Kapitalismus und Demokratie - Versuch einer Einsicht I

Heute: der 3. Oktober. Gelegenheit, um - nein: nicht über den (Miss)Stand der Deutschen Einheit zu reflektieren; dazu wird bereits vielen das Privileg gewährt: Lothar de Maizière oder Thomas Brussig beispielsweise, um allein aus der Liste der DRadio-Podcasts zu zitieren. Stattdessen möchte ich ein paar Gedanken an das schiefe Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie verschwenden. In einem neuerlichen misanthropischen Anfall hatte ich beiden eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zugeschrieben und meinen Pessimismus ohne eine weitere ausführende Bemerkung der Kritik (oder einem ungläubigen Kopfschütteln) ausgesetzt.

Warum also die aus meiner Sicht so deutliche Unvereinbarkeit dieser beiden "Systeme"? Ich will betonen: Ich rede, indem ich den Begriff der Unvereinbarkeit aufgreife, nicht von einer unüberwindbaren Kluft. Mein Gedanke dreht sich im Gegenteil um die Wahrnehmung, dass sich beide "Systeme" zu ähnlich sind, weil sie beide zu sehr auf dasselbe angewiesen sind: die Zeit und Aufmerksamkeit des Einzelnen. Für beide ist es ein Streit - und projiziert man dieses Aufeinandertreffen auf eine zeitliche Ebene, dann ist es auch ein Wettlauf - um die Beantwortung der Frage, wie sich dieser Einzelne, der doch von beiden angesprochen, in Anspruch genommen wird, definieren soll: Als Konsument oder als Bürger? Im Extrem formuliert: Wofür entscheide ich mich? Shoppen oder Auseinandersetzung mit dem nächsten Volksentscheid? Volle demokratische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewegt mich dazu, Nachrichten zu konsumieren (immerhin) und im Dialog mit meinen Mitmenschen Erfahrungen auszutauschen, um damit schließlich meine eigene Position ausloten zu können. Diese Zeit geht also meinem Freizeitpensum "verloren", und im Gegenzug verliert jemand unter Umständen seinen Arbeitsplatz, weil weniger gekauft wird. Alternativer Gegenzug: Ich verzichte (radikal gesprochen) auf kritische gesellschaftliche Mitsprache und verbringe Stunde um Stunde in der Shopping Mall.

Anders angedacht: Sowohl der Kapitalismus als auch die Demokratie brauchen mich - entweder als kaufkräftigen Kunden, oder als mündigen Bürger. Beide wollen sie meine volle Aufmerksamkeit. Sowohl für das Einkaufen als auch die gesellschaftliche Teilhabe gilt: beides erfordert beständig eine Wahl. Es geht damit (vielleicht) um eine einfache Machtfrage: Bestimme ich über mich, oder mein Geld über mich?

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Die Rede vom "kritischen Verbraucher" will vermutlich unser Festhalten am Kompromiss andeuten, den auch Naomi Klein sieht:

"People like to have consumer choice and they also like to have basic necessities protected and to have a life with dignity; housing, water, electricity, health care. And with democratic socialism you can actually have both: a mixed economy that has an essentially controlled economic model but that has room for diversity within it and has these social guarantees."

Und warum nicht? Vielleicht sollte ich mein Nachdenken über diese und ähnliche Fragen einfach aufgeben und mich gemeinsam mit der SPD über ihr gerade verabschiedetes Grundsatzprogramm freuen, in dem sie sich und ihre Mitglieder - und mich damit also auch - als demokratische Sozialisten feiert. Man vertraue also auch weiterhin darauf, dass dank der Politik, oder in diesem Fall: dank der Partei, alles gut wird.

Nein. Vorerst zumindest nicht. Und darum lärme ich ob der vielenorts ungerechten, ungerechtfertigten und nicht zu rechtfertigenden Verhältnisse. Denn auch als Pessimist, der dem russischen Sprichwort zufolge ein gut informierter Optimist sein soll, bleibe ich ein Optimist. Impossible is nothing, will mir Adidas ja schließlich oft genug weismachen.

Die Abschaffung des einen zugunsten des anderen scheint nicht unwahrscheinlich, sondern ganz und gar unmöglich. Was mich fasziniert, ist die Beobachtung, dass Kapitalismus die Politk zu vereinnahmen imstande ist; umgekehrt scheint es kaum machbar, den Kapitalismus zu politisieren - auf den Versuch allein folgt die umgehende Beschwerde von der Freiheitsberaubung des Marktes.

Und so nimmt das ubiquitäre (ist das nicht ein großartiges Fremdwort?) Gerede vom unaufhaltsamen Siegeszug des Kapitalismus und der Globalisierung immer mehr konkrete Form an: Statt Napoleon auf seinem Gaul steht heute der Coca-Cola Truck vor dem Brandenburger Tor. Auch er wird jubelnd empfangen, auch seine Infanteristen campieren im Tiergarten: Die Fantastischen Vier, Ich & Ich und wie sie noch alle heißen. Nochmal, um es zu wiederholen: Das Brandenburger Tor, ein politisch doch so tragendes Symbol, ist am Tag der Deutschen Einheit Schauplatz eines Nachwuchsband-Wettbewerbs. Der Gedenktag zum Mauerfall, präsentiert von Coca-Cola.

Alles Trend, und ein Außerhalb gibt es nicht. Auch die Postmoderne, mit der man sich doch ursprünglich emanzipieren wollte, konnte sich dem Sogfeld der Modeerscheinungen nicht entziehen. Ich finde mich, Ihr Euch vielleicht auch, einmal mehr zurückgeworfen auf den Erkenntnisstand Adornos: "Entweder sie tragen als Unterhaltung oder Erbauung unmittelbar zu[m ...] Fortbestand [der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnungen] bei und werden als ihre Exponenten, nämlich gerade um ihrer gesellschaftlichen Präformiertheit willen, genossen. Als allbekannt, gestempelt, angetastet, schmeicheln sie beim regredierten Bewußtsein sich ein, empfehlen sich als natürlich und erlauben die Identifikation mit den Mächten, deren Übergewicht keine Wahl läßt als die falsche Liebe. Oder sie werden durch Abweichung zur Rarität und abermals verkäuflich" (Adorno, "Kulturkritik und Gesellschaft", in: Prismen, Frankfurt: Suhrkamp, 1976, S. 7-31, hier: S. 16.).

Daher sagt mir auch die trendige Neuformulierung durch Norbert Bolz nichts Neues. Ein Ausschnitt aus der Zeit:

"Der kritische Konsument, sagt er, stehe heute nicht mehr außerhalb des Systems, sondern sei ein Teil davon geworden: »Die Subkultur wird zum Markenartikel, der Rebell zum Star und die alternative Szene zum Motor der Unterhaltungsindustrie. Der Mainstream wird gerade von denen bestimmt, die anders sein wollen als der Mainstream.« Wenn er beschreibt, wie intelligent das System des mediengesteuerten »Konsumismus« funktioniert, in dem sich Kunden, Werber und Unternehmer wechselweise beeinflussen, dann fällt die sonst gepflegte Attitüde der Coolness von ihm ab. Da klingt ein Ton frommer Bewunderung an, wie man ihn von Renegaten kennt, die ihre neue Religion preisen: Der Konsumismus sei »das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen«."

Fortsetzung folgt ...

Unknown hat gesagt… said:

4. Oktober 2007 um 10:20  

Der Grundfehler des Gedankens leigt darin, dass hier der "Kapitalismus" nur als Konsum verstanden wird. Vor dem Konsum kommt aber stets die Produktion und diese Tätigkeit nimmt bei den meisten Menschen weit mehr Zeit und Aufwand in Anspruch als der Konsum. Deshalb ist es auch Falsch zu sagen, Demokratie und Kapitalismus wären sich zu ähnlich. Politische Entscheidungsbefugnisse können theoretisch beliebig delegiert werden, bei der Delegierung von wirtschaftlicher Produktion gibt es absolute Grenzen. Es ist daher durchaus möglich, einen Menschen zu bestimmen, der für 80 Millionen andere politische Entscheidungen trifft. Es ist aber nicht möglich, dass ein einziger, das Brot für 80 Millionen andere bäckt.
Insofern sind sich Demokratie und Kapitalismus nicht "zu ähnlich", sie verfügen aber über ein gemeinsames Grundprinzipien, nämlich das der Wahlfreiheit, ohne das keines der beiden Systeme funktionieren kann.

Willyam hat gesagt… said:

13. Oktober 2007 um 10:13  

Der Grundfehler des Gedankens leigt darin, dass hier der "Kapitalismus" nur als Konsum verstanden wird.

Philipp: Nicht ganz. So zumindest habe ich mir das gedacht, als ich an dem Gedanken feilte. Die Sphäre der Produktion habe ich von vornherein mehr oder weniger unbewusst ausgeklammert. Sie gilt es in meinen Augen nicht zu hinterfragen, denn sie ist, wie Du sagst, nicht "delegierbar". Ab einem gewissen Wohlstandsgrad aber wird ihre "Intensität" für mich fraglich. Solange mein nacktes Überleben im Vordergrund steht, sorge ich natürlich für mein täglich Brot. Dann muss ich auf jemanden vertrauen, der in meinem Namen Entscheidungen trifft; dem ich meine Stimme überantworten kann: Damit er beispielsweise die politischen Rahmenbedingungen schafft, die mir meinen täglichen Verdienst erlauben und sichern. In Deutschland (und andernorts sicherlich auch) genießen wir heute allerdings bereits den Luxus, unser Brot, dass wir glücklich weil günstig in der SB-"Bäckerei" und an der Edeka-Aufbackstation kaufen, jeden Tag in China oder Tunesien vorgebacken wird.

Worauf ich in meinem unfertigen Gedanken hinauswollte, ist eine - noch genauer zu bestimmende - (Neu-)Entdeckung demokratischer Langsamkeit. Wir könnten sie uns leisten und sind sie schuldig, sofern wir denn unserem selbstgerechten Anspruch als Demokraten treu werden wollen.