Edelanarchismus - Historisierung der Postmoderne

"Wie die Postmoderne beschreiben?" ist ja weitaus mehr als eine einfache Frage nach dem Kern dieser unbestimmbaren Denkbewegung - sie verweist im Grunde einmal mehr auf das im Kern bestehende Problem der Kluft zwischen Wort und Tat, Denken und Handeln hin: Ein Beantwortungsversuch, der beschreibt, was oder wie man postmoderne Diskurse denkt, beleuchetet noch lange nicht, wie man in ihnen handelt. Vielleicht beleuchtet er gerade das: dass man in ihnen nicht handelt. Edelanarchisten möchte ich daher die vielen Beteiligten (einschließlich meiner selbst) fast nennen, und die Beleidigung ist gar nicht so überbemessen. Man predigt politisches Bewusstsein, erklärt sich der Komplexität der Welt gegenüber aber vorschnell schachmatt. Man will ja das erkannte Unrecht - wenn es denn überhaupt jemals eindeutig Unrecht ist - nicht noch weiter schüren.

Diese Denkschule zu historisieren, ist einen Versuch wert. Eine Stammbaumrecherche powered by google deckt die Verwandtschaft mit großen Vorbildern auf. Selbstgefällig könnte man da beispielsweise aus Bertrand Russells Das naturwissenschaftliche Zeitalter (1931) zitieren. Er schreibt dort über den "idealistischen Tatmenschen", der sich "[...] von dem Mann mit persönlichem Ehrgeiz dadurch [unterscheidet] daß er nicht bloß für sich bestimmte Dinge wünscht, sondern auch eine bestimmte Gesellschaft." Doch Vorsicht! - mit seinen Worten kann ich mich nur dann anfreunden, wenn ich nicht allzu streng nach dem Tatmenschen in mir frage. Denn: "Die meisten Idealisten stellen eine Mischung zweier Typen dar, des Träumers und des Tatmenschen. Der reine Träumer ist ein Narr, der reine Tatmensch strebt nur nach persönlicher Macht, der Idealist jedoch lebt in einem Zwischenraum zwischen diesen beiden Extremen. [... D]er Tatmensch fühlt sich stark genug, eine neue [Welt] zu erschaffen, während sich der Träumer gehemmt fühlt und in das Reich der Phantasie flüchtet" (S. 200-201). Folgt man Russell, wären der Großteil der postmodernen Denker nichts als intellektuelle Tagträumer: sie halten sich für Idealisten, entpuppen sich alsbald aber als handlungsgehemmte Weltflüchtlinge. Als Skeptiker halten sie an ihrem Glauben an die Wissenschaft als "geistige Macht" fest, während es die Macher sind - diejenigen, die die Wissenschaft als "technische Macht" verstehen (S. 181) - die Russell zufolge die wissenschaftliche Gesellschaft formen werden.

In ihrem Passivismus erinnern sie neben Russells idealistischem Träumer allerdings an ein weitaus zwiespältigeres Vorbild: den Antihelden der Décadence-Literatur Jean des Esseintes, den Joris-Karl Huysmans in Gegen den Strich (1884) entwirft. Ja - ich halte die Postmoderne für dekadent. Für dei Aufgabe, die parallelen Dimensionen aufzuzeigen, reicht meine derzeitige Aufmerksamkeit nicht; daher nur eine kurze, gedankenanregende Einführung.

Der Begriff "Décadence" spricht über den reinen Verweis auf eine bestimmte Literaturgattung hinaus "ein umfassendes Lebensgefühl, eine besondere Daseinsform" [1] an. Auf welcher Basis sie ihre Position entwickelt, macht der soziale und politische Rückblick auf die letzten Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende deutlich: Man hört von einer "Zeit der inneren Widersprüche" in "einer vom atemberaubenden Fortschritt erschütterten Welt", die alsbald ein "Nebeneinander von befürchtetem Ende und erhofftem Neuanfang" aufwirft [2]. Die Ursachen dieser Entwicklungen mögen vielseitig sein, die seitens der Décadents aufgesuchten Begründungen bleiben jedoch stets dieselben: "Ein epigonal wirkender [...] Imperator, eine sich durch die erste industrielle Revolution in immer stärkerem Tempo zivilisierende Gesellschaft, die Geld- und Genußgier der Herrschenden und Besitzenden [...]" [3] bilden die zentral wiederkehrenden Ansatzpunkte in den Analysen zur Lage der "opportunistische[n] Republik" [4]. Doch der Eindruck, den die Lektüre Huysmans prägt, ist tiefer verwurzelt. Er geht weit über einen fehlenden Fortschrittsenthusiasmus oder mangelnden Zukunftsoptimismus hinaus und lässt sich in beispielhaften Zitaten wie dem folgenden ablesen:

Und dann war der zerrüttete Adel zugrunde gegangen, die Aristokratie war in Schwachsinn oder Unflat umgekippt. Sie erlosch im geistigen Verfall ihrer Nachkommen, deren Fähigkeiten mit jeder Generation abnahmen und zu Gorillainstinkten verkamen, gärend in Schädeln von Stallknechten und Jockeys; oder sie wälzte sich wie die Choiseul-Praslin, die Polognac, die Chevreuse im Schmutz von Prozessen, die sie den anderen Klassen an Schändlichkeit ebenbürtig werden ließ. [...] Die am wenigsten Gewissenhaften, die am wenigsten Stumpfen streiften jegliche Scham ab; sie versumpften im Lotterleben, wirbelten den Schlamm der Affären auf, erschienen wie gemeine Gauner vor der Hebung der menschlichen Gerechtigkeit, die, außerstande, sich stets ihrer Parteilichkeit zu begeben, sie schließlich zu Bibliothekaren in den Zuchthäusern ernannte. (Gegen den Strich, S. 243-244).

Das "Dekadente" dieses Auszugs liegt nicht nur, wie man meinen kann, in dem zutiefst verschmähendem, beleidigendem Ton, in der verächtlichen, radikalen Ablehnung und Aburteilung der grundlegenden Verschiebungen, deren Zeuge er ist; "dekadent" ist seine durch Rousseau geprägte Sichtweise, diese Umwälzungen, die das Frankreich des späten 19. Jahrhunderts erfasst haben, als unwiderlegbare Anzeichen eines mehr oder weniger unmittelbar bevorstehenden gesellschaftlichen Verfalls zu deuten. Versteckt in der Art und Weise, wie er über seine Zeit reflektieren, spricht er zugleich auch seine tiefe Betroffenheit über diese altvertraute, im Kern jedoch bereits verloren geglaubte Ordnung aus. Gemeinsam mit einer "[...] ganze[n] Generation von Künstlern und Schriftstellern [... leidet er] über ein kleinliches Gesellschafts- und Zeitgemäkel hinaus an einem rational nur schwer zu erfassenden Ennui, Spleen, melancholischen Sinn [...]" [5]. Die Verständniskluft zwischen dieser "verlorenen Generation", die "[...] zum Umgang mit kollidierenden Lebenswelten verdammt" [6] ist, und einer euphorisch gestimmten Gesellschaftsmehrheit droht sich um so mehr zu vertiefen, desto radikaler die Décadents ihre Minderheitsperspektive formulieren. Huysmans "[...] haßt [alsbald] seine Epoche, haßt das 19. Jahrhundert, das ihm banal, oberflächlich, amerikanistisch und vor allem vulgär und materialistisch erscheint" [7]. Berührungspunkte mit der sich schrittweise demokratisierenden und kommerzialisierenden Gesellschaft scheinen inexistent: Gerade die Demokratisierung vieler Lebens- und Schaffensbereiche, insbesondere der Kunst, lehnen die ‚dekadenten’ Künstler und Schriftsteller entschieden ab – nicht prinzipiell, sondern weil man "[d]as Unbehagen, ja [... den] Ekel an der selbstgefälligen Bourgeoisie-Kultur, an diesen ‚Orgien der Mittelmäßigkeit und Saturnalien der Dummheit’" [8] unerträglich glaubt und zu meiden sucht.


... Na - wer fühlt sich angesprochen? ...





[1] Anne Amend-Söchting, Ichkulte: Formen gebündelter Subjektivität im französischen Fin-de-siècle-Roman, Heidelberg: Winter, 2001, S. 24.
[2] Amend-Söchting, S. 22-23.
[3] Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus: Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin, New York: de Gruyter, 1973, S. 19.
[4] Amend-Söchting, S. 32-35.
[5] Maria Moog-Grünewald, "Kunst, Kunstkritik und Romanschaffen", in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bonn: Bouvier, Bd. 31/2 (1986), S. 246-263., hier: S. 256-257.
[6] Amend-Söchting, S. 20.
[7] Moog-Grünewald, S. 253.
[8] Ebd.; siehe auch Koppen, S. 39, der seine Position ähnlich formuliert.