Toussaint, Der Photoapparat

[...] Wir flogen bereits seit einer halben Stunde, und durch die Seitenfenster sah ich auf den sonnenüberfluteten blauen Himmel oberhalb der Wolkendecke, die von oben so monoton erschien wie eine Gletscherlandschaft, weiß und hart, keinesfalls flauschig, sondern Umrisse und Formen wie Gebirgskämme, ein unebenes verödetes Relief, dessen Höcker die Sonne sanft beschien. Weiter entfernt an der Seite verlor sich der Horizont im Nichts, in einem derartig wunderlichen Blau, so glatt, so nah und doch unendlich weit weg, ganz unergründlich un unzugänglich. Das Flugzeug schien förmlich in der Luft zu stehen, nichts bewegte sich rings umher, und an mein Seitenfenster geneigt, ertränkte ich meine Gedanken in diesen ebenso unbegreiflichen wie anziehenden Luftgebliden, dachte, daß ich, wenn ich den Photoapparat behalten hätte, jetzt Aufnahmen dieses Himmels machen könnte, lange gerahmte Rechtecke, alle gleichförmig blau durchscheinend, fast durchsichtig, von jener Transparenz, die ich schon einmal so sehr ersehnt hatte, als ich vor Jahren den Versuch unternahm, eine Photographie zu machen, eine eizige, eine Art Portrait, wahrscheinlich ein Selbstportrait, aber ohne mich oder irgend jemand anderen darauf abgebildet, sondern nur eine umfassende, nackte Präsenz, schmerzvoll und schlicht, ohne Hintergrund und fast lichtlos. Und während ich weiter unverwandt aus dem Fenster schaute, wurde mich klar, daß ich dieses Foto neulich auf dem Schiff gemacht hatte, daß es mir in dieser Nacht gelungen war, es mir und dem Augenblick zu entreißen, als ich, die Treppen des Schiffs emporrennend, wie bewußtlos photographierte und doch gerade da mich von dieser Photographie befreite, auf die ich so lange gehofft hatte und von der ich jetzt nur begriff, daß ich sie, die unentwirrbar und unzugänglich in den Tiefen meines Seins verborgen lag, mitten aus einem plötzlichen Aufblitzen des Lebens gegriffen hatte. Es war gleichsam die vollkommene Aufnahme meines gewaltigen Elans, den ich in mir barg, und zeugte doch schon von der Unmöglichkeit, die ihm folgte, von dem Scheitern all dessen, was er bewirkte. Denn man würde mich fliehen sehen auf jenem Photo, ich würde mit äußerster Kraft fliehen, meine Füße würden über die Stufen springen, meine Beine über die Metallrinnen der Schiffstreppe fliegen, alles wäre unscharf und doch erstarrt, jede Bewegung eingefroren, nichts bewegte sich mehr, ich wäre nicht anwesend, aber auch nicht abwesend, das ganze Spektrum der Bewegungslosigkeit, die dem Leben vorausgehende und ihm folgende, wäre zu sehen, kaum weiter entfernt als in diesem Augenblick der Himmel unter meinen Augen.

aus: Jean-Philippe Tousaint, Der Photoapparat, Frankfurt: Suhrkamp, 1994.