Kapitalismus und Demokratie - Versuch einer Einsicht II

Eine Fortsetzung hatte ich angekündigt, damals. Überlegungen habe ich mich zwar von Zeit zu Zeit gewidmet, aber der Ton, den ich damals angeschlagen habe, missfällt mir inzwischen. Zu pauschal, zu verkürzt, zu sehr nach Attac klingt das, was ich dort festgehalten habe. Einen vermutlichen Grund für diese Tendenz zur "Verzerrung" hält Don Dahlmann fest:

"Mir fehlt der zeitliche Abstand zu den Ereignissen, und deswegen habe ich nur mein Gefühl. Und das sagt mir, dass ich mich nicht mehr wohl fühle. Es ist nicht greifbar, denn es ist in meinem Leben noch nichts passiert, was mich am demokratischen Grundgerüst des Staates zweifeln lassen würde. [...] Es ist ein nebulöses, nicht greifbares Gefühl. Ein Unwohlsein, dass vielleicht daraus resultiert, dass mir viele Worte und Argumente, die man so hört und liest, irgendwie aus einer dunkleren Zeit bekannt vorkommen. Die Diktion ist nicht gleich, das was zwischen den Zeilen mitschwingt vielleicht schon."

Statt einer Fortführung also eine überfällige Korrekturanzeige, angeregt vor allem durch zwei insprierende, nachdenklich stimmende Beiträge, die Michael auf TIEF zu "Gewalt und Demokratie" und "Demokratie und Revolution" mit seinen Lesern teilt.

Meines Erachtens wurzelt das Aufeinandertreffen beider Lebenswelten, die gegenwärtig verspürte Unvereinbarkeit zwischen Kapitalismus und Demokratie, in der Art und Weise, mit der wir sie behandeln. Sie denken sie als reine, theoretische Konzepte - und eben nicht als Lebenswelten, als gelebte Welten. Klingt kryptisch, ich weiß.

Was ich damit andeuten möchte, ist: Die Demokratie - jede Demokratie - ist niemals frei, sie selbst zu sein. Philipp hatte recht, als er mich daran erinnerte, dass jeder Mensch sein täglich Brot verdienen muss, dass sich jede Gemeinschaft gegen Bedrohungen von Außen abgesichert wissen will:

"Politische Entscheidungsbefugnisse können theoretisch beliebig delegiert werden, bei der Delegierung von wirtschaftlicher Produktion gibt es absolute Grenzen. Es ist daher durchaus möglich, einen Menschen zu bestimmen, der für 80 Millionen andere politische Entscheidungen trifft. Es ist aber nicht möglich, dass ein einziger, das Brot für 80 Millionen andere bäckt."

Eine Demokratie bleibt daher Ideal; sie kann nicht mehr sein als gelebter Kompromiss. Diesen Kompromiss verstehe ich hier allerdings nicht als das (selbstverständlich einzufordernde) Ergebnis ihres "Gelebt-Werdens" - ich rede nicht vom Kompromiss aus demokratischer Nächstenliebe, aus Rücksichtnahme, aus Abstimmung -; der Kompromiss kommt schlicht und ergreifend durch den Umstand zustande, dass auch ein Demokrat sich ernähren und Ressourcen sichern muss.

In unseren Sphären hat sich dieser Kompromiss als "marktwirtschaftlich geprägte Demokratie" institutionalisiert. Ganz in diesem Sinne meinte ich daher bereits: Sowohl der Kapitalismus als auch die Demokratie brauchen mich - entweder als kaufkräftigen Kunden, oder als mündigen Bürger. Beide verlangen sie meine volle Aufmerksamkeit. Beide erfordern beständig eine bestimmte, bestimmende, meine Wahl.

Es scheint zunächst, dass sich beide "Systeme" zu ähnlich sind, weil sie beide zu sehr auf dasselbe angewiesen sind: die Zeit und Aufmerksamkeit des Einzelnen. Für beide ist es ein Streit - und projiziert man dieses Aufeinandertreffen auf eine zeitliche Ebene, dann ist es auch ein Wettlauf - um die Beantwortung der Frage, wie sich dieser Einzelne, der doch von beiden angesprochen, in Anspruch genommen wird, definieren soll: Als Konsument oder als Bürger?

Die Ähnlichkeit beider Systeme täuscht allerdings, und das zugleich mehrmals. Zum einen steht das Prinzip der Gleichheit dem Prinzip des Überlegeneren, Schnelleren, Wagemutigeren, Gebildeteren, Finanzstärkeren gegenüber. Mit anderen Worten: Der demokratischen Gleichheit Aller steht die marktwirtschaftliche Selektion, die Unterscheidung zwischen Erstem und Zweitem, Gewinner und Verlierer, gegenüber. "[D]as Menschsein [wird] zu einer Frage der Kaufkraft, und der Sinn von Freiheit enthüllt sich in dem Vermögen, zwischen Produkten für den Markt eine Wahl zu treffen - oder selbst solche Produkte zu erzeugen" (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Suhrkamp, 2006, S. 26-27).

Zum anderen täuscht man sich mit einer solch schematischen Skizze schnell darüber hinweg, dass auch die Gleichheit der Demokratie ihre Probleme ich sich birgt. Von welcher Gleicheit sprechen wir? Von der des Geschlechts? Der Chancen? Aber auch von der Gleicheit des Bluts? Der Herkunft? Der Kulturen? Eines Deutschen und eines Migranten?

Herunterbrechen dieser Feststellungen auf zwei Schlachtrufe: Der Demokrat ruft "Gleichheit & Menschenrechte für alle!"; der Kapitalist "Wohlstand für alle!". Ich muss also revidieren: So vollkommen und grundlegend unterschiedlich scheinen beide Systeme, Demokratie und Kapitalismus, dann doch nicht zu sein - beide bleiben ein Versprechen. Beide versuchen sich möglichst umfassend um- und durchzusetzen. Was die Globalisierung für den Kapitalismus, ist die EU scheinbar für die Demokratie:

Es ist die Berufung der Europäischen Union, in anderen Ländern des Kontinents die Methoden zu nutzen, die sie selbst erfolgreich gemacht haben«, fordert der langjährige Kommissionspräsident Jacques Delors. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat die Gründung einer Mittelmeerunion nach dem Modell der EU angeregt. EU-Entwicklungskommissar Louis Michel propagiert und finanziert die Fortentwicklung der Afrikanischen Union, ebenfalls nach dem Modell der EU."

Diese Ver(w)irrungen ausgeräumt, kehre ich zur Ausgangsfrage zurück: Muss die Gleichzeitigkeit der Umsetzung beider Versprechen zwangsläufig scheitern?

Um das eindeutiger zu beantworten, müsste ich sofort mit einer Lektüre (und Aktualisierung) von Max Webers Protestantischer Ethik anschließen. Mein Eindruck und mein Bauch sagen: Jein. Geographischer Expansionismus - die EU als Vorbild einer Afrikanischen Union - ist kein Qualitätsmerkmal. Während der Ausbau des Konsumkapitalismus mit viel Überzeugungsarbeit durchgesetzt wird, scheint der Ausbau der Demokratie Zeit zu haben; für ihn gibt es ausreichende Gegenargumente, die ich sporadisch kommentiert hatte. In der Zeit konnte man folgendes Eingeständnis lesen:

"[...] Befürworter haben gewiss recht, wenn sie den heutigen Zustand der Direktdemokratie als unehrlich kritisieren. Die Bürger dürfen über fast nichts abstimmen, die Quoren sind so hoch, dass erfolgreiche Volksentscheide kaum möglich sind. Und der Mangel an Verbindlichkeit der getroffenen Beschlüsse untergräbt nicht nur die Legitimität des Instruments selbst, sondern die der gesamten Parteiendemokratie."

Der Einwand dagegen: "Ein so radikales Modell der Direktdemokratie ist in keinem anderen Land Europas verwirklicht. Selbst in der Schweiz wurde die Volksinitiative für einfache Gesetze erst kürzlich eingeführt."

Meine Befürchtung ist schlichtweg die, dass wir eher zum Kapitalismus, zum Konsum(enten) erzogen worden sind und weiterhin erzogen werden. Worauf ich daher mit meinen unfertigen Gedanken für den Augenblick hinauswill, ist eine noch genauer zu bestimmende (Neu-)Entdeckung demokratischer Langsamkeit. Wir könnten sie uns leisten und sind sie schuldig, sofern wir denn unserem selbstgerechten Anspruch als Demokraten treu werden wollen.

Das bedeutet für mich im Konkreten: Mehr bürgerliche Mitsprache. Ich finde es bezeichnend, dass unser demokratisches System eine (wie diffus auch immer verteilte) "Staatsgewalt" zu entwerfen und erhalten imstande ist, dagegen aber kein Konzept einer "Volksgewalt" oder "Bürgergewalt" verfolgt. Das ist meines Erachtens keine Frage des "Systems", sondern der Erziehung. Wie delecat im Kommentar zu Demokratie und Revolution meinte: Vieles "[...] ist Umkehrbar, wenn der politische Wille vorhanden ist. Dieser beginnt aber nicht bei den Parteien, auch nicht in den Unternehmen, nein, er beginnt bei den Menschen."

Damit fixiert man vermutlich genau den Punkt, den Michael aus anderer Perspektive beleuchtet hat: "Wenn man sich genau überlegt ist die Idee der demokratischen Wahl [...] nichts anderes als die rechtlich institutionalisierte Revolution. Alle paar Jahre wird das Volk aufgerufen das System zu stürzen. Oder eben nicht. [...] Es gilt: Die Politik hat nicht die Aufgabe die Revolution zu verhindern. Sondern sie unnötig zu machen."

Wie also erziehen wir uns zur Demokratie?

Anonym hat gesagt… said:

16. April 2008 um 11:29  

Nur kurz ein paar Gedanken dazu: Der Kapitalismus benötigt um erfolgreich zu sein - das sehen wir gerade mit China und Vietnam -primär keine demokratischen Strukturen einer Gesellschaft.

Mit dem Zusammenbruch der bipolaren Strukturen 1989/90, der mit der ökonomischen Öffnung Chinas fast parallel ging, kamen fast über Nacht rund 2 Milliarden neue "Marktteilnehmer" dazu. Das erklärt das ökonomische Wachstum - übrigens nicht nur in den Ländern wie China, sondern auch bei uns. Kapitalismus braucht - wie ein Feuer - immer neuen Sauerstoff, immer neue Nahrung. Dann funktioniert dieser Mechanismus eine gewisse Zeit lang, und zwar unabhängig von der politischen und sozialen Struktur einer Entität.

Mich interessiert in diesem Zusammenhang immer wieder, was man konkret unter "Demokratie" versteht. Der Begriff ist für mich zu diffus. Ich glaube nicht, dass dauerhaft in einer pluralistischen Gesellschaft eine Art sozialistische Zwangsökonomie reüssierenn könnte. Das Projekt der deutschen "Linken" eine neue Wagenburg, eine Insel der Glückseligen zu errichten, ist zum Scheitern verurteilt. Der Kapitalismus kann nur auf globaler Ebene in gewisse (und notwendige) Schranken gewiesen werden - andernfalls sucht er sich immer neue Schlupflöcher. Die Politik muss sich - parallel zur Ökonomie, die das seit Jahren schon überaus erfolgreich tut - mit globalisieren. Die Frage ist, ob das bestehende politische Personal dies hinbekommt.