Abmeldemöglichkeit geben, sagt meine Mitbewohnerin. Bei XING gibt es auch keine. Das weiß ich jetzt aus eigener Erfahrung: Ich wollte mich heute abmelden. Weil ich trotz ausgiebiger Suche und Online-Hilfe-Konsultation nicht so konnte wie ich wollte, habe ich dem Support am Vormittag eine kurze Nachricht geschickt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

erstaunlicherweise ist es mir trotz intensiver Suche bisher nicht gelungen, mich von XING abzumelden: Weder bei den Profileinstellungen noch der Verwaltung persönlicher Daten finde ich eine entsprechende Option aufgeführt. Umso spannender ist es, dass selbst Ihr Hilfemenü Stichworte wie "Abmeldung" "Profil löschen" und ähnliche Varianten hilflos mit Verweisen auf andere Funktionen reagiert. Ziehen Sie den Wunsch einer Abmeldung gar nicht in Betracht?


Die Antwort aus Hamburg am Nachmittag:

vielen Dank für Ihre Nachricht.

Schade, dass wir Sie als Mitglied bei XING verlieren. Aus Sicherheitsgründen
und um Ihnen die Kontrolle über die Löschung all Ihrer Daten zu geben, bitten
wir Sie, folgenden Link anzuklicken:

http://www.xing.com/app/user?op=cancel

Hier können Sie einfach und bequem Ihren Account selbst löschen. Beachten Sie,
dass Sie dazu eingeloggt sein müssen.

---
Für weitere Fragen können Sie auch gerne unsere Online-Hilfe nutzen.
https://www.xing.com/cgi-bin/help.fpl
Hier finden Sie unter anderem die häufigsten Fragen auf einen Blick.


Vielleicht mache ich mir die Mühe und antworte nochmal mit freundlichem Dank für die akkurate Beantwortung meiner Frage ...

„Nation Branding“, aufgefrischt

Ich tue den Studierten der Philosophie vermutlich keine allzu grobe Gewalt an, wenn ich die Weisheit, jeder Trend provoziere einen Gegentrend, als sozial-marktwirtschaftliche Vergegenwärtigung der Dialektik Hegels auffasse. Wenn aber eine grundlegende Dissonanz durch die Masse der Draufsichten auf die abendländische Geschichte sowohl von Seiten der Marktforscher als auch der Historiker vernehmbar ist, dann wird es zweifelsohne die sein, dass wir gegensätzlich zu Hegels Prognose auf die nur selten in ihrer vollen Macht begreifbaren Umwälzungen unserer Zeiten mit mehr als nur einer Gegenstrategie reagieren. Der Dreisprung „These-Antithese-Synthese“ gilt als disqualifiziert. Beispiel Globalisierung: Auch wenn wir die Auflösung des Regionalen im Supranationalen in der Regel mit konternden Nationalismen in Verbindung setzen, kennen wir doch auch schwächere, fast sogar subtilere Variante spätmoderner Identitätsstiftung: das sogenannte „Nation Branding“, zum Beispiel. Den marktwirtschaftlichen Mechanismen der Globalisierung und dem Trend, für den der Politologe Michael Zürn den Begriff der „Denationalisierung“ geprägt hat, begegnet der Nationalstaat mit dem Versuch einer Standortaufwertung, die das eigene „Profil“ schärfen soll. Globalisierung beschleunigt den Prozeß gesellschaftlicher Denationalisierung und vermindert so die Regierungsfähigkeit der (National-)Staaten. Um Steuerungspotential zurückzugewinnen, „errichten Nationalstaaten internationale Institutionen und passen damit die Gültigkeitsreichweite politischer Regelungen den Grenzen sozialer Handlungszusammenhänge an.“ Aus der Perspektive des Marktes aufgefasst: "Heute kann sich ein Land als Firma betrachten, deren Produktpalette die Bereiche Export, Investitionen, Tourismus, Kultur, Regierungsform und Menschen umfaßt." (Peter Robejsek, Direktor Haus Rissen, Hamburg).

Dass es schon seit 2005 einen entsprechend peinlichen Index gibt, der über den Erfolg solcher strategischen „Firmenkommunikation“ Aufschluss geben möchte; dass Begriff und Strategie nicht neu sind und sich eng an die sogenannte „Public Diplomacy“ anlehnen; ob solche Branding-Versuche überhaupt fruchten – das alles soll gerade nur am Rande interessieren. Sarah Brouillette hatte am Rande ihres Vortrags in Regensburg die Frage angedeutet, ob die internen Richtwerte dieses Felds nicht gerade überworfen werden: Anstelle eines mehr oder weniger eindeutig kategorisierbaren Bildes (ganz unbeholfen nach der Klischeeschablone gegriffen: „die Franzosen“ = savoir vivre; „die Deutschen“ = Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung usw. usf.) konkurrieren die großen Industrienationen mehr und mehr um das Label positiv ausgewiesener Vielfalt. Und die ist natürlich kultureller Natur: Nein, nicht die Briten sind die multiethnischsten, tolerantesten, dynamischsten, buntesten – das sind wir, wir Deutschen. Denn bei uns ist jeder Deutschland. Ganz genau: Du bist Deutschland. Und Du auch. Und Du erst.

Spannender Doppeleffekt also: Zunächst preist der Nationalstaat seinen kulturellen Facettenreichtum an und verliert nicht, sondern im Gegenteil: gewinnt an internationaler Kontur. Man grenzt sich mit seiner Offenheit nach Außen ab. Grenzenlos sind nur wir. Damit aber übersteigert man den Anspruch auf Multikulti zum einzigen Wertschöpfungsfokus. Wenn alle darum wetteifern, die Vielfältigsten, Buntesten, Offensten zu sein, entleert sich gerade dieser Wert seines grundlegenden Sinns: Die angepriesene, „postmoderne“ Vielfalt droht gleichzeitig damit, das Ende aller Unterschiede vorwegzunehmen.

Außer Haus

Bei so gutem Wetter bleibt doch kein Mensch in den eigenen vier Wänden. Umso schöner, dass man andernorts so herzlich aufgenommen wird ...