Über das „Kulturheilige“

Gelegentlich haben die Vertreter modernisierungstheoretischer Ansätze doch die eine oder andere inspirierende Idee abgeworfen. Tendenziöse Einleitung, ich weiß, aber trotz allen Ernstes, den man den Modernisierungsdenkern ob ihres maßgeblichen politischen Einflusses entgegenbringen muss, wirkt ihr zentrales Manifest lächerlich. W.W. Rostows universalistische Ableitung der Stadien Wirtschaftlichen Wachstums aus der europäischen Wirtschaftsgeschichte (1960) versteht sich im Kern als easy-to-follow Fünf-Stufen-Plan zur Überführung „traditionaler“ Gesellschaften in das (natürlich „moderne“) Zeitalter des (natürlich kapitalistischen) Massenkonsums.

Von Edward Shils, der das Ganze etwas weiter differenzieren wollte, distanziere ich mich nicht weniger. Während das Stadien-Modell für Rostow und seine Gefolgschaft so selbsterklärend war, dass sie auf eine Benennung der Akteure kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Wandels verzichten konnte, wollte Shils immerhin „Eliten“ (und nur sie allein) als kulturelle Impulsgeber verstehen, die es in ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion für das Modernisierungsprojekt zu gewinnen gilt (vgl. seinen Aufsatz „The Intellectuals in the Political Development of the New States“, 1966).

Das aber nur am Rande; ich will lediglich auf ein Detail hinaus. „Shils vertrat […] die These, daß in jeder Gesellschaft, also auch in der modernen, bestimmte Vorstellungen über das Heilige existieren“ (Joas/Knöbl, 442). Mit dem „Heiligen“ will Shils allerdings keineswegs nur Religiöses gemeint wissen: „Whether it be God’s law or natural law or scientific law or positive law or the society as a whole, or even a particular corporate body or institution like an army, whatever embodies, expresses, or symbolizes the essence of an ordered cosmos or any significant sector thereof awakens the disposition of awe and reverence, the charismatic disposition” (zitiert nach Joas/Knöbl, 443).

Indem Shils Durkheims Verständnis des „Heiligen“ mit Webers Begriff des „Charisma“ verschmilzt, letzteren aber ausdehnt, um mit ihm auch auf politische Rollen, Institutionen, Symbole oder Schichten verweisen zu können (Joas/Knöbl, 443), stellt er einen (zumindest potentiell) starken Wahrnehmungsrahmen in den Vordergrund, durch den es mir gelingen könnte, meine Begegnungen mit „dem Anderen“, meine Wertungen ihm gegenüber, von denen ich niemals frei bin, zu enthierarchisieren und zu provinzialisieren: Indem ich den kulturellen, sozialen oder wie auch immer aus meiner Perspektive begriffenen Hintergrund des Anderen „wie etwas Heiliges“, „als etwas Heiliges“, sprich: für mich nur mittelbar (wenn überhaupt) Begreifbares oder Zugängliches achte, trete ich ihm bereits vorab mit einer respektvollen Geste gegenüber, die mir eine voreilige, vermeintlich objektiv-aufgeklärte Aneignung und Vereinnahmung verbietet. Diese erste Geste, dieses Vorausgehen, diese Vorannahme, diese gewollte Annahme (in ihrem doppelten Sinne!) ist also die eigentliche, tatsächliche Anerkennung des Anderen im Gegenüber, die Anerkennung des Heiligen seiner Herkunft, seines „Kulturheiligen“.

Einwände?

[Nachtrag 11. August 2008: Das "Kulturheilige" aufgegriffen und weitergedacht, nämlich als "Hermeneutische Variable".]

Literatur: Hans Joas / Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie: Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004.