So mal ganz nebenbei, wie man solcherlei Dinge handhabt: Ich versuche gerade, Gerechtigkeit als Aufhebung des Mittel-Zweck-Verhältnisses zu denken, als Streben nach einem machtfreien Raum. Natürlich: fraglos gilt, dass Gerechtigkeit als Zweck allen Strebens ohne Gewalt als Mittel niemals durchsetzbar war, ist und wäre. Aber Derrida fragte, wenn ich mich recht erinnere, schon danach, wie gerecht man überhaupt sein kann? Kann man jemals gerecht sein? Eine denkbare Antwort auf diese Frage ist: Gerecht kann man nur seinem Nächsten gegenüber sein - weil ich "hier", sprich: um mich herum, immerhin noch einen relativen Einblick in die Konstellationen der (Um-)Welt gewinnen kann. Diese Um- und Vorsicht aber ist nicht nur räumlich, sondern im weitesten Sinne auch sozial beschränkt. Denn wie ist mit den blinden Flecken umzugehen, den Missständen, die ich übersehe? "Meinem" Nächsten bin ich in der Regel ohnehin gerecht, aus dem einfachen Grunde, dass er oder sie mir wichtig ist - genau daher ist sie oder er ja mein/e "Nächste/r". Was also wird aus dem räumlich Nächsten, den ich nicht erreiche, den ich nicht wahrnehme oder übersehe? Was ist mit dem Unwichtigen, dem Ausgegrenzten? Die Tatsache ist gerade nicht, dass für sie anderes Recht gälte. Aber ihre Inanspruchnahme dieses Rechts, ihr Versuch, ihr gleiches Recht durchzusetzen, bleibt von Ungerechtigkeiten begleitet. Dass Nächstenliebe und Gerechtigkeit sich per se nahestünden: davon kann also keine grundsätzliche Rede sein. (Aber vielleicht habe ich auch einfach nur einen pessimistischen Tag.)
Anonym hat gesagt… said:
hallo willyam,
eine spannende frage, die du da aufwirfst. Ich denke, dass du über ein kommunikationsphänomen nachdenkst. das entspannt den gedankengang vielleicht ein wenig. dazu gehören mindestens zwei akteure. zumindest nach meiner vorstellung. dh. du kannst nur verantwortlich sein, für das was du überblicken kannst. nicht wahrgenommenes liegt also nicht in deiner verantwortung, kann auch nicht übersehen sein.
oder so
Willyam hat gesagt… said:
Diese "Unschuldsvermutung" ist es ja, die ich umschiffen wollte/will: Wie weit kann ich Unrecht wahrnehmen, ohne es zu durch meinen Blick, mein Umfeld relativiert zu sehen? Diese "reine Vor-/Umsicht" kann es natürlih nicht geben. Aber die pragmatische Haltung, Unrecht so lange als inexistent zu erklären, bis ich mit Unrecht konfrontiert werde, macht mir zwei Probleme, die dazu noch grundlegende Probleme sind, bewusst: 1) Den schmalen Grat zwischen Unwissenheit und Ignoranz; 2) Unwissenheit aufgrund fehlender "Unrechtserfahrung" oder Empathie.
Anonym hat gesagt… said:
Ich würde von deinem Kommentar aus weiterführend darüber nachdenken wollen wo und wie Konfrontation beginnt. Medial ist man einer Flut von Konfrontztation ausgesetzt. Das mindert die Möglichkeit sich der Verantwortung zu entziehen. Unwissenheit ist also schwer darzustellen. Bleibt die Ignoranz. Während ich Unwissenheit für in meinem Sinne entschuldbar halte, sehe ich das mit der Ignoranz anders. Auch würde ich bei deinem zweiten Grundproblem Unwissenheit mit Ignoranz ersetzen.
Und dann interessiert mich, wie diese Ignoranz zu erklären ist. Mangelnde Empathie? Mangelnde Unrechtserfarung? Vielleicht auch die Unmöglichkeit das eigene Schicksal zu überblicken? Das geht aber alles zu sehr ins individuelle.
Deine Fragestellung ist ja etwas weiter gefasst. Dennoch komme ich zu dem Punkt zurück, dass ich hier ein Kommunikatives Problem sehe.
Dabei ist es unerheblich ob Betroffene selbst sich eine Stimme verschaffen oder Stellvertreter, die sich veranwortlich fühlen sich ihres Themas annehmen.
Und für die Rezeptoren gilt die Frage: was führt zu einem Engagement? Wie kommt es zur Anteilnahme und wie laufen diese Prozesse ab? Da spielt auch das rein, was du mit Relativierung durch das eigene Umfeld beschreibst.
Ich könnte auf all das nur sehr persönliche Erfahrungen anbieten, die nicht auf der Ebene der Abstraktion mitspielen. Dennoch halte ich den "kleinen Bürgersinn" für ein probates Mittel in das große Ganze hinein zu wirken. Und Empathie ist sicherlich das beste Mittel für eine offene Wahrnehmung.