Trauma und Teilhabe

Gestern in einem sehr spannenden Seminar, das sich Fragen der Wiedergutmachung widmet, Andrè Van Ins Film Die Wahrheitskommission gesehen.

Meine emotionale Stimmung: ich bin verstört. Einige der Stimmen, einige der Bilder aus Südafrika werden mich über die kommenden Tage verfolgen. Aber wie diese Heimsuchung kommunizieren? Wie über etwas schreiben oder reden, das sich vielleicht nur im Abstrakten aus emotionalem Abstand austarieren lässt?

Indem ich meiner Unbeholfenheit Raum gebe? Ich frage mich schon länger, aber jetzt erst recht, warum ich als Zeit-Leser immer wieder Bartholomäus Grills Begeisterung für Südafrika Glauben schenken soll. Wie kommt er dazu, dieses Land als Hort der Stabilität auf einem unruhigen Kontinent, als demokratisches Vorbild und ökonomische Lokomotive Afrikas, als Inbegriff der Versöhnung von Schwarzen und Weißen, ja als Labor für die multiethnischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu sehen? Wie konnte sich dieses Bild mit solcher Stärke durchsetzen, dass es erst jetzt bröckelt?

Vor den Wahrheits- und Wiedergutmachungskommissionen dieselben verachtenden Sätze wie nach dem Zweiten Weltkrieg während der Nürnberger Prozesse. "Man hat dem Vorgesetzten nicht widersprochen."; "Dass Menschen während der Apartheid gefoltert wurden, ist auf die Initiative einiger weniger Individuen zurückzuführen", behauptet ein ehemaliger Vorsitzender der National Party. "Ich wusste von nichts." Wenn, ausnahmsweise, von Tätern eine gewisse Brutalität eingestanden wurde, dann nur, um im nächsten Satz die eigene Unschuld durch Normalitäten zu rechtfertigen. "Ja, unsere Methoden waren vielleicht ungesetzlich, aber sie waren weit verbreitet." "Es gibt im Krieg keine Regeln. Nur die, dass man gewinnt." Unter diesen Umständen branntmarkte man demokratische Aktivisten eben als staatsuntergrabende "Terroristen". Reue für das brutal und zu Unrecht Begangene? Nein. Nur die Angst, nachträglich bestraft zu werden. Was ein Wort, noch heute, legitimieren kann ...

Bedeutet der Versuch der Wiedergutmachung, diese Täter für ihre Morde zu bestrafen, oder bedeutet er, diese Denke abstellen zu wollen?

"Warum haben sie ihre Frauen nicht dabei?", fragen sich Mütter gegenseitig, als sie die Zeugenaussagen der Mörder (nein: es lässt sich nicht anders sagen) ihrer Kinder vor der Kommission hören. "Wollen sie nicht, dass sie hören, was ihre Männer getan haben?" Die Frage muss sich leider verallgemeinern lassen: Offenbar wollten nur wenige Afrikaaner wissen, was sie getan haben, was ihr Regime getan hat. An ihren Besucherzahlen zu den öffentlichen Kommissionsverhandlungen gemessen, kann noch nicht einmal mehr von "geringem" Interesse eine Rede sein, sondern von kollektivem Desinteresse. Vielleicht fürchteten sie sich vor fremden Wahrheiten, die sich mit ihren nicht decken.

All das bestätigt mich in dem, was ich in den vergangenen beiden Wochen in mehreren Varianten geäußert habe: (wie) kann ich etwas verstehen, dass ich selbst nicht erlebt habe? Es wirft mich zurück auf diese eine Aussage einer Mutter: Wenn sie [die Mörder ihrer Kinder] keine Toten zu beklagen haben - woher wollen sie wissen, wie es ist, zu leiden?

Samuel Bechstein hat gesagt… said:

25. Juni 2008 um 13:17  

Diffuse Gedanken zum Text.
Kann die Bevölkerung lernen?
Hat sich in den grundlegenden Verhatens Strukturen der Menschen
etwas dauerhaft verändert?
Wohl kaum. Es ist immer das gleiche.
Ob Süd Afrika, China, die USA, oder Deutschland. Ob Russe, Bolivianer, oder Türke. Wir Menschen tappen doch immer wieder in die gleichen Fallen unserer Natur, oder besser, der Natur überhaupt.Fressen und gefressen werden.Der Stärkere hat im immer die Macht.
Und die Leugnungs und Tat strukturen sind seid anbeginn der Menschheit wohl immer die selben.
Der Wille zur Macht, und die Armut sind die äüßeren, die Natur des Menschen die Inneren Ursachen für unser selbstgemachtes Elend.
Der Fortschritt, die Aufkährung haben diese Dinge nur effizienter gemacht. Die Armut ist krasser geworden in ihren Ausprägungen, genauso wie die Machtverhältnisse in der Globalisierten Welt. Humanisten wie Du lieber Lyam kämpfen dagegen an. Und es ist gut so. Doch was kann man dabei anderes ernten als Angst und Verbitterung.
Die Menschen sind schwach. Sie können nicht wirklich lernen. Und je ärmer ein Individuum ist, je beschränkter ist es in seiner Wahrnehmung. Wer arm ist, ist ersteinmal interessiert sich selbst zu helfen.
Ist es wirklich Desinteresse, wenn bei diesen späten Prozessen die Du beschrieben hast, sich so wenig ehenmals betroffene Menschen sich dafür interessieren? - Sichr auch.
Doch zu einem großen Teil dürfte es ebenso der wille am Vergessen an eine dunkle Südafrikanische Zeit sein. Von den armen in diesem land will ich gar nicht erst anfange.
Wer täglich aufs neue unmittelbar für das Auskommen von sich und seienen nächsten kämpft, der hat die Zeit einfach nicht, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen.
Die Folterknechte, die hier beurteilt und verurteilt werden, sind sie nicht Menschen wie ihre Opfer. Nur das sie einen anderen Lebensweg haben oder hatten?
Als wir gestern darüber sprachen, kam mir eine Reportage in den Kopf, die ich einemal über einen südafrikanischen Polizisten der Apartheit gelesen hatte.
Er war genau so ein Folterkencht.
Mit schlimmen Aklohol Problemen und ständigen Flashbacks seiner selbst verschuldeten Traumata.
Wer andere Menschen straft, der straft sich selbst. Der Mensch ist gleich. Nur die einzelne Leben ist stets verschieden.
Und so kann man sich zwar verstehen. Wirklich nachvollziehen kann man den anderen nie.
Ich sehe die Chance darin, dass wir Menschen in unseren Verhaltensmustern eben so gleich, oder zumindestens so sehr ähnlich sind. Da denke ich muss man ansetzen. Doch zuerst muss man sie verstehen lernen, diese gleichheite. Und da gilt es eben auch einen Nazi zu verstehen. Oder eben jene ehemaligen Folterknechte aus Südafrika.
Bestrafen und verurteilen ist leicht. Die mechanismen die dahinter stecken, sind es welche es meiner ansicht nach glilt anzusehen. Denn nur was man versthet, kann man auch effizient beinflussen und steuern.

Willyam hat gesagt… said:

2. Juli 2008 um 00:37  

Wenn Du es gelten lässt, dass „diffus“ nicht nur verstreut, sondern auch ver(w)irrt bedeuten kann, antworte ich wohl in derselben Stimmung: Zu einem Teil stimme ich Dir zu, erkenne mich wieder: Die Menschen sind schwach. Sie können nicht wirklich lernen. Ja: Leid und Schuld sind konkret; man kann sie kaum in die Geschichte hinüberretten und aus ihnen Konsequenzen für das eigene Denken, geschweige denn: das eigene Handeln ziehen. Andererseits bleibe ich unwillig, dieses Eingeständnis als letztendliche Wahrheit zu akzeptieren. Für diese Resignation gibt es aus meiner „europäisch“ oder „abendländisch“ geprägten Perspektive heraus keine Rechtfertigung. Für mich klingt in solchen Ansichten immer ein Stück Gemütlichkeit und Selbstgefallen mit: Der Forderung nach weltweitem Frieden und Verständnis stimmt man gerne, vielleicht sogar mit Vehemenz zu – aber die Umsetzung verpasst man, weil man an der Veränderung des eigenen Lebensstandards scheitert. Gilt es nicht, unsere Weltsicht zu ändern, zu begreifen, dass der „Ausnahmezustand“, in dem wir leben, die Regel ist, wie Walter Benjamin es formuliert hat? Dass wir erst mit einer veränderten Wahrnehmung unsere Aufgabe, die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen haben können?

Die Konzentration auf die Mechanismen, die Menschen zum Mensch – oder auch genau in der Umkehrung: zum Barbaren – machen, teile ich. Gerade aber tut sich in mir die Sorge auf, ob man mit einem allzu strengen Blick auf die Lebenswege den Einzelnen „unstrafbar“ macht. Und bewegt man sich mit diesem Schritt nicht auch schon auf die Auferlegung einer abstrakten „Kollektivschuld“ zu, die alle und niemanden zugleich verurteilt? Auch ein Kind seiner Zeit bleibt ein Kind und entfaltet sein eigenes Potenzial.