Nerone hat vor kurzem (8.11.) sehr beeindruckend über seine Begegnung mit den Fotografien Hiroshi Sugimotos geschrieben, während ich mehr oder weniger zur gleichen Zeit in einem sehr spannenden Seminar zum Thema "Stadt und Fotografie" über die Arbeit Jeff Walls diskutieren durfte. Kaum erstaunlich, dass bei dem Versuch, die Frage nach der Wirkung seiner Bilder früher oder später auf Susan Sonntags "Das Leiden anderer betrachten" Bezug genommen wurde. Ihr Argument scheint mir ein verstärktes Echo der Kritik, die Walter Benjamin in seinem Klassiker "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" festhielt. Für fotografische Aufnahme sei "[...] die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden", schreibt er dort. "Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes [...]": Es sind "[...] Direktiven, die der Betrachter von Bildern der illustrierten Zeitschrift durch die Beschriftung erhält [...]" (meine Betonung; in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/Main 1974, S. 485). Die Fotografie kommt ohne Betrachtungsanweisung nicht aus. Susan Sonntag allerdings, schreibt Stephanie Ross in "What Photographs Can't Do" (The Journal of Aesthetics and Art Criticism 41/1, 1982), wollte diesen Direktiven allerdings jegliche Autorität absprechen - zumindest in moralischer Dimension. Weder ethisches noch politisches Wissen, so Sonntag, könne durch ein Bild vermittelt werden.
Während in der Folge über Sonntags Frage, ob "[...] man durch ein Bild [...] dazu gebracht werden kann, sich aktiv gegen den Krieg [- oder gegen jedes andere Leid(en) -] einzusetzen [...]" ("Das Leiden anderer betrachten", S. 104) viel gestritten wird und gestritten werden muss, stelle ich mir gerade eine prinzipiellere Frage: Mich interessiert nicht, was das Medium Foto selbst transportiert (oder nicht transportieren kann), sondern wie stark mein Wissen über den Urheber die Wirkung seiner Fotografie beeinflusst. Wie also trägt das, was Jeff Wall persönlich über seine hochästhetischen Bilder sagt, zu meiner Interpretation seiner Bilder bei? Meine Beunruhigung hat sein Interview mit dem Berliner Tagesspiegel provoziert:
Politische Künstler sind wichtig, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich wäre es eher unethisch, wenn ich weniger gute Bilder machen würde, als ich könnte. Das ist meine Ethik: Das Leben der Menschen, die ich als Motiv ausgewählt habe, wirklich zu würdigen. Ich bin empathisch in dem Moment, in dem ich das Bild mache, aber im Alltag würde ich am gleichen Menschen vielleicht achtlos vorübergehen. Für mich ist letztlich wichtig, dass das Bild eine Bedeutung besitzt.So weit, noch/so nachvollziehbar. Seine Antwort auf die darauffolgende Frage aber bringt mich aus der Fassung.
Sie stellen Leiden hochästhetisch dar. Besteht darin kein Widerspruch für Sie?Womit ich mich erstaunt an Walter Benjamins Prognose zurückwenden kann: "In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen." Aber auch wenn der Kultwert bei Wall noch einmal seine "letzte Verschantzung [...] das Menschenantlitz [...]" beziehen kann, frage ich mich unweigerlich: Untergräbt seine Haltung den "Wert" seiner Arbeit? Sollte ich seine Haltung überhaupt einbeziehen? Oder sie ignorieren? Kann man, darf man sich seiner Arroganz zum Trotz zum mitleidenden Blick hinreissen lassen, also allein das Bild betrachten? Den Autor, seine Motivation, außen vor lassen? Ist die ethische Dimension fotografischer Kunst ausschließlich vom Auge des Betrachters abhängig?
Ich möchte, dass sich der Betrachter an den Bildern erfreut. Alle Kunst ist dafür gemacht, sie ist ein Geschenk. Der Betrachter genießt das Bild und nicht das Thema. Durch das Thema könnte er sich auf die eine oder andere Art zum Handeln genötigt fühlen, aber bei der Betrachtung eines Bildes geschieht dies gerade nicht. Anders als es im realen Leben, wenn wir einem Bettler begegnen und uns schuldig fühlen, goutieren wir bei derselben Person, sobald sie abgebildet ist, die Farben und Formen. Gleichzeitig denken wir, das sei falsch und fühlen uns schon wieder schuldig. Das ist auch das Charakteristische moderner Kunst. In den autoritären Gesellschaften wurde Kunst nur für die Regierenden zur Selbstdarstellung gemacht. Seit Gustave Courbet werden auch die Armen auf eine großartige Weise dargestellt.