Global Voices

Durch meine Beschäftigung mit der digitalen Bohème (die's ja als nur Selbststilisierung gibt) bin ich via Netzpolitik auf das Projekt Global Voices Online aufmerksam geworden. Recht, aber nicht hundertprozentig überzeugend fand ich das Interview mit Mitbegründer Ethan Zuckerman, das Andrea Goetzke führte. Irgendwie glaube ich nach wie vor nicht so wirklich an den öffentlichen Willen zum politischen Engagement. Was ich aber doch denke: Hinter Global Voices Online steckt definitiv mehr als ein blasses "Bloggen für eine bessere Welt". Es hält dem mehr als mageren Wissensstand, der um ein Vielfaches durch das anhaltende Aufmerksamkeitsdefizit für Entwicklungen und Stand der Dinge verstärkt wird, einen Spiegel vor und beweist, dass man sich informieren kann, wenn man nur möchte.

Was mich wiederum skeptisch stimmt: Ethan Zuckerman & Co. lehren und forschen am Berkman Center for Internet and Society an der Harvard Law School. Zuckerman dazu: Berkman is a remarkable institution - it's a think tank for folks who effect change as well as study phenomena. A number of my favorite people in the world of technology and international development hang their hats there and, as a result, it's a great place to explore activist and research ideas. Worauf ich hinaus will, machen seine Worte zu einem seiner weiteren Projekte deutlich: Geekcorps was my main project until quite recently. It's an international non-profit organization that transfers tech skills from geeks in developed nations to geeks in emerging nations, especially entrepreneurial geeks who are building small businesses. In other words, it's a Peace Corps for geeks. Das Anliegen in allen Ehren - The program has successfully created models for sharing Internet using locally-made wireless antennas, BottleNet, implemented web-based solutions for radio stations, created low-cost internet systems for rural radio stations and is working to create small enterprises to support these technologies - bleibt einer sehr kleinen Elite gewidmet; gibt es nicht dringlichere Probleme, für die konkrete Lösungsansätze fehlen? Andererseits: Die Vision, anstelle eines Sprechens für die "Dritte Welt" das Sprechen der "Dritten Welt" für sich selbst durchzusetzen ist genau das, was ich sofort unterschreiben würde (wobei aber auch hier die gewichtige Frage zu stellen bleibt, inwiefern "modern" orientierte Elite repräsentativ für ihre jeweiligen Gesellschaften sprechen. Ganz offensichtlich: Ich bin g e s p a l t e n.

mspro hat gesagt… said:

17. März 2008 um 16:02  

Wenn man Technologie für mehr als nur Spielerei oder den notwendigen Kapitalismusmotor hält, könnte man auf die Idee kommen, in ihr steckten emanzipatorische Potentiale.

Und wenn man darüber hinaus Wasser- und Ernährungs- und Bildungsprobleme der Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika, zwar für essentiell und dringend erachtet, aber dennoch als Symptom von Korruption, sinnlos geschürten Kriegen und der Abhängigkeiten von den Industrienationen wertet, könnte man auf die Idee kommen, dass das Projekt in die richtige Richtung geht.

Erster und wichtigster Vertreter dieser Ansichten ist sicher Negroponte. Vor vielen Monden habe ich mich zu diesen Ansichten kritisch geäußtert. Bin mir heute aber nicht mehr so sicher.

Willyam hat gesagt… said:

17. März 2008 um 18:32  

Ja, Du hast Recht, mehr als Recht. Privilegierte Perspektive, die ich da hier einnehme. Ich hab's jetzt Deiner Kritik zu verdanken, dass ich meine Spaltung näher benennen kann: Ich finde GVO gegenüber Negropontes OLPC, das Du ins Spiel gebracht hast, deutlich emanzipatorischer. Meine Vorbehalte beziehen sich wenig bzw. kaum auf den Technologietransfer an sich, sondern auf den durch die Technik möglichen Wissenstransfer. DAS ist meines Erachstens nach die entscheidende Frage: Vermitteln wir nur die Technik, oder mit ihr auch unseren eigenen Wissensstock?

Der ausführliche Wiki-Eintrag ist da einen ersten Verweis wert. Einführend heißt es dort: Der Leitgedanke ist, den Computer zu einer freien Wissensdatenbank und zu einem kindgerechten und vielseitigen Lernwerkzeug für die Schule umzugestalten und zusätzlich den Zugang zu modernem Wissen über digitalisierte, vielfältige Medien aller Art zu ermöglichen.

Genau was soll den Kindern eigentlich vermittelt werden? Ganz recht trägt man in Indien den grundsätzlichen Einwand vor: We need classrooms and teachers more urgently than fancy tools [...] "...If the Planning Commission has the kind of money that would be required for this scheme, it would be appropriate to utilize it for 'Universalisation of Secondary Education' [...]".

Darüber hinaus aber sehe ich folgendes eher problematisch: [...] virtually the whole world enters on demand. [...] Children can participate in the study of global issues while simultaneously using local context for understanding. They can fully participate as producers of knowledge and not just as consumers of materials produced by others. Übertragen wir hier nicht unsere Wissenswelten und -strukturen, unser Weltwissen in fremde Kontexte? Wieviel Sinn macht es (auch aus emanzipatorischer Sicht), all das Menschen zur Verfügung zu stellen, deren soziale Umwelt vollkommen anders, gänzlich unvergleichbar mit der unseren, strukturiert ist? Unser Bildungssystem, seine Konzepte sind keineswegs "kulturneutral" und universalisierbar. Im OLPC-Wiki
schenkt man diesem Punkt nicht einmal randläufige Beachtung.

mspro hat gesagt… said:

17. März 2008 um 19:06  

Das Problem sehe ich auch. Die Idee der Wissenszugänglichmachung ist, jedenfalls zur Zeit, immer eine Zugänglichmachung des eurozentristischen Kanaons und dessen Werten. Insofern gleicht eine solche Initiative fast eher einer Missionierung.

Andererseits: Ich meine, es gibt da eine zweite Seite der heutigen Technik, die über die Zugänglichmachung von Wissen hinausgeht, und deren emanzipatorisches Potential durchaus vorhanden ist und der anderen Seite entgegenstrebt.
Das Internet macht es eben auch möglich, selber zu publizieren. Wikis, Blogs, etc vermögen es eben auch dem kolonialisierten Einzelnen, wie auch der Kolonialisierten Kultur eine Stimme zu verleihen, ja eine Stimme vielleicht zu finden.

Ich muss dabei natürlich auch die Probleme ansprechen: vor allem mangelnde Alphabetisierung und natürlich transportiert auch die Technik als solche schon eurozentristische Strukturen und ist alles andere als neutral.

Aber man bedenke: auch unserer Kultur stößt das Internet gerade zu. Es ist keinesfalls so, als ob es unsere Ordnung nur einfach entsprechen würde und wir uns wie der Fisch im Wasser darin zu bewegen wüssten. Genaugenommen wissen wir derzeit nicht mal wirklich womit wir es eigentlich zu tun haben. Da bin ich sicher.

Willyam hat gesagt… said:

17. März 2008 um 23:23  

Daher ja auch mein "Entgegenkommen": Ich finde Zuckermans Global Voices deutlich emanzipatorischer weil demokratischer als Negropontes weltumspannenden Techniktransfer. Ich folge den GVO- Hin- und Verweisen seit zwei Tagen und ärgere mich wirklich sehr, dass ich nicht schon darauf gestoßen bin, als ich diesen ollen Essay für die BPB vorbereitet habe. Allerdings scheint beispielsweise dieser Blog und die Diskussion in den Kommentaren anzudeuten, dass sich die Diskussion auch vor Ort kaum um andere als die von unserer Seite angesprochenen Schwerpunkte bewegt. Das ist eine Erkenntnis, die sich schon im Rahmen unserer Colloquien angedeutet hat. Bei allem erfahreren und nach wie vor anhaltendem Leid höre ich immer wieder Variationen dieses (derzeit aktuellesten) Kommentars zu diesem Post: [...] what you don't seem to realize is that the negative images of Africa in the west discourage outsiders from investing in Africa. Think of India and China. They both have a proportion of their population living in poverty but there is considerable foreign investment which is slowly trickling down to the poor. Trust me, Africans need a way to earn a living not hand outs. Why is it so hard for you to understand that? Mit anderen Worten: Das Menschenrecht auf Bildung ist unverzichtbar, muss aber als Recht auf Selbstbildung konzipiert und verstärkt werden. Was bringt Englischunterricht mit Paul und Linda aus Liverpool, was der Chemie- oder Physikunterricht, wenn es weder fließend Wasser noch Strom gibt? Aber wie unendlich wertvoll wäre dagegen wiederum der Zugriff auf "hausmedizinisches" Laienwissen, dass unter Umständen bereits lebensrettend ist?

Darüber, dass das Internet auch bei uns gewaltige Verschiebungen provoziert, habe ich mir bei anderer Gelegenheit Gedanken gemacht - wenn auch nicht vor allzu vielen Monden ... :-) Ich meinte damals unter anderem:
Wie offenbar schon zu Platons und Nietzsches Zeiten sehen wir uns offenbar mit einem "radikalen Strukturwandel des Wissens" konfrontiert: "Wissen wird nicht einfach abgerufen, nicht von einem wohlbekannten Ort her bezogen, sondern muss eher gesucht und durch individuelle Auflösungs- und Rekombinationsstrategien jeweils neu hergestellt werden. [...] Die unübersichtliche Fülle von Informationen, die weltweit zur Verfügung steht und abrufbar ist, setzt förmlich voraus, dass wir unsere Fragen und unseren Bedarf an Wissen andauernd assoziativ und mit kreativem Blick für weiterführende Links in Echtzeit neu überdenken. [...] Informationen [bezieht man] auf die eigene Perspektive [...] und [formt sie] zu relevantem Wissen um[...]" (Armin Nassehi, "Von der Wissensarbeit zum Wissensmanagement - Die Geschichte des Wissens ist die Erfolgsgeschichte der Moderne", in: Christa Maar u.a. (Hrsg.), "Weltwissen - Wissenswelt: Das Globale Netz von Text und Bild", Köln: DuMont, 2000, S. 104).


Kurzum: Nassehis "radikaler Strukturwandel des Wissens" ist [...] zugleich auch ein radikaler Strukturwandel der Welterfahrung.

Und was für uns gilt, gilt erst Recht bei gleichzeitiger Kombination mit einem radikal technischen Srukturwandel - ohne dieses Eingeständnis bleibt Projekten wie OLPC in der Tat, wie Du meintest, ungewollt das Missionarische anhaften.