Differance = "Textonik"?

Mein bescheidener Versuch, Derridas Konzeption der "differance" zu verstehen, indem ich sie frei übersetze - als "Textonik".

Und ich glaube, wir sind mit dem Verweis in die Geowissenschaften gar nicht so falsch aufgehoben. Die klassische Literaturtheorie (mein ursprüngliches Studienbrot) interpretiert jeden Text als vermeintlich bedeutungsdichte Einheit. Dass er jedoch "schwimmt", dass die Bedeutungen von Wort und Sprache uns nur vermeintlich als feste, starre Bezugs- und Orientierungspunkte zur Verfügung stehen, entgeht ihr. Mit jeder Lektüre aber ordnen sich die Interpretations- – und damit auch die Bedeutungskonstellationen – neu. Die Abschiednahme von vermessbaren "Sprachkontinenten": das ist das Programm, dem sich die poststrukturalistische Schule verschrieben hat. Unterhalb der vermeintlich festen, tektonischen Oberfläche verzerren sich die Bezüge zwischen dem Gebrauch der Sprache, ihrer Bedeutung und den transportierten und zu transportierenden Botschaften. Anstelle der Annahme einer unverfälschten, deutlich nachvollziehbaren Eins-zu Eins-Übertragung gilt es (auch oder ausschließlich?), Sinnverschiebungen zu erahnen, ihre Spuren nachzuzeichnen. Die Bedeutung eines Worts muss durch seine "Be-Deutung", d.h. durch die von meiner Seite vorgenommene Deutungszuweisung, ergänzt werden.

So weit, so gut. Der Schritt, den die Sprachspieler bisher allerdings selten unternehmen, ist der: sich mit der Einsicht anzufreunden, dass dies alles ein allmählicher, schrittweiser Prozess ist. Philosophierend, im stillen Kämmerlein denkend, verfällt man schnell dem Fluss der Gedanken und Assoziationen; im Alltag aber – will heißen: im Gespräch, im Austausch, im Dialog – muss ich diese Position, diese Gedanken, Assoziationen und Deutungszusammenhänge immer wieder neu, und vor allem: ob der jeweiligen Situation immer wieder anders (er-)klären, um mich verständigen zu können. So schnell sich Be-Deutungen in der Reflexion verflüchtigen, erstarren sie im Augenblick des Dialogs.

Die Postmoderne verdrängt, so scheint es mir, dabei vollkommen die Sprache als Medium: Ihre Vermittlungsfunktion verlangt nach kurzfristiger Einigung, nach einem sporadischen, situativen "Dritten Ort" (Homi Bhaba), den die Dialogparteien für sich in Anspruch nehmen, um überhaupt in Dialog treten und über das Notwendige sich austauschen zu können. Gefordert ist damit vor allem ein sensibler Umgang mit sprachlichen Darstellungen und ein Bewusstsein für ihre innerliche Doppelseitigkeit - ihre Vermittlungsfunktion einerseits, die Flüchtigkeit ihrer Bedeutungen andererseits: Durch ihre Vermittlung ermöglichen sie gemeinsames Begreifen, das aber gerade aufgrund seiner Qualität als Vermittlung nur kurzen Bestand hat, da es sich nur auf einen Kreis einzelner, beteiligter Individuen beschränkt. 'Außenstehende' mögen auf die gleiche Vokabel zurückgreifen, sie aber mit abweichenden Bedeutungen belegen und in andere Zusammenhänge aufnehmen, so dass sie letztendlich von dem selben Gegenstand einen vollkommen eigenständiges Verständnis und folglich einen eigenständigen Begriff formen.

Wäre es möglich, diese Form, diese formale Auseinandersetzung als Textonik zu bezeichnen? Sie müsste das Bewusstsein für diese zweideutige Vermittlungsfunktion der Sprache schärfen. Nur auf diese Weise können Begriffe als Konzentrationspunkte von Bedeutungen eine Grundlage bieten, um eine erste Bezugnahme, ein vorsichtiges in Beziehung Setzen zweier subjektiver Wirklichkeiten, zu ermöglichen und somit objektivierbare – nicht objektive – Aussagen und Erkenntnisse haltbar aufzustellen ...

mspro hat gesagt… said:

31. Januar 2008 um 01:47  

Ich denke schon, dass Derrida der tatsächlichen Verständigung einen Platz einräumt. Ok, als Ort der Unmöglichkeit aber immerhin. Er sagt:

1. Ein Verstehen und sich Einigen ist unmöglich.
2. Man muss das Unmögliche machen.

Er nennt dies oft ein "Überstürzen". Ich finde das eigentlich ganz treffend. Man muss seine Botschaft überstürzen, wenn man spricht. Auch seine ganzen Arbeiten zum "jet", zum "Wurf" und zum Zufall und zur Zukunft spielen hier eine Rolle.

Man kann sagen: es gibt keine Bedeutung, aber ich werfe meine Sätze überstürzt in die Welt, als ob es in Zukunft eine Bedeutung geben wird. Ich muss daran glauben, dass die Bedeutung kommt. Also eine Kommende ist.

Die Tektonik-Metapher ist eigentlich ganz gut, dann aber doch wieder zu starr für die Sprache. Die Tek(xt)tonik findet ihre Grenzen an der je anderen Plattenkante. Die Sprache kennt keine Grenzen.

Willyam hat gesagt… said:

31. Januar 2008 um 18:49  

Um die Herausforderung, die vermeintliche Starrheit der Sprache zu hinterfragen - um die geht es doch. Deswegen ja auch meine Formulierung, dass Sprache "schwimmt" und nur vermeintlich "platt" ist.

Was Derridas Verweise auf die Zukunft, auf (unmögliche) Einigungen anbelangt, kann ich nur ein Gefühl als "Einwand" entgegenhalten: Früher, bis vor wenigen Monaten, war ich bereit, ihn "ernst", d.h. beim Wort zu nehmen. Allmählich aber gewinne ich ein wenig Abstand und versuche, die Grenzen seiner und verwandter philosophischen Ansätze im Allgemeinen zu hinterfragen. Sie bleiben verhaftet, abstrakt ... ohne dass ich Dir konkret benennen könnte, wie ein "Gegenprogramm" in Umrissen aussehen könnte. Ich sehe nur, wie unglaublich "in" es ist, die Postmoderne zu zitieren. Poetisch formuliert: Es ist der Schatten dieser Ansätze, dem ich meine Aufmerksamkeit widme: Der Schatten, mit dem die Postmoderne zu kämpfen hat, weil er so wunderbar erbaulich und zugleich wunderbar lähmend (geworden) ist ... Oder kannst Du, ziehst Du tatsächliche Energie, lebendige (Ent)Würfe aus seinen und anderen Texten, wenn Du vom nach wie vor Kommenden sprichst, in die Zukunft verweist?

mspro hat gesagt… said:

31. Januar 2008 um 22:04  

Ich kenne das Gefühl, das du da beschreibst. ich bin diesen Versuchen auch sehr offen. Aber ich trau sie mir noch nicht so recht, da ich immer noch glaube, erst das halbe Derridauniversum verstanden zu haben.
Das mit der Energie kommt tatsächlich vor. Zum Beispiel ging es mir bei "Marx Gespenster" so. Da steckt einiges an revolutionärer Kraft drin, die meist unbeachtet bleibt.

Im Grunde kann ich Dir aber nur zustimmen. Es ist definitiv Zeit für etwas neues. Wenn du da Ansätze hast, bitte immer gleich ins Blog schreiben ;)

Willyam hat gesagt… said:

1. Februar 2008 um 16:26  

Das mit der Energie kommt tatsächlich vor. Geht mir ja genau so. Aber sie verpuffert viel zu oft. Diese Stasis ist es ja genau, die mich so "bewegt", dass ich sie in Seminaren anspreche, dass ich diesen Blog angelegt habe.

Aber wo bleibt sie? Wo, wie setzt Du sie um? Revolutionäres Denken, das radikale Fragenstellen ist noch keine politische Aktivität, meine ich inzwischen ... Wohin also mit dieser Energie, wenn sie nicht weiterhin in der Akademie sinnlos versickern soll? In die BWL und die Politikwissenschaften? In die GTZ? In die Politikberatung? In die Abgeordnetenbüros? In die Parteien?

Anonym hat gesagt… said:

5. Februar 2008 um 14:41  

Ja... diese Energie. Zuerst einmal vor allem: mein Kompliment zu diesem Blog. Ich bin in diesen Dingen kein Experte und kenne nicht besonders viele, - aber dieser hier ist der beste Blog, den ich kenne. Nicht dass ich alles verstehen würde, was hier gesagt ist, aber das, was ich immerhin verstehe und sehr zu schätzen weiß, das ist die erwähnte Energie.
Natürlich, vor dem Gedanken, dass all diese Gedanken sinnlos sind, kann einen letztendlich nichts bewahren, - denke ich. Andererseits ist es aber vielleicht auch so wie Michel Foucault im Vorwort zum zweiten Teil seiner „Histoire de la sexualité“ fragt: inwiefern kann man sich verändern, indem man sich versteht? Inwiefern ermöglicht das Denken der eigenen Geschichte ein Andersdenken? In diesem Sinne, vielleicht ist die Energie im Gedanken nicht verloren, sondern gerade erst an ihrem Platz, vielleicht ist das gerade erst der Energieerhaltungssatz des Geistes und die Welt bereits verändert, wenn sie wieder anders verstanden wurde. Klar, klingt nach Idealismus...
Aber... wie heißt es da in einem Gedicht? „ich bin / denke ich / kein wissender also“ In jedem Fall Danke für diesen Blog!

Willyam hat gesagt… said:

7. Februar 2008 um 22:32  

inwiefern kann man sich verändern, indem man sich versteht?

Das wäre die Ausgangsfrage, von der man - ist man Idealist - sich wünscht, jeder stellte sie sich in regelmäßigen Abständen. Das gesetzt, bin ich wohl "vorsichtiger" oder "pessimistischer" Idealist: Nur weil es derzeit nicht passiert, ist es nicht auf Dauer ausgeschlossen. Die Frage der Energie beziehe ich daher auf die Suche nach Möglichkeiten, diese Frage nach dem eigenen Veränderungspotenzial in anderen, in jedem, in allen zu wecken. Das Problem ist allerdings, dass sich die Horde, die sich dieser Suche widment, inzwischen vornehmlich an Universitäten tummelt und recht unpolitisch geworden ist. Man verliert sich gern in der Illusion, man verändere die Welt bereits mit der Herausgabe eines Buches, mit der Formulierung kritischer Worte.

Letzten Endes aber bleibt das Gegenteil von gut eben doch nur gut gemeint ...