Kenianisches Politrätsel II

Eine grundsätzliche Lageeinschätzung (die mir fällt allerdings mehr als schwer fällt, weil sich alle "verlässlichen" Quellen auf ihre jeweils eigenen Zahlen berufen) kann meines Erachtens ausschließlich historisch ansetzen. Warum wirken die gegenwärtigen ethnischen Konstellationen - Kikuyu 22%, Luhya 14%, Luo 13%, Kalenjin 12%, Kamba 11%, Kisii 6%, Meru 6%, other African 15%, non-African (Asian, European, and Arab) 1% [CIA World Factbook] - so destabilisierend?

Man erinnere sich zunächst mit Martin Meredith (The State of Africa. A History of Fifty Years of Independence) an das grundlegendeste koloniale Erbe - den Staat nach europäischem Vorbild. Man möge im Hinterkopf behalten: Die Machtapparate, die imperiale Franzosen, Briten, Belgier, Portugiesen, Spanier, Italiener und Deutsche in ihrem hektischen Rückzug nach dem Zweiten und während des Kalten Kriegs hinterließen, waren nicht im Geringsten geprägt von der idealtypischen Ausgeglichenheit, die ihre "Mutterländer" erträumt haben. Africans had little experience of representative democracy - representative institutions were introduced by the British and the French too late to alter the established character of the colonial state. The more durable imprint they left behind was of authoritarian regimes in which governors and their officials wielded enormous personal power. Traditions of autocratic power embedded in the institutions the new leaders inherited (S. 153-154).

Das allerdings ist nicht der einzige Faktor gewesen, der den Lauf der ersten Unabhängigkeitsjahre bestimmend begleitet hat; die Einschränkungen scheinen im Nachhinein fast allzu selbstverständlich: Zum einen die Wirtschaftsstrukturen, die fast ausschließlich auf die koordinierte Vorsorge des ehemaligen Mutterlandes ausgerichtet waren; zum anderen der eklatante Mangel verwaltungstechnischer Kompetenz auf Seiten der einheimischen Eliten. Die Komplexität der Staatsführung wurde offenbar schlicht und ergreifend unterschätzt. British government officials estimated at the time [d.h.: Ende der 50er / Beginn der 60er) that a minimum period of between ten and fifteen years of intensive training was needed to prepare resonably efficient and stable modern administrations (Meredith, S. 91). Kenia aber erklärte sich bereits 1963 unabhängig.

Dass die Autokraten Yomo Kenyatta (1963-1978) und Daniel arap Moi (1978-2002) derart repressive Regimes aufgebaut haben, ist also keineswegs allein mit ihren jeweiligen Erfahrungen mit der britischen Kolonialsystem zu begründen, ebensowenig wie sich ihre von Korruption und unterdrückender Gewalt geprägte Herrschaft als prinzipieller Mangel politischen Veränderungswillens deuten lassen darf.

Aber dank eines langfristigen Wirtschaftswachstums konnte das Land zumindest statistisch den Schein einer ausgeglichenen Loslösung wahren. Denn auch wenn Kenias BIP in den beiden Jahrzehnten zwischen 1960 und 1980 mit einem jährlichen Durchschnitt von knapp 6% zunahm, zeigt erst ein genauerer Blick in die Zahlen die gelebte Verteilung dieses Wachstums auf: Stabilität, ganz zu schweigen von nachhaltigem Wohlstand, blieb den ohnehnin bereits Wohlständigen vorbehalten. Auf den 20% agrarisch nutzbarer Landfläche verdichtete sich die Bevölkerung in 16 Jahren fast um ihr Doppeltes.

Kenyatta und Moi dagegen sicherten sich dagegen durch Nepotismus und Klientelismus ab. In ähnlichem Ausmaß bevorzugten sie die Vergabe von Ämtern und Regierungsaufträgen an Vertraute der eigenen ethnischen Herkunft: Mit dem Tod Kenyattas saßen unversehens keine Kikuyu, sondern Kalenjin an entscheidenden (Regierungs-)Stellen. Auch mit der "Abwahl" Mois im Jahr 2002 hat sich nach mehrheitlicher Einschätzung die politische Lage nicht wesentlich verschoben. Auch wenn sein Amtsnachfolger, der derzeitige Präsident Kibaki, "[s]ein erstes Kabinett [...] sorgfältig entsprechend der rund 40 Ethnien und der politischen NARC-Parteien des Landes ausbalanciert [...]" hat, schreibt man ihm zu, seine Macht mit Hilfe seiner sogenannten "Mount Kenya Mafia" konsolidiert zu haben.

Ich bin gerade also mehr als überrascht, wenn die Bundeszentrale für Politische Bildung in neutralem Ton von der "vielfältige[n] Parteienlandschaft" spricht, die in Kenia gewachsen sei. Bei allen Brüchen bleiben meiner Ansicht nach eher entscheidende Kontinuitäten zu verzeichnen: Verschärfte Armutsstrukturen, Staatskorruption und autoritäre Herrschaft.

So viel für jetzt, ich bleibe dran ...