Überflüssige Wahl?

Jede Wahl ist gleichzeitig Zurückweisung, ein „entweder oder“ - das eine Marktwirtschaft allerdings schon bei nächster Gelegenheit in ein „sowohl als auch“ zu revidieren verspricht: Entscheide Dich heute für dies, morgen für jenes; übermorgen hast Du beides. Verzicht war vorgestern.

Hat sich diese Revidierbarkeit, dieses Versprechen nicht schon längst in die Politik übertragen?

Anonym hat gesagt… said:

21. September 2008 um 20:45  

Ja, mit dem Resultat, dass die Parteien kaum mehr Unterschiede aufweisen (sich mehr quantitativ, denn qualitativ unterscheiden).

Das hat aber vermutlich auch noch andere Ursachen.

Willyam hat gesagt… said:

22. September 2008 um 15:17  

Die mangelnde Unterscheidbarkeit würde ich gar nicht so sehr als Sackgasse sehen - sondern vielmehr die Tatsache, dass sie für mich inzwischen alle nicht mehr wählbar sind. Der Panorama-Bericht über Koch und Wagner ("Deutschland den Deutschen?") disqualifizert die CDU nicht zum ersten Mal; die FDP tritt für alle jene ein, die der inzwischen gängigen Formel zufolge Gewinne privatisieren, während sie Verluste sozialisieren; die SPD ist schon längst nicht mehr sozialdemokratisch geschweige denn links - und die Linke regierungsunfähig (aber nicht gefährlich).

Aber lassen sich die "anderen Ursachen" deiner Ansicht näher benennen?

Samuel Bechstein hat gesagt… said:

23. September 2008 um 10:21  

Ja, die mangelde Wählbarkeit...
In diesem Dilemma stecke ich auch, so ich wieder zur Wahlurne soll.

Und wohin wird das führen.
Und ist das noch Demokratie?
Ist es denn Volksherrschaft nur diese bekannte Politiker Kaste wählen zu können und nur so seine Stimme nicht zu verschenken.
Aber ist sie dann nicht auch verschenkt?

Ist es villeicht nicht so, dass wir hier in einer demokratisch amtlichen Diktatur feststecken.

Ist es nicht so, dass sich jedes Systhem einmal fest fährt?
Und sind wir in deutschland nicht bereits an diesem punkte angelangt?

Was mich interessiert, wie schätzt ihr das Potential der neuen Linken ein? Stellt sie eine wirkliche Alternative dar?

Viele Fragezeichen. Ein Zeichen meiner Ratlosigkeit.

Willyam hat gesagt… said:

25. September 2008 um 00:14  

Wenn's um Fragen der Demokratie geht, kannst Du Dich immer wieder an TIEF orientieren, z.B. hier und hier.

Und was meine Einschätzung der Linken anbelangt - da bin ich überfragt. Vor allem muss man differenzieren, befürchte ich: zwischen den politisch vorbelasteten Stasikooperanten und Leitfiguren wie Lafontaine. Über letzteren hat auch wieder TIEF, nur unter anderer Adresse, sehr subtil und mit feinem Auge ein paar Absätze verfasst.

Anonym hat gesagt… said:

25. September 2008 um 01:23  

Das ist jetzt sehr zugespitzt, aber wenn alle Parteien gleich sind, dann ist es egal ob ich wählen gehe, oder nicht - die Wahlmöglichkeit existiert nicht mehr, und sie ergibt auch keinen Sinn mehr. In der Bevölkerung vorhandene Sichtweisen werden nur noch ungenügend im politischen System repräsentiert, mit dem Effekt, dass sie sich womöglich andere Wege suchen; letztendlich gerät das System als solches ins Wanken (entweder wird es unterwandert, oder ignoriert). Auch fehlen alternative Sichtweisen, und damit letztendlich Diskurs und Korrekturmöglichkeiten: Gesetze durchlaufen für gewöhnlich Veränderungen, bevor sie beschlossen werden - gibt es aber nur mehr eine Sicht der Dinge, dann wird dieser Prozess nur mehr ungenügend erfüllt.

Die anderen Ursachen: Die Wähler sind flexibler geworden, individualisierter, und weniger tradiert in ihren Ansichten (ein Resultat der Entwurzelung durch die Moderne, sehr schön jetzt [verspätet] bei euch in Bayern zu sehen), man holt seine Klientel nicht nur an einigen Punkten ab sondern man muss neuerdings eine ganze Palette abdecken (d.h. neue Problemfelder beackern und eingliedern, man sollte bunt, aber nicht beliebig sein) und noch in Kauf nehmen, dass es kaum noch Stammwähler gibt. Sehr schön bei Merkels ökologischem Engagement zu sehen, aber auch die Veränderungen in den diversen sozialdemokratischen Parteien zeigen das (ihre Klientel ist schon lange nicht mehr dieselbe wie Anfang dieses Jahrhunderts).

Dazu kommen Probleme die alle betreffen und die gelöst werden müssen, aber eigentlich nur eine Lösungsrichtung zulassen, es sei denn man leugnet das Problem (z.B. der Klimawandel).

Als "Metapher" ausgedrückt: letztlich spiegelt sich die Vielschichtigkeit der Postmoderne und der globalisierten Welt auch in den Parteien.

Hast Du die Grünen absichtlich in Deiner Aufzählung ausgelassen?

Jaja, die Wählbarkeit - ich muss mich bis Samstag entscheiden.

Willyam hat gesagt… said:

25. September 2008 um 09:01  

@ metepsilonema: Nee. Die Grünen wollte ich gar nicht verschweigen. Dass ich sie schlicht und ergreifend vergessen habe, zeigt (mir) wohl, wie wichtig ich sie nehme. :-)

So ganz alternativlos steht man natürlich nicht da. Wenn Du die Analyse zwischen Unterwanderung und Ignoranz aufspannst, würde ich definitiv die Ignoranz unterstreichen. Ich hab' das hier im Blog bisher unter dem Label Kapitalismus vs. Politik auszuloten versucht; mein vorläufiger Schluss: Sowohl der Kapitalismus als auch die Demokratie brauchen mich - entweder als kaufkräftigen Kunden, oder als mündigen Bürger. Beide verlangen sie meine volle Aufmerksamkeit. Beide erfordern beständig eine bestimmte, bestimmende, meine Wahl. Und wer sich um alltägliche Belange wie Arbeitsplatzsicherung, Pendlerpauschale, Urlaubsgelder und Familie und Kindererziehung sorgt, hat am Ende des Tages wenig Energie, sich politisch zu engagieren - nur um zu erfahren, sollte er es doch versuchen, wie verklebt die Strukturen der großen Volksparteien schon auf örtlicher Abteilungsebene sind. Das Veränderungspotential tendiert gegen Null; Resignation verwandelt sich in leise Ignoranz: in ein "Wissen um die politische Lage" ohne "Engagement für die politische Lage".

Nimm die Möglichkeit, Petitionen online einzureichen. Unter anderem habe ich da vorige Tage dieses Anliegen unterstützt. 91 (!) Unterzeichner haben sich der Sache erbarmt.

Was Deine grundsätzliche Skizze betrifft: volle Zustimmung. Allerdings ist mein Eindruck der, dass man in sich auch für den Einzelnen bewusst globalisierenden Zeiten wenige Richtungen gehen kann - nicht nur, weil man auf viele Prozesse keinen entscheidenden Einfluss mehr nehmen kann, sondern weil vielmehr die absolute Grenze zwischen dem marktwirtschaftlich-liberalen System einerseits und den geopolitisch-militärischen Absicherungen unserer Sicherheit andererseits immer offensichtlicher wird. "Wohlstand für alle!" gilt nur, solange unser Wohlstand der größte bleibt; Demokratie: gern, solange ihr euch nicht gegen uns entscheidet. Nach und nach wird deutlich, wie sehr die Argumente für die Globalisierung auch die Argumente gegen sie sind: Sie bekämpft kaum Armut, sie unterdrückt, sie homogenisiert, indem sie alles in Kapital und Ressourcen umrechnet. Ich bin auf die langsame Wende gespannt, die wir mit dem wachsenden Offensichtlichwerden dieser Widersprüche einschlagen ...

Anonym hat gesagt… said:

1. Oktober 2008 um 01:13  

@willyam

In der letzten Zeit stoße ich immer häufiger auf die Feststellung der Unwählbarkeit, um dann (wieder) zu bemerken, dass es mir nicht anders geht. Das ist schade, denn es löst den politisch Interessierten vom Gegenstand seines Interesses.

Kapitalismus und Demokratie brauchen meine Wahl, das ist richtig. Andererseits bedeutet leben immer auch wählen, und damit entscheiden, und es ist heute, meinem Empfinden nach, wichtiger denn je, sich klar zu machen was meine Aufmerksamkeit beanspruchen soll, und was Zeitverschwendung ist. Und weil Du das auch ansprichst: Ich kann mir kaum vorstellen wie man Familie, Beruf und politisches Interesse (oder auch Engagement) zusammenbekommen kann.

Ist das nun schlimm? Nur, wenn es viele, sehr viele, betrifft; unsere demokratischen Systeme verkraften schon ein gewisses Desinteresse (Insofern ist [bei uns] eine Wahlbeteiligung von knapp 77% in Ordnung, auch wenn sie seit Jahren stetig fällt).

Ich frage mich gerade, ob die verkrusteten Strukturen aufbrechen, wenn "sie mitbekommen", dass Interesse und vor allem Nachwuchs schwinden bzw. ausbleiben - sonst verschlingt die Ignoranz auch noch das Wissen um die politische Lage. Oder es ist die Zeit in der "neue Bewegungen" geboren werden. Wer weiß.

Die Möglichkeit von Online-Petitionen ist vielleicht noch zu wenig bekannt(?).

Bei der Globalisierung kommt es stark darauf an wie man sie gestaltet. Du meinst, dass die Sicherung von Demokratie und Wohlstand letztlich unsere Entscheidungsmöglichkeiten einschränkt? Klingt nicht unplausibel, aber ich scheitere gerade daran mir Konsequenzen für z.B. meine eigene Situation vorzustellen.

PS: Es hätte natürlich Sonntag, und nicht Samstag heißen müssen.