Benjamins Engel der Geschichte

Ich stöbere gerade in Walter Benjamins "Geschichtsphilosophische[n] Thesen" [in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt (Main): Suhrkamp (1965)]. Mit einer Mischung aus Erschrecken und Genugtuung stelle ich fest, dass mir der ein oder andere Gedanke in der Uni, in dem ein oder anderen Seminar, schon mal vorgekaut worden ist. Erschrocken bin ich aus dem Grund, dass ich bisher - außer von Seiten des großartigen Amit Chaudhuri - keine nennenswerten Bezugnahmen auf sein Denken bemerkt habe; Genugtuung verspüre ich deshalb, weil mir gerade bewusst wird, wie sehr nachdrücklich mich Chaudhuris Vorlesung geprägt hat. Immer wieder zitierte er im Zuge des postkolonialen Projekts, Europa zu provinzialisieren, Benjamins fortschrittserschrockenen Engel der Geschichte. Passender könnte ich mich in meiner derzeitigen Gemütslage nicht aufgehoben fühlen. Meinen Dank an Herrn Chaudhuri, für seine Lektionen, verbunden mit einer ausdrücklichen Lektüreempfehlung: Leute, verdammt nochmal - lest Benjamin!


Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Anonym hat gesagt… said:

26. Februar 2008 um 18:18  

Warum ein Engel? Ausgerechnet ein Engel? Und warum "Engel der Geschichte", wenn er doch vor sich die Vergangenheit, d.h. die Geschichte in Trümmern sieht? Und warum "Wind des Fortschritts" und nicht "Wind der Zeit"? Eigentlich also "Engel der Zeit", oder? "Engel der Gegenwart"?

Willyam hat gesagt… said:

28. Februar 2008 um 21:00  

Ich habe Hans-Ulrich Wehler mal bei einer Podiumsdiskussion hören sagen, die Gegenwart habe die Breite einer Rasierklinge; wir seien kaum mehr als Geschichte. Ich stimme ihm zu: Wir verorten uns durch die Rückbesinnung auf unsere (kollektiven) Erfahrungen. Daher wohl der Engel als Engel der Geschichte, den nicht die Zeit, sondern der "zerstörerische" Fortschritt daran hindert, unsere Geschichte zu verarbeiten. Ich lese ihn als Allegorie der Moderne, oder wie interpretierst Du ihn?