Schwarzes, schwarzes Afrika

„Zu den wichtigsten Gründen für die Unterentwicklung gehören: ethnische Vielfalt, niedrige Produktivität, einseitige Exportstruktur, schlecht ausgebildete Arbeitnehmer, oft schwierige Boden- und Wachstumsverhältnisse, externe Schocks wie Währungsschwankungen, Kriege und Flüchtlingsbewegungen, niedrige Spar- und Investitionsquoten, geringes Niveau der Humankapitalbildung, tropisches Klima, geografische Isolation, Markt- und Staatsversagen und institutionelle Schwächen.“

Wenn man sich wie Robert Kappel [„Strukturelle Instabilität und Wachstumsschwäche: Wohin steuert Afrika?“, in: Böhler, Hoeren (Hrsg.), Afrika: Mythos und Zukunft. Freiburg (Breisgau): Herder, 2003, S. 178-193, hier: S. 178] nicht davor scheut, strukturelle, kulturelle, geographische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in ihren nationalen und internationalen Konstellationen auf eine derart stumpfe Perspektive herunterzubrechen, verwundert es mich auch nicht mehr, wenn der eminente Lester Thurow diese Denke auf die folgende Quintessenz zuspitzt: „Afrika ist ein am falschen geografischen Ort liegender Kontinent, auf dem alles, was misslingen konnte, auch misslungen ist [Die Zukunft der Weltwirtschaft. Frankfurt (Main): Campus, 2004, S. 233]“: Weil alle „Wirtschaftsentwicklung [...] ein Küstenphänomen“ ist - „[f]ast 70 Prozent des Welt-BIP werden in weniger als 100 Kilometer Entfernung von der Küste produziert“ - und Afrika nunmal das Unglück zufällt, der „Kontinentalblock mit der im Verhältnis zu seiner Fläche kürzesten Küstenlinie der Welt“ zu sein; weil „[e]s kein Sozialkapital, keine sozialen Fähigkeiten oder politischen Führer, die langjährige, konsequente Wirtschaftsstrategien vorweisen können“, besitzt (S. 235); weil es den Ländern dort nicht ganz recht gelingen will, „sich zu organisieren“ (S. 236).

Selten kommen mir in solchem Maße „ver-rückte“ Wahrnehmungsmuster unter. Dass sie an Einfalt nicht zu übertreffen sind, bedarf keiner weiteren Betonung; ich traue mich gerade nur nicht, diese Frage zu beantworten: ob es denn ansatzweise möglich ist, solchen „Denkern“ (sofern sie denn überhaupt meinem Verständnis nach über die Welt „reflektieren“) konstruktiv ihre beschämende Einfalt aufzuzeigen?

Anonym hat gesagt… said:

16. August 2008 um 17:53  

Als ich einmal einen kurzen Ausflug in die wirtschaftswissenschaftliche Literatur über Afrika und seine Probleme unternommen habe, hat mich ebenfalls das Grausen gepackt. Wie da hinter vielen Sätzen nur noch ein großes "Selber schuld!" steht, da ist beschämende Einfalt beinahe noch zu milde ausgedrückt.

Willyam hat gesagt… said:

18. August 2008 um 11:09  

Dass "beschämende Einfalt" noch zu milde ist, stimmt. Aber die Frage ist, mit welcher "Radikalität" man versucht, den wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs über Afrika aufzuschlüsseln. Für Dich und mich klingt das grausig, für Thurow dagegen scheinen Arroganz und die Logik des Fachs ineinander verfangen. Diese Erfahrung kultureller und logischer Blindheit (gegenüber den eigenen Vorurteilen und den Beschränkungen theoretischer Modelle) habe ich leider schon in vielen Gesprächen mit jungen BWLern in meinem Alter bestätigt erfahren: Wenn Modell A zu kurz greift, schließt das nicht aus, das Modell A' zu Modell B führt, das die Umstände umfassender erklärt. Die Quintessenz ist wohl die, dass die BWL für eine Gesetzeswissenschaft (Max Weber) halten, eigentlich aber - oder zumindest: gleichzeitig auch - Sozialwissenschaft sind.

Anonym hat gesagt… said:

18. August 2008 um 11:10  

Vielleicht bin ich ja in meinen kapitalistischen Denkstrukturen einfach nur zu verblendet, aber was genau ist an diesen Einschätzungen jetzt so "einfältig" und "stumpf"?

Meiner Meinung nach treffen sie den Kern der Sache doch ziemlich gut.

Vielleicht noch ein kleiner Hinweis, wenn ich mir die Spitze erlauben darf: Man sollte nicht Sachlage mit Schuldfrage verwechseln.

Ansonsten: Schöner blog, bin zum ersten mal hier, gefällt mir!

Willyam hat gesagt… said:

18. August 2008 um 11:33  

Hast Du Thurow schon mal gelesen? Oder W.W. Rostows universalistische Ableitung der Stadien Wirtschaftlichen Wachstums aus der europäischen Wirtschaftsgeschichte (1960), die sich im Kern als easy-to-follow Fünf-Stufen-Plan zur Überführung „traditionaler“ Gesellschaften in das (natürlich „moderne“) Zeitalter des (natürlich kapitalistischen) Massenkonsums versteht?

Schriebe ich meine Seminararbeiten auf dem Niveau, hätte ich meine Zwischenprüfungen nicht bestanden. Ich kann nur gegenfragen: Was erscheint Dir an seiner "Erkenntnis" einleuchtend: "Afrika ist ein am falschen geografischen Ort liegender Kontinent, auf dem alles, was misslingen konnte, auch misslungen ist." Woher nimmt er, nimmst Du das Recht, die Umstände so einseitig wertend zu sehen? Wie kann man zu dem - ja: einfältigen - Schluss gelangen, "ethnische Vielfalt" sei eine Ursache, ein zu bewältigendes Problem wirtschaftlicher Unterentwicklung?

Im Kern also: Mich "irritiert" die tiefe Kluft zwischen Wissen und Wertung, den der wirtschaftswissenschaftliche Diskurs offenbar nicht sanktionieren muss. Es stimmen eher Theorie und Vorurteil als Wissen und Erfahrung überein ...

Anonym hat gesagt… said:

18. August 2008 um 16:40  

Nein, ich habe Thurow oder Rostow nicht gelesen, bezweifele aber auch, dass das auf den Grad der Richtigkeit oder Falschheit meiner Kommentierung einen Einfluss hat. Die von Dir beigebrachten Ausschnitte reichen m.E. vollkommen aus.

Ich greife gerne das Beispiel der "ethnischen Vielfalt" auf: Ethnische Vielfalt hat ja nicht nur ihre vorteilhaften Seiten, die wir ja alle zur Genüge kennen. Nein, sie birgt in Form ihres inhärenten Dranges nach gegenseitiger Abgrenzung, Selbstbehauptung gegenüber Fremdem (sic!), und Angst vor dem eigenen Niedergang durch Fremde auch ausreichend Konfliktpotential, das, falls es nicht durch ausreichende kulturelle Grundierung (vulgo Bildung) gefesselt wird, sich nun einmal in (teilweise) gewalttätigen Konflikten entlädt.

Nimm als Analogie das Tierreich. Es wäre eine seltene Beobachtung, in einem Ameisenhaufen Ameisen zweier Arten koexistieren, ja sogar kooperieren zu sehen. Selbst wenn dieses rein wirtschaftlich, und damit aus Sicht der Arterhaltung, von Vorteil wäre, tendiert die Natur doch eher zu strikter Artentrennung. Und da Tiere nun einmal nicht über die menschliche Fähigkeit der Räson(ierung) verfügen (vulgo: keine Bildung haben), wird sich das auch nicht ändern.

Es ist nun einmal Fakt, ob man das gut findet oder nicht, dass in Afrika unreflektierte ethnische Vielfalt sicherlich ein wesentlicher Konfliktfaktor ist (wenn Du jetzt verstanden hast, was ich mit "unreflektiert" meine, hast Du auch mein Posting verstanden).

Die Lösung kann natürlich nicht Abschaffung der ethnischen Vielfalt sein, aber deren Beherrschung (wenn Du so willst).

Willyam hat gesagt… said:

19. August 2008 um 00:19  

Ich versuche zu verstehen: Der Wille ist da, aber der Vergleich von Menschen und Ameisen erschwert mir die Sache ein wenig.

Ganz außer Frage sind die zahlreichen Konflikte in Afrika Fakt. Wir nehmen nur in der Bewertung abweichende Perspektiven ein. Und mit Bewertung meine ich kein einfaches "gut" oder "schlecht", sondern ein aus der europäischen Geschichte Afrikas abgeleitetes Urteil, das uns über unsere gegenwärtige Verantwortung gegenüber diesen Konflikten aufklärt. Und just diese "Bereitschaft zur Geschichte", wenn Du sie so nennen willst, sehe ich in der kulturellen, vor allem aber wirtschaftlichen Wahrnehmung Afrikas nicht mal andeutungsweise angedacht. Stattdessen verhält man sich vermeintlch objektiv, tatsachenorientiert - und verkennt, wie sehr man in der Disziplin wertende Standards, nämlich europäische oder "westliche", setzt, die man für sich selbst in umgekehrter Situation ablehnen würde.
Vielleicht liegt das an meiner Lektüreauswahl - aber ist das eine Logik, die Du verteidigen kannst, ohne zwischen ethischen oder moralischen Dilemmata eingekeilt zu werden? Oder spielen sie aus Deiner Sicht einfach keine funktionale Rolle?

Anonym hat gesagt… said:

19. August 2008 um 13:01  

"Bereitschaft zur Geschichte": Siehe mein erstes Posting. Sachlage und Schuldfrage sind zweierlei. Ich beurteile, verurteile oder entschuldige die Verantwortung des sogenannten "Westens" an der Lage nicht - aber das ändert sie nun einmal leider nicht. Und rein sachlich - ich bleibe dabei - hören sich Thurows Einschätzungen ganz überzeugend an.

"... und verkennt, wie sehr man in der Disziplin wertende Standards, nämlich europäische oder "westliche", setzt, die man für sich selbst in der umgekehrten Situation ablehnen würde."
Ich glaube nicht, dass Menschenrechte und konfliktfreies Leben "westliche" Standards sind. Außerdem glaube ich kaum, dass die Mehrzahl der Afrikaner mit ihrem wirtschaftlichen Dasein so zufrieden ist.

Die Spitze am Anfang sei Dir gegönnt. Musste sogar Lächeln. Vergleiche mit dem Tierreich sind wirken immer etwas ... vereinfachend.

Willyam hat gesagt… said:

19. August 2008 um 13:56  

Vielleicht bist Du ja bereit zuzugeben, dass "sachlich" und "praktisch" zwei zwar nicht immer, aber in diesem Fall doch sehr entgegengesetzten Welten zuzuordnen sind. Und selbst wenn ich versuchte, seine offene Wertung als neutrale Kenntnisnahme zu lesen - die Wahl seiner saloppen Worte ist Ohrfeige genug. Die Interpretation, er kritisierte mit diesem Satz indirekt auch die nicht entschuldbaren Interventionen Europas in den vergangenen drei oder vier Jahrhunderten, ist naiv, wie doch die nachfolgenden Sätze zeigen: "Afrika" (für ihn offenbar nur EIN homogener Kontinent) verfügt weder über "Sozialkapital" noch über "soziale Fähigkeiten". Wie kommt man zu einer solch überheblichen Aussage, der - doch: ich beharre darauf - eine offen normative Wertung zugrunde gelegt ist? Wenn etwas falsch läuft, kann es nur gegenüber einem Maßstab falsch laufen. Das wirst Du doch nicht leugnen?

Dass dieser Maßstab nun universalen Anspruch hat, stellt Thurows nächste Überheblichkeit dar. Man kann die Welt nicht modellieren: Welchen Schaden wir damit allein im vergangenen Jahrhundert zu verantworten haben.

Aus meiner Sicht verwechselst Du, ganz in seinem Sinn, Lebensstandard mit Glückseeligkeit. Ein konflikfreies Leben ist für mich ohne jeden Zweifel, ohne jede Einschränkung "Menschenrecht" - die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die VN selbst aber ist keineswegs das gutmenschliche Wunderwerk, als das es hochgehalten wird: siehe hier und hier.

Und was Rostows Stadien anbelangt: Der Versuch, sie zu historisieren, führt mich immer wieder zu Karl Lamprecht, der im Kern folgendes dachte:
Er betrachtet kulturhistorische Entwicklung in Analogie zum Wachstum der Psyche und unterteilt sie in unterschiedliche Entwicklungsphasen, sog. "Kulturzeitalter". Geschichte ist für für ihn folglich teleologisch und läuft „auf die fortschreitende Differenzierung und Integrierung der menschlichen Seele hinaus[...], die sich an sozialpsychischen Entwicklungsfaktoren wie Sprache, Wirtschaft, Kunst, Sitte, Recht, Moral ablesen lässt.

Inwiefern - neue Frage an Dich - ist also Rostows & Thurows Weltsicht eine "bereinigte", mathematisierte Fassung der Thesen Lamprechts?

Anonym hat gesagt… said:

19. August 2008 um 14:59  

Ich ahnte, bereits als ich meine Zeilen verfasste, dass Du darauf hinweisen würdest, dass die berühmten "Menschenrechte" gar nicht so universal und unzweifelhaft sind, wie sie gemeinhin dargestellt werden. Ich hatte - und habe - daher auch ziemliche Bauchschmerzen bei Benutzung dieses Begriffs. Lass uns doch, um hier keinen überflüssigen Definitionskrieg vom Zaun zu brechen, einfach auf konflikt- und angstfreies Leben als "Menschenrechte" in unserem Sinne einigen.

Und diese so definierten Menschenrechte sehe ich als Maßstab an, gegen den gemessen werden muss, was richtig und falsch ist. Nur leider kann ich in der eingangs von Dir widergegebenen Auflistung von Einflussfaktoren auf eine Lage - gleich einer Zutatenliste in einem Backrezept - keine immanente Wertung erkennen - genausowenig, wie das Backen eines Kuchens moralisch richtig oder falsch ist.

Und selbst wenn eine solche Wertung impliziert wäre - wie Du sagst -, sage ich: So lange sie gegen meinen Maßstab ist, ist sie fair und - ja - universal.

Und nein, ich verwechsele nicht Lebensstandard und Glückseligkeit. Im Gegenteil. Ich stelle die gewagte These auf, dass der arme nigerianische Junge, der tagsüber mit seinen Freunden auf Müllhalden spielt und nachts in einer Wellblechhütte schläft, nicht weniger "glücklich" (wieder so ein schwieriges Definiendum) - oder gar glücklicher - ist als der gemeine Westeuropäer.

"„auf die fortschreitende Differenzierung und Integrierung der menschlichen Seele hinaus[...]": Hier verstehe ich nicht einmal, was diese Aussage bedeuten soll. Bevor ich also Deine Frage konkret beantworten soll, erkläre mir doch bitte erst, was eine "fortschreitende Differenzierung und Integrierung der menschlichen Seele" ist. Unabhängig davon kann ich in der Anfangsauflistung allerdings kein letztgültiges Ziel erkennen. Desungeachtet kann ich, generell gesehen, teleologischen Geschichts- und Weltbildern allerdings eher wenig abgewinnen, siehe Marx und Spengler.

Willyam hat gesagt… said:

21. August 2008 um 01:52  

Zu später Stunde eine hoffentlich nichtsdestotrotz sinnvolle Antwort:

Der Globalisierung liegt keine Teleologie, mag sie auch subtiler formuliert sein, zugrunde?

Deine vorläufige Menschenrechtsdefinition nehme ich gern an - und ergänze mit Verweis auf Deine gewagte These: konfliktfreies Leben hat an sich wenig mit Kapitalismus und Globalisierung gemein; das eine ist mit dem anderen nicht notwendig gekoppelt. Und doch übertragt man in voreiliger Manier gern den eigenen Standard auf einen gesamten Kontinent, nachdem man geraume Zeit damit verbracht hat, ihn den eigenen wirtschaftlichen Vorteilen anzupassen. Im Nachhinein darauf zu verweisen, dass viele afrikanische Staaten unter "niedriger Produktivität" und "einseitiger Exportstruktur" litten, ist mehr als schlechter Zynismus. Bestenfalls verweist die zitierte Aufzählung auf Tatsachen - nicht aber auf Ursachen.

Darüber hinaus: Auf mehr als die eigenen Ressourcen kann man nicht zurückgreifen. Der Vorwurf, man habe die wenigen, auf die man seinen wirtschaftlichen Erfolg hätte bauen können, offensichtlich nicht zu nutzen gewusst, ignoriert schon wieder, dass Schürf-, Förder- und Abbaurechte überweigend in fester europäischer Hand sind.

Anstelle einer Benennung dieser Umstände von UNTER-Entwicklung zu sprechen ... bleibt mir schlicht und ergreifend unverständlich, blind.

Mehr noch: welche spezifische Rolle spielen "schwierige Boden- und Wachstumsverhältnisse", "tropisches Klima" und "geografische Isolation"? Sind die asiatischen Staaten oder Indien etwa geografisch weniger entlegen? Auch der Verweis auf "oft schwierige Boden- und Wachstumsverhältnisse" verschleiert die Tatsache, dass es durchaus wirtschaftlich lukrative Landwirtschaften geben könnte - wenn die großen Reichen davon absähen, ihre eigene Landwirtschaft so massiv zu subventionieren. Ich habe gehört, irische Butter soll in Tansania günstiger sein als heimisch produzierte. Auch hier ist es eher "niedrige Produktivität" anstelle "hoher Exportzölle" oder eines "überregulierter Absatzmärkte", die attestiert werden.

Und in wieweit europäische und US-amerikanische Interessen für "Staatsversagen und institutionelle Schwächen" mitverantwortlich sind, ist ein weiteres, ganz eigenes Kapitel.

Nochmals abschließend also: Ähnlich wie Du Sachlage und Schuldfrage differenziert betrachtet wissen möchtest, sollte man Tatsachen und Ursachen trennen wollen.