RE: Hilfloser Zuschauer

Manche Fragen geben nach kurzer Zeit einen Hinweis auf die Richtigung ihre Beantwortung. So auch die, wie man aus der Entfernung zur "Situation", zu den anhaltenden Spannungen, die den Nahost-Konflikt kennzeichnen und schüren, Stellung beziehen kann. Zur Auffrischung das Zitat Slavoj Žižeks (nach wie vor via), das ich sofort wieder unterschrieben würde:

Wenn man die israelische Besetzung der Westbank bedingungslos ablehnt, sollte man die antisemitischen Übergriffe in Westeuropa, die sich selbst als “exportierte Intifadah”, d.h. als Solidaritätsbekundung mit den unterdrückten Palästinensern rechtfertigen, genauso bedingungslos ablehnen (von Angriffen auf Synagogen in Deutschland bis zu Hunderten von antisemitischen Vorfällen in Frankreich im Herbst 2001). Man darf hier kein “Verständnis” zeigen. Es darf keinen Platz geben für die Logik des “Aber man muß die Angriffe auf die Juden in Frankreich als eine Reaktion auf das brutale Vorgehen der israelischen Armee verstehen!”, genauso wenig wie für die Logik des “Aber man kann die militärische Reaktion ja verstehen; wer hätte keine Angst nach dem Holocaust und zweitausend Jahren Antisemitismus!” Auch hier sollte man sich der doppelten Erpressung widersetzen: Wenn man für die Palästinenser ist, ist man eo ipso antisemitisch, und wenn man gegen den Antisemitismus ist, muß man eo ipso pro Israel sein. Die Lösung ist nicht ein Kompromiß, das “rechte Maß” zwischen den beiden Extremen, sondern man muß beide Projekte radikal bis zum Schluß verfolgen, die Verteidigung der Rechte der Palästinenser und die Bekämpfung des Antisemitismus.

Meine Skepsis: Sicherlich muss man. Obowohl ich dazu neige, die Aussage durch den Konjunktiv zu entkräften: Sicherlich müsste man. Die traurige Frage dahinter lautet schließlich doch: Aber wie von hier aus dazu beitragen?

A Goy's World ist da sehr viel pragmatischer als ich und abonniert (leite ich zumindest aus dem in der Fußzeile gesetzten Verweis) die Feeds des Middle East Media Research Institute (MEMRI). Ein sehr gutes Projekt, das keines wäre, würde es durch seine Arbeit nicht unmittelbar neue Fragen aufwerfen: Bei aller Radikalität, die man Zizek zufolge für die eine und andere, für die israelische und die palestinensische Sache aufbringen muss, bleibt offen, mit wessen Radikalität man mögliche Lösungen verfolgen sollte. Etwa mit der, die der Hamas-Sender Al-Aqsa ausstrahlt? Oder vielleicht der, die mir der ägyptische Sender Al-Nas anbietet?

kurz notiert: Gabriele Basilico

Ich blicke auf/in ein menschenleeres Berlin: graustufig, aber nicht blass, nüchtern, und doch nicht neutral. Eher: leblos, vielleicht sogar: öde. Die Zuschreibung, die mir Gabriele Basilico dagegen für die Stimmung anbietet, die seine Bilder in mir wachrufen: „entschleunigt“. Aber auch seiner Blickanweisung zum Trotz vermag sich in mir keine Schwerelosigkeit, die ich „entschleunigt“ nennen würde, einzustellen. Die Zeit scheint nicht angehalten, die Stadt nicht still zu stehen. Was Basilicos Bilder einfangen, ist keine Ruhe, sondern, wenn man überspitzt destruktiv sein möchte, ein Ableben. Ich erkenne Straßen, Plätze, Gebäude, kann sie benennen und verorten, so vertraut bin ich hier inzwischen. Wäre das nicht Berlin, sondern München, Hamburg, Dresden, der Ruhrpott, käme mir dieser sträubende Gedanke nicht, aber das, was ich sehe, soll Berlin sein, der Sesshafte in mir fragt mich: Ist das die Stadt, in der du zu Hause bist? Ich verweigere Basilico meine Anerkennung. Nein: meine Stadt sieht anders aus.

Ich habe Vorbehalte, ganz offensichtlich, wie schon bei meiner Begegnung mit Jeff Wall. Aber ich habe gelernt, nerone sei dank sehr viel sogar. Ich weiß inzwischen: Wall muss ich achtsam verfolgen, um ihm nachzuspüren, um zu erkennen, wen er gerade zitiert, um in die Lebendigkeit seiner Arbeiten eintauchen zu können. Basilicos Auge dagegen ist stark durch seine Ausbildung vorgeprägt: er ist studierter Architekt. Ich muss fast ein Duzend seiner Photographien betrachten, um meine Abwehr, meine Ablehnung, meine Distanziertheit zu hinterfragen und schließlich zu überwinden.

Basilicos entschleunigte Bilder sind kein objektgewordenes zeitgeistkritisches Manifest. Weder Gefühl – meine projizierte Melancholie gegenüber der Rastlosigkeit der Moderne – noch Programmatik – könnte man Basilico in die Nähe zur Neuen Sachlichkeit, zu Becher und Struth rücken? – enträtseln für’s Ganze Entstehung und Absicht seiner Arbeiten. Nur indirekt sind sie eine Bestandsaufnahme der Gegenwart. Basilico will unsere Aufmerksamkeit auf die Stadt als gewachsene Stadt lenken, auf eine Stadt, die Bauwerkensemble, Gebäudeschaft, geworden ist. Er versteht Architektur als Ausdruck sozialer Werte und Utopien, als Spur und Indiz ideologischer, politischer Systeme und Entscheidungen, mit einem Wort: als gebaute Geschichte.

Das einzelne Bild ist daher ohne Aussage. Ihre Wirkung entfaltet Basilicos Arbeit allein in der Sammlung, in der Ausstellung der Bilder im Ensemble. Erst neben- und hintereinander ausgestellt oder abgedruckt beginnen seine Arbeiten ihre Erzählungen preiszugeben: wenn einzelne Motive der Stadt zueinander in Dialog treten und die individuelle Architektur im entkontextualisierten semiotischen Netz in einer „globalen Rhetorik der Formen“ aufgeht.

[Ende der Notiz]

Einführung in die Ernährungslehre. Heute: Fisch

Ich würde mich nicht als grünen Aktivisten bezeichnen, auch wenn ich schon versuche, so umsichtig wie möglich zu konsumieren, vor allem in Sachen Ernährung. Bio ist zwar teuer, aber wer behauptet, sich noch nicht einmal gelegentlich das ein oder andere ökologisch produzierte Produkt leisten zu können, hat in meinen Augen ein großes Stück gesellschaftlicher und politischer Glaubwürdigkeit verloren.

Die Liste der Lebensmittel, bei deren Einkauf man aufmerksam auf die Herkunft achten muss, ist lang, sehr lang; Fisch gehört wohl unfraglich dazu. Die NY Times (via): Worldwide, the United Nations Food and Agriculture Organization estimates that 75 percent of fish stocks are overfished or fished to their maximum. Dazu trägt auch unser, also europäisches Konsumverhalten maßgeblich bei: "As Europe has sought to manage its fisheries and to limit its fishing, what we’ve done is to export the overfishing problem elsewhere, particularly to Africa [...], wird dort die Londoner Environmental Justice Foundation zitiert. Der Fisch stinkt einmal mehr ganz offensichtlich vom Kopf her. Wie, warum und mit welchen Konsequenzen en Detail:

- "Europe Takes Africa’s Fish, and Boatloads of Migrants Follow", NY Times.

- "Regulating the Global Commons – Part I: To stop the oceans from being fished out, sovereignty must be reigned in", Yale Global.

Guten Appetit.

Inhaltsfragen

Wenn ich in der Vergangenheit die Kompatibilität von Demokratie und Kapitalismus hinterfragt habe, überrascht mich das, was ich heute in der FAZ lese, nicht wirklich: Die kleinen Parteien werden sich vor künftigen Wahlen nicht mehr darauf festlegen lassen, mit wem sie regieren wollen. Ein Schritt, der wie folgt kommentiert und bewertet wird: Hinter diesem Strategiewechsel steckt die Einsicht, dass die Gesetze von Angebot und Nachfrage auch in der Politik gelten. Wer mit seinem Wahlkampfschlager ein gutes Ergebnis erzielt, kann einen entsprechenden Preis für seine Regierungsbeteiligung herausschlagen. Und Extrazuschläge gibt es sogar, wie man gerade in Hamburg sieht, für einen Lagerwechsel. Für die CDU sind die Grünen teurer als für den „natürlichen Partner“ SPD. Umgekehrt muss die SPD den Freien Demokraten mehr bieten als die CDU.

Bleibt daraufhin also nur noch die Einsicht umzusetzen, sich als Wähler in Zukunft genauso flexibel, undurchsichtig, kalkulierend, kompromissbereit zu verhalten?


NACHTRAG 27. März: Aus der Netzeitung erfährt man (via): Der Umzug des Springer-Blatts «Bild» nach Berlin wird nach Einschätzung des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz den journalistischen Konkurrenzkampf in der Hauptstadt verschärfen. Offenbar aber nicht nur den journalistischen: Auch [...] die Amtsträger selbst erlägen immer häufiger der Versuchung, mit Hilfe des Fernsehens und «Bild» zu regieren. «Politiker sind sehr viel mehr bereit als früher, ihre gezielten Indiskretionen in 'Bild' zu platzieren. Im Grunde ist jeder bereit, zum Franz Beckenbauer der Politik zu werden.» Ich bin gespannt, wie (spürbar) sich der "Stimmenmarkt", äh: die Politik, entschuldigung!, verschiebt, verbiegt ...

Toussaint, Der Photoapparat

[...] Wir flogen bereits seit einer halben Stunde, und durch die Seitenfenster sah ich auf den sonnenüberfluteten blauen Himmel oberhalb der Wolkendecke, die von oben so monoton erschien wie eine Gletscherlandschaft, weiß und hart, keinesfalls flauschig, sondern Umrisse und Formen wie Gebirgskämme, ein unebenes verödetes Relief, dessen Höcker die Sonne sanft beschien. Weiter entfernt an der Seite verlor sich der Horizont im Nichts, in einem derartig wunderlichen Blau, so glatt, so nah und doch unendlich weit weg, ganz unergründlich un unzugänglich. Das Flugzeug schien förmlich in der Luft zu stehen, nichts bewegte sich rings umher, und an mein Seitenfenster geneigt, ertränkte ich meine Gedanken in diesen ebenso unbegreiflichen wie anziehenden Luftgebliden, dachte, daß ich, wenn ich den Photoapparat behalten hätte, jetzt Aufnahmen dieses Himmels machen könnte, lange gerahmte Rechtecke, alle gleichförmig blau durchscheinend, fast durchsichtig, von jener Transparenz, die ich schon einmal so sehr ersehnt hatte, als ich vor Jahren den Versuch unternahm, eine Photographie zu machen, eine eizige, eine Art Portrait, wahrscheinlich ein Selbstportrait, aber ohne mich oder irgend jemand anderen darauf abgebildet, sondern nur eine umfassende, nackte Präsenz, schmerzvoll und schlicht, ohne Hintergrund und fast lichtlos. Und während ich weiter unverwandt aus dem Fenster schaute, wurde mich klar, daß ich dieses Foto neulich auf dem Schiff gemacht hatte, daß es mir in dieser Nacht gelungen war, es mir und dem Augenblick zu entreißen, als ich, die Treppen des Schiffs emporrennend, wie bewußtlos photographierte und doch gerade da mich von dieser Photographie befreite, auf die ich so lange gehofft hatte und von der ich jetzt nur begriff, daß ich sie, die unentwirrbar und unzugänglich in den Tiefen meines Seins verborgen lag, mitten aus einem plötzlichen Aufblitzen des Lebens gegriffen hatte. Es war gleichsam die vollkommene Aufnahme meines gewaltigen Elans, den ich in mir barg, und zeugte doch schon von der Unmöglichkeit, die ihm folgte, von dem Scheitern all dessen, was er bewirkte. Denn man würde mich fliehen sehen auf jenem Photo, ich würde mit äußerster Kraft fliehen, meine Füße würden über die Stufen springen, meine Beine über die Metallrinnen der Schiffstreppe fliegen, alles wäre unscharf und doch erstarrt, jede Bewegung eingefroren, nichts bewegte sich mehr, ich wäre nicht anwesend, aber auch nicht abwesend, das ganze Spektrum der Bewegungslosigkeit, die dem Leben vorausgehende und ihm folgende, wäre zu sehen, kaum weiter entfernt als in diesem Augenblick der Himmel unter meinen Augen.

aus: Jean-Philippe Tousaint, Der Photoapparat, Frankfurt: Suhrkamp, 1994.

Global Voices

Durch meine Beschäftigung mit der digitalen Bohème (die's ja als nur Selbststilisierung gibt) bin ich via Netzpolitik auf das Projekt Global Voices Online aufmerksam geworden. Recht, aber nicht hundertprozentig überzeugend fand ich das Interview mit Mitbegründer Ethan Zuckerman, das Andrea Goetzke führte. Irgendwie glaube ich nach wie vor nicht so wirklich an den öffentlichen Willen zum politischen Engagement. Was ich aber doch denke: Hinter Global Voices Online steckt definitiv mehr als ein blasses "Bloggen für eine bessere Welt". Es hält dem mehr als mageren Wissensstand, der um ein Vielfaches durch das anhaltende Aufmerksamkeitsdefizit für Entwicklungen und Stand der Dinge verstärkt wird, einen Spiegel vor und beweist, dass man sich informieren kann, wenn man nur möchte.

Was mich wiederum skeptisch stimmt: Ethan Zuckerman & Co. lehren und forschen am Berkman Center for Internet and Society an der Harvard Law School. Zuckerman dazu: Berkman is a remarkable institution - it's a think tank for folks who effect change as well as study phenomena. A number of my favorite people in the world of technology and international development hang their hats there and, as a result, it's a great place to explore activist and research ideas. Worauf ich hinaus will, machen seine Worte zu einem seiner weiteren Projekte deutlich: Geekcorps was my main project until quite recently. It's an international non-profit organization that transfers tech skills from geeks in developed nations to geeks in emerging nations, especially entrepreneurial geeks who are building small businesses. In other words, it's a Peace Corps for geeks. Das Anliegen in allen Ehren - The program has successfully created models for sharing Internet using locally-made wireless antennas, BottleNet, implemented web-based solutions for radio stations, created low-cost internet systems for rural radio stations and is working to create small enterprises to support these technologies - bleibt einer sehr kleinen Elite gewidmet; gibt es nicht dringlichere Probleme, für die konkrete Lösungsansätze fehlen? Andererseits: Die Vision, anstelle eines Sprechens für die "Dritte Welt" das Sprechen der "Dritten Welt" für sich selbst durchzusetzen ist genau das, was ich sofort unterschreiben würde (wobei aber auch hier die gewichtige Frage zu stellen bleibt, inwiefern "modern" orientierte Elite repräsentativ für ihre jeweiligen Gesellschaften sprechen. Ganz offensichtlich: Ich bin g e s p a l t e n.

Ungemütlich ...

... ist der Gedanke, der mir im Zuge der Kenianischen Politrätselei bewusst geworden ist. Könnte es sein, dass Demokratie der Forderung nach ultimativer Repräsentanz nur bedingt nachkommen kann, ja: ihrer Stabilität halber sogar nur bedingt nachkommen darf bzw. muss?

Als These formuliert: Je repräsentativer das politische System, desto gebrechlicher seine Machtbasis. Je partikularer die Interessen des demos durch seine Vertretung vertreten werden, desto ohnmächtiger zwangsläufig die mit der Regierung des demos Beauftragten. Natürlich, wird man entgegenhalten dürfen - daher ja auch die Fünf-Prozent-Klausel, die ihre historische Berechtigung durch die Erfahrungen der Weimarer Zeit hat. Ihr Ziel [...] ist es, der Zersplitterung der Volksvertretungen durch kleine und Kleinstparteien und den damit verbundenen internen Konflikten entgegenzuwirken.

Die gegen ihre Rechtsgrundlage hervorgebrachten Einwände aber wiegen meines Erachtens nach schwer: Wenn [...] nicht jede Minderheit gleich behandelt wird, widerspricht [das] dem demokratischen Grundgedanken, dass jede Minderheit sich demokratisch beteiligen darf und jede Stimme den gleichen Wert haben soll. Wer, beispielsweise, vertritt eigentlich über generalisierte Migrantenfragen hinaus die Belange Nicht-Deutscher Minderheiten ohne Wahlrecht; wer die türkisch-stämmige Minderheit? Und wer die in Deutschland lebenden Europäer?

Lösungen auf die Schnelle? Es gibt die Möglichkeit für Regelungen, mit denen sowohl das Ziel der Stimmenkonzentration als auch das Ziel der Widerspiegelung des Wählerwillens annähernd erreicht würde. Zum Beispiel könnte der Wähler durch die Angabe einer oder mehrerer Alternativstimmen festlegen, welche Partei seine Stimme bekommen soll, falls die von ihm bevorzugte Partei an der Sperrklausel scheitert (Stimmweitergabe-Option). Dies würde den Wählerwillen besser widerspiegeln und jede Stimme annähernd zum gleichen Erfolgswert führen.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Parteien die Möglichkeit erhalten, vor der Wahl (z.B. auf Parteitagen) durch einen Beschluss festzulegen, welcher anderen Partei ihre Stimmen zufallen sollen, falls ein eigener Einzug ins Parlament an der Sperrklausel scheitert. Eine Festlegung vor der Wahl ist dabei sinnvoll, da damit ein schnelles und klares Wahlergebnis erreicht wird und eine „Versteigerung“ von „freien“ Stimmen vermieden werden kann.


Alles in Allem: Sehr ungemütlich, dieser anhaltende Mangel an demokratischer Vision. Wäre es denn darüber hinaus nicht denkbar, bestimmten Interessensfraktionen, die innerhalb der Bevölkerung einen gewissen Zuspruch erleben, ihre (zugestanden: vielleicht nur marginale, aber dennoch selbstverständliche) parlamentarische Vertretung zuzusichern? So dass ich beruhigt wüsste, gewisse Anliegen seien zumindest mit einer halbwegs parteipolitischen Unabhängigkeit vertreten?

Was mir vorschwebt, sind nicht fünf Sitze für "Ein Herz für Tiere", sondern ein kleines demokratisches Fenster für parteiextern nominierte Ausländerbeauftragte, außerparlamentarische Expertenstimmen usw. (Und könnte man damit - naive Frage - unter Umständen nicht sogar der Undurchsichtigkeit lobbyierender Gruppierungen begegnen?)

Zitiert: Lyotard

[...T]he need for proof becomes increasingly strong as the pragmatics of scientific knowledge replaces traditional knowledge or knowledge based on revelation. [...] A new problem appears: devices that optimize the performance of the human body for the purpose of producing proof [= Technologie; meine Anmerkung] require additional expenditures. No money, no proof - and that means no verification of statements and no truth. The games of scientific language become the games of the rich, on which whoever is wealthiest hast the best chance of being right. An equation between wealth, efficiency, and truth is thus established.

J.-F. Lyotard, The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, 1979, hier zitiert aus: Lawrecne Cahoone (Hrsg.), From Modernism to Postmodernism: An Anthology. Oxford: Blackbury, 1996, S. 496.

Hilfloser Zuschauer ...

Wie sich die eigene Meinung doch formt, während man noch im Begriff des Nachdenkens und Formulierens ist. Denn ursprünglich wollte ich auf folgende Meldung aus der Online-Ausgabe der NZZ reagieren:

Ein UN-Menschenrechtsexperte hat den palästinensischen Terrorismus in einem Bericht als «unvermeidbare Folge» der israelischen Besatzung bezeichnet.

Ich war überrascht über die Deutlichkeit der Kritik von so offizieller Stelle, in der ja üblicherweise ein eher beschwichtigend-diplomatischer Ton zu herrschen scheint. Weiter hieß es:

Dugard hat bereits in den vergangenen Jahren das israelische Vorgehen in den palästinensischen Autonomiegebieten scharf kritisiert. Im vergangenen Jahr verglich er die israelische Politik dort mit der Apartheid in Südafrika.

Meine Überraschung wuchs. Dugard stammt selbst aus Südafrika und sollte daher wohl um das anklagende Ausmaß seiner Querverweise wissen. Und gerade darum war ich mir sicher, dass diese Meldung in der deutschen Presse kaum Verbreitung finden würde. Und tatsächlich: keine Verweise auf Spiegel, Süddeutsche, Zeit & Verbandskollegiat; stattdessen Lektürestunde auf Lizas Welt.

Offenbar wiederholt Dugard seine Vorwürfe variationslos seit geraumer Zeit, wie ich von ihr lernte. Das allerdings ist nicht das Kernproblem, ihrer Aufmerksamkeit galt. Bei aller Einseitigkeit, die man Dugards Berichten unterstellen mag, spiegelt seine vehemente Verurteilung israelischer Besatzungspolitik auf sehr deutliche Art und Weise eine leidliche Neigung des Organs wider, das er vertritt: Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen disqualifiziert sich, ähnlich wie bereits seine Vorgängerin, die 1946 gegründete Menschenrechtskommission, selbst: In ihren Entschließungen wurden selbst derbste Verbrechen von Mitgliedsstaaten und deren Verbündeten nicht verurteilt. Dafür hatte sie sich mehrheitlich und dauerhaft – wie könnte es anders sein? – auf Israel eingeschossen und den jüdischen Staat fortwährend ärgster Knechtung der Palästinenser bezichtigt.

Eher blamabel für Liza ist leider nur, dass die zitierten Medien (u.a. die SZ) den Vorwurf einseitiger Stellungnahme nicht unterstreichen. Auch dem Verweis auf die Nichtregierungsorganisation United Nations Watch, für den ich ursprünglich großes Lob aussprechen wollte, stehe ich inzwischen mit Skepsis gegenüber. Zwar hat ihr Executive Director Hillel Neuer zweifelsohne Recht, in seiner Abrechnung mit dem Menschenrechtsrat [...] seine[...] Verfasstheit zu verurteilen. Dass ihm zufolge die eigentliche Sprache und Idee der Menschenrechte [...] entstell[t] und [...] pervertier[t] würde, ist keine Unterstellung, sondern eine Tatsache, deren Realität die Vereinten Nationen immer wieder unter Beweis stellen, zuletzt nicht nur dadurch, dass sie Despoten als Vorsitzende sensibler Kommissionen fungieren lässt.

Hillers andere Anklage: Sie streben danach, die israelische Demokratie zu dämonisieren, den jüdischen Staat zu delegitimieren, das jüdische Volk zum Sündenbock zu degradieren.

Es sei mir erlaubt, ohne das übergeordnete Engagement der Organisation grundsätzlich in Frage zu stellen, doch auf eventuelle "Voreingenommenheiten" im Hinblick auf die Konfliktregion Naher Osten hinzuweisen. United Nations Watch ist nicht irgendeine unabhängige, überparteiliche Institution, sie ist ein Ableger des American Jewish Committee.

Das alles bringt mich schlussendlich dazu, keine Schlüsse mehr ziehen zu wollen. Ohne die Region zu kennen, ohne mit beiden Kulturen auch nur annähernd vertraut zu sein, und die Entwicklungen allein durch den Zerrspiegel der Interessen wahrnehmen zu können, bleibt mir meinem Gefühl nach nur der Rückzug hinter Generalpositionen wie die Slavoj Žižeks (via):

Wenn man die israelische Besetzung der Westbank bedingungslos ablehnt, sollte man die antisemitischen Übergriffe in Westeuropa, die sich selbst als “exportierte Intifadah”, d.h. als Solidaritätsbekundung mit den unterdrückten Palästinensern rechtfertigen, genauso bedingungslos ablehnen (von Angriffen auf Synagogen in Deutschland bis zu Hunderten von antisemitischen Vorfällen in Frankreich im Herbst 2001). Man darf hier kein “Verständnis” zeigen. Es darf keinen Platz geben für die Logik des “Aber man muß die Angriffe auf die Juden in Frankreich als eine Reaktion auf das brutale Vorgehen der israelischen Armee verstehen!”, genauso wenig wie für die Logik des “Aber man kann die militärische Reaktion ja verstehen; wer hätte keine Angst nach dem Holocaust und zweitausend Jahren Antisemitismus!” Auch hier sollte man sich der doppelten Erpressung widersetzen: Wenn man für die Palästinenser ist, ist man eo ipso antisemitisch, und wenn man gegen den Antisemitismus ist, muß man eo ipso pro Israel sein. Die Lösung ist nicht ein Kompromiß, das “rechte Maß” zwischen den beiden Extremen, sondern man muß beide Projekte radikal bis zum Schluß verfolgen, die Verteidigung der Rechte der Palästinenser und die Bekämpfung des Antisemitismus.

Sicherlich muss man. Obowohl ich dazu neige, die Aussage durch den Konjunktiv zu entkräften: Sicherlich müsste man. Die traurige Frage dahinter lautet schließlich doch: Aber wie von hier aus dazu beitragen?

Gibt's nicht: "Digitale Bohème"

Es ist schon einige Zeit her, dass ich - wenn auch nur mit einem sehr sporadischen Ansatz - versucht habe, Parallelen zwischen der Decadénce der vorletzten Jahrhundertwende und der Selbststilllegung der Postmoderne zu ziehen. Jetzt erst habe ich begriffen, dass diese Historisierung nicht Zuschreibung, sondern Selbstbeschreibung ist: Junge, kreative und dynamische Selbstständige sehen sich als heutzutage als "digitale Bohèmes". Man vermute also keinen misanthropischen Pessismismus hinter dieser Vereinahmung, im Gegenteil - wer digitaler Bohèmien ist, ist, glaubt man Mercedes Bunz, mittendrin statt nur nur dabei: hip, hoch qualifiziert, diffus kreativ und arm.

Das feuilletonkompatible[...] Label geht auf Holm Friebe und Sascha Lobo zurück; ihr Buch Wir nennen es Arbeit – die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung versteht sich als Begründungsmanifest: ETWAS BESSERES ALS DIE FESTANSTELLUNG FINDEN WIR ÜBERALL!, stimmt folglich auch die Buchvorstellung ein: Sie verzichten dankend auf einen Arbeitsvertrag und verwirklichen den alten Traum vom selbstbestimmten Leben. Mittels neuer Technologien kreieren sie ihre eigenen Projekte, Labels und Betätigungsfelder. Das Internet ist für sie nicht nur Werkzeug und Spielwiese, sondern Einkommens- und Lebensader: die digitale Boheme. Ihre Ideen erreichen - anders als bei der früheren Boheme - vor allem über das Web ein großes Publikum und finanzieren sich damit. Ein zeitgemäßer Lebensstil, der sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. [...] Immer mehr junge Kreative entscheiden sich für das Leben in Freiheit. Ihr Hauptziel ist nicht das Geldverdienen, sondern ein selbstbestimmter Arbeitsstil, der den eigenen Motiven folgt - in unsicheren Zeiten vielleicht die überlegene Strategie. Denn ihre enge Einbindung in soziale, künstlerische und digitale Netzwerke bringt ständig neue, teilweise überraschende Erwerbsmöglichkeiten mit sich. Sie schalten Werbebanner auf ihren Websites, handeln mit virtuellen Immobilien, lassen sich Projekte sponsern oder verkaufen eine Idee an einen Konzern. Ihre Produkte und ihre Arbeitsweise verändern den Charakter der Medien und des Internets, bald auch den der Gesellschaft. Holm Friebe und Sascha Lobo porträtieren die digitale Boheme: Sie stellen erfolgreiche Konzepte und innovative Ansätze vor und erklären wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklungen und Hintergründe. Ihre spannende Analyse einer zukunftsgewandten Daseinsform inspiriert dazu, so zu arbeiten, wie man leben will.

Klingt nett, ist aber harmlos. Der gefühlten Verwandtschaft zur "analogen Bohème" liegt der Irrtum zugrunde, die Bedeutungen von kreativ und künstlerisch seien synonym verwendbar. Es ist die "creative industry", in steifem Deutsch: die "Kreativwirtschaft", die sich hier neu definiert - und nicht der künsterlische Außenseiter, der in seiner Arbeit eine zeitgemässe Form für die Formulierung (gesamt)gesellschaftlicher Kritik sucht. Man arbeitet ausdrücklich nicht an einer Gegenkultur, weil man mit der Kultur den Kapitalismus nicht umhaut. Lobo ist selbst bester Repräsentant dieses "Kreativmainstreams": Nicht nur ist er Mitherausgeber und verantwortlicher Redakteur des mit dem Adolf-Grimme-Preis prämierten Weblogs Riesenmaschine; darüber hinaus arbeitet [er] als freier Werbetexter und machte unter anderem eine Kampagne für die MTV-Serie „Popetown“. Während der New-Economy-Phase hatte er eine Werbeagentur.

Ich will es mir nicht einfach machen. Dass Beschäftigungssicherheit nur bedingt als Lockmittel für die Selbsterfüllungsträume der Kreativbranche wirkt, streite ich nicht ab. Aber die digitale Bohème ist keineswegs die prophetische Vorhut, für die sie sich ofenbar so gern ausgibt: im St. Oberholz oder auf 9 to 5 Festival-Camps vermittelt sie (sich selbst) das starke Gefühl, einen Zipfel der Zukunft in der (oft leeren) Hand zu halten und neue Formen der Arbeit zu antizipieren..

Natürlich, jede Geschichte kann man aus einer zweiten Perspektive umschreiben. Soziologen verhandeln das Ausloten der Eigenbedürfnisse zwischen Selbstverwirklichung und Lebensabsicherung unter dem Begriff der "Flexicurity", Mercedes Bunz sieht in den neuen Bohèmiens lediglich Penner, wenn auch keine digitalen: Sie streicht das Attribut "digital", um es durch "urban" zu ersetzen.

Der grundlegende Wunsch nach Autonomie bleibt für mich trotz unterschiedlicher Taufversuche nichts desto Trotz nachvollziehbar, sogar verständlich. Zugegeben: Bei intensiver Selbstbefragung wähne auch ich zumindest ansatzweise in mir einen digitalen Bohèmien, urbanen Penner oder Flexicurity-Besorgten. Aber ich mache daraus kein Profil, stilisiere mich nicht im Sankt Oberholz und arbeite mit meinem Apple an meiner Selbstdarstellung. Die Selbstverliebheit der digitalen Bohème hält sie gründlich davon ab, die Grenzen ihres Wunsches nach Selbstverwirklichung zu erkennen: [...] auch wenn sie sich Gedanken über die Strukturen der neuen Öffentlichkeit machen, auch wenn sie in den Röhren der Kommunikation stecken [...] - [a]us diesem Pool der vernetzten kreativen und Freiberufler wird kein neuer Jürgen Habermas kommen [...].

Wovon die digitalen Bohèmiens also erfasst sind, sagen mir meine bisherigen Praktika- und Mitte-Erfahrungen, ist nicht die Ankündigung einer donnernden Revolutionswelle, sondern der anhaltende Teenagersozialismus verwöhnter Wohlstandserben. Webdesigner, Kreative, Blogger, Grafiker usw. usf. die gelegentlich, oder so oft sie können, in mit WLAN ausgestatteten Cafés arbeiten, schreibt Thomas Matterne so schön pointiert, sind keine Bohemiens, sie sind schlicht Freiberufler.

Kenianisches Politrätsel - Nachtrag

Isch 'abe ferrtig. Im eingereichten Essay habe ich zwar von der Polemik der vergangenen Posts entfernt, am grundsätzlichen Argument aber doch entschieden festgehalten. Einzig einen Nachtrag wollten ich anfügen. Dieser berührt nicht so sehr den Essay als vielmehr meine allgemeine Absage an die quantitativ-vergleichenden Methoden, deren sich die Politikwissenschaften für ihre innig verehrten Indices bedienen. Ich halte daran fest, dass man in der selbstgefälligen Überzeugung an die vermeintlich objektive Sprache der Zahlen Unvergleichbares vergleichbar macht. Meines Erachtens gibt es da nichts zu verteidigen. Um so konsternierter durfte ich nun lesen, wie der gute Spiegelfechter, der, wenn mich mein Eindruck nicht vollkommen täuscht, ja einige Anerkennung genießt, just so eine subjektive Verteidigung vornimmt: Für ihn ist die entscheidende Frage offenbar nur die, wer hinter und für die Qualität der Datenerhebung steht. Dass er es sich so einfach macht ...