Gibt's nicht: "Digitale Bohème"

Es ist schon einige Zeit her, dass ich - wenn auch nur mit einem sehr sporadischen Ansatz - versucht habe, Parallelen zwischen der Decadénce der vorletzten Jahrhundertwende und der Selbststilllegung der Postmoderne zu ziehen. Jetzt erst habe ich begriffen, dass diese Historisierung nicht Zuschreibung, sondern Selbstbeschreibung ist: Junge, kreative und dynamische Selbstständige sehen sich als heutzutage als "digitale Bohèmes". Man vermute also keinen misanthropischen Pessismismus hinter dieser Vereinahmung, im Gegenteil - wer digitaler Bohèmien ist, ist, glaubt man Mercedes Bunz, mittendrin statt nur nur dabei: hip, hoch qualifiziert, diffus kreativ und arm.

Das feuilletonkompatible[...] Label geht auf Holm Friebe und Sascha Lobo zurück; ihr Buch Wir nennen es Arbeit – die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung versteht sich als Begründungsmanifest: ETWAS BESSERES ALS DIE FESTANSTELLUNG FINDEN WIR ÜBERALL!, stimmt folglich auch die Buchvorstellung ein: Sie verzichten dankend auf einen Arbeitsvertrag und verwirklichen den alten Traum vom selbstbestimmten Leben. Mittels neuer Technologien kreieren sie ihre eigenen Projekte, Labels und Betätigungsfelder. Das Internet ist für sie nicht nur Werkzeug und Spielwiese, sondern Einkommens- und Lebensader: die digitale Boheme. Ihre Ideen erreichen - anders als bei der früheren Boheme - vor allem über das Web ein großes Publikum und finanzieren sich damit. Ein zeitgemäßer Lebensstil, der sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. [...] Immer mehr junge Kreative entscheiden sich für das Leben in Freiheit. Ihr Hauptziel ist nicht das Geldverdienen, sondern ein selbstbestimmter Arbeitsstil, der den eigenen Motiven folgt - in unsicheren Zeiten vielleicht die überlegene Strategie. Denn ihre enge Einbindung in soziale, künstlerische und digitale Netzwerke bringt ständig neue, teilweise überraschende Erwerbsmöglichkeiten mit sich. Sie schalten Werbebanner auf ihren Websites, handeln mit virtuellen Immobilien, lassen sich Projekte sponsern oder verkaufen eine Idee an einen Konzern. Ihre Produkte und ihre Arbeitsweise verändern den Charakter der Medien und des Internets, bald auch den der Gesellschaft. Holm Friebe und Sascha Lobo porträtieren die digitale Boheme: Sie stellen erfolgreiche Konzepte und innovative Ansätze vor und erklären wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklungen und Hintergründe. Ihre spannende Analyse einer zukunftsgewandten Daseinsform inspiriert dazu, so zu arbeiten, wie man leben will.

Klingt nett, ist aber harmlos. Der gefühlten Verwandtschaft zur "analogen Bohème" liegt der Irrtum zugrunde, die Bedeutungen von kreativ und künstlerisch seien synonym verwendbar. Es ist die "creative industry", in steifem Deutsch: die "Kreativwirtschaft", die sich hier neu definiert - und nicht der künsterlische Außenseiter, der in seiner Arbeit eine zeitgemässe Form für die Formulierung (gesamt)gesellschaftlicher Kritik sucht. Man arbeitet ausdrücklich nicht an einer Gegenkultur, weil man mit der Kultur den Kapitalismus nicht umhaut. Lobo ist selbst bester Repräsentant dieses "Kreativmainstreams": Nicht nur ist er Mitherausgeber und verantwortlicher Redakteur des mit dem Adolf-Grimme-Preis prämierten Weblogs Riesenmaschine; darüber hinaus arbeitet [er] als freier Werbetexter und machte unter anderem eine Kampagne für die MTV-Serie „Popetown“. Während der New-Economy-Phase hatte er eine Werbeagentur.

Ich will es mir nicht einfach machen. Dass Beschäftigungssicherheit nur bedingt als Lockmittel für die Selbsterfüllungsträume der Kreativbranche wirkt, streite ich nicht ab. Aber die digitale Bohème ist keineswegs die prophetische Vorhut, für die sie sich ofenbar so gern ausgibt: im St. Oberholz oder auf 9 to 5 Festival-Camps vermittelt sie (sich selbst) das starke Gefühl, einen Zipfel der Zukunft in der (oft leeren) Hand zu halten und neue Formen der Arbeit zu antizipieren..

Natürlich, jede Geschichte kann man aus einer zweiten Perspektive umschreiben. Soziologen verhandeln das Ausloten der Eigenbedürfnisse zwischen Selbstverwirklichung und Lebensabsicherung unter dem Begriff der "Flexicurity", Mercedes Bunz sieht in den neuen Bohèmiens lediglich Penner, wenn auch keine digitalen: Sie streicht das Attribut "digital", um es durch "urban" zu ersetzen.

Der grundlegende Wunsch nach Autonomie bleibt für mich trotz unterschiedlicher Taufversuche nichts desto Trotz nachvollziehbar, sogar verständlich. Zugegeben: Bei intensiver Selbstbefragung wähne auch ich zumindest ansatzweise in mir einen digitalen Bohèmien, urbanen Penner oder Flexicurity-Besorgten. Aber ich mache daraus kein Profil, stilisiere mich nicht im Sankt Oberholz und arbeite mit meinem Apple an meiner Selbstdarstellung. Die Selbstverliebheit der digitalen Bohème hält sie gründlich davon ab, die Grenzen ihres Wunsches nach Selbstverwirklichung zu erkennen: [...] auch wenn sie sich Gedanken über die Strukturen der neuen Öffentlichkeit machen, auch wenn sie in den Röhren der Kommunikation stecken [...] - [a]us diesem Pool der vernetzten kreativen und Freiberufler wird kein neuer Jürgen Habermas kommen [...].

Wovon die digitalen Bohèmiens also erfasst sind, sagen mir meine bisherigen Praktika- und Mitte-Erfahrungen, ist nicht die Ankündigung einer donnernden Revolutionswelle, sondern der anhaltende Teenagersozialismus verwöhnter Wohlstandserben. Webdesigner, Kreative, Blogger, Grafiker usw. usf. die gelegentlich, oder so oft sie können, in mit WLAN ausgestatteten Cafés arbeiten, schreibt Thomas Matterne so schön pointiert, sind keine Bohemiens, sie sind schlicht Freiberufler.