Liegt Ethik im Auge des Betrachters?

Nerone hat vor kurzem (8.11.) sehr beeindruckend über seine Begegnung mit den Fotografien Hiroshi Sugimotos geschrieben, während ich mehr oder weniger zur gleichen Zeit in einem sehr spannenden Seminar zum Thema "Stadt und Fotografie" über die Arbeit Jeff Walls diskutieren durfte. Kaum erstaunlich, dass bei dem Versuch, die Frage nach der Wirkung seiner Bilder früher oder später auf Susan Sonntags "Das Leiden anderer betrachten" Bezug genommen wurde. Ihr Argument scheint mir ein verstärktes Echo der Kritik, die Walter Benjamin in seinem Klassiker "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" festhielt. Für fotografische Aufnahme sei "[...] die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden", schreibt er dort. "Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes [...]": Es sind "[...] Direktiven, die der Betrachter von Bildern der illustrierten Zeitschrift durch die Beschriftung erhält [...]" (meine Betonung; in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/Main 1974, S. 485). Die Fotografie kommt ohne Betrachtungsanweisung nicht aus. Susan Sonntag allerdings, schreibt Stephanie Ross in "What Photographs Can't Do" (The Journal of Aesthetics and Art Criticism 41/1, 1982), wollte diesen Direktiven allerdings jegliche Autorität absprechen - zumindest in moralischer Dimension. Weder ethisches noch politisches Wissen, so Sonntag, könne durch ein Bild vermittelt werden.

Während in der Folge über Sonntags Frage, ob "[...] man durch ein Bild [...] dazu gebracht werden kann, sich aktiv gegen den Krieg [- oder gegen jedes andere Leid(en) -] einzusetzen [...]" ("Das Leiden anderer betrachten", S. 104) viel gestritten wird und gestritten werden muss, stelle ich mir gerade eine prinzipiellere Frage: Mich interessiert nicht, was das Medium Foto selbst transportiert (oder nicht transportieren kann), sondern wie stark mein Wissen über den Urheber die Wirkung seiner Fotografie beeinflusst. Wie also trägt das, was Jeff Wall persönlich über seine hochästhetischen Bilder sagt, zu meiner Interpretation seiner Bilder bei? Meine Beunruhigung hat sein Interview mit dem Berliner Tagesspiegel provoziert:

Politische Künstler sind wichtig, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich wäre es eher unethisch, wenn ich weniger gute Bilder machen würde, als ich könnte. Das ist meine Ethik: Das Leben der Menschen, die ich als Motiv ausgewählt habe, wirklich zu würdigen. Ich bin empathisch in dem Moment, in dem ich das Bild mache, aber im Alltag würde ich am gleichen Menschen vielleicht achtlos vorübergehen. Für mich ist letztlich wichtig, dass das Bild eine Bedeutung besitzt.
So weit, noch/so nachvollziehbar. Seine Antwort auf die darauffolgende Frage aber bringt mich aus der Fassung.
Sie stellen Leiden hochästhetisch dar. Besteht darin kein Widerspruch für Sie?

Ich möchte, dass sich der Betrachter an den Bildern erfreut. Alle Kunst ist dafür gemacht, sie ist ein Geschenk. Der Betrachter genießt das Bild und nicht das Thema. Durch das Thema könnte er sich auf die eine oder andere Art zum Handeln genötigt fühlen, aber bei der Betrachtung eines Bildes geschieht dies gerade nicht. Anders als es im realen Leben, wenn wir einem Bettler begegnen und uns schuldig fühlen, goutieren wir bei derselben Person, sobald sie abgebildet ist, die Farben und Formen. Gleichzeitig denken wir, das sei falsch und fühlen uns schon wieder schuldig. Das ist auch das Charakteristische moderner Kunst. In den autoritären Gesellschaften wurde Kunst nur für die Regierenden zur Selbstdarstellung gemacht. Seit Gustave Courbet werden auch die Armen auf eine großartige Weise dargestellt.
Womit ich mich erstaunt an Walter Benjamins Prognose zurückwenden kann: "In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen." Aber auch wenn der Kultwert bei Wall noch einmal seine "letzte Verschantzung [...] das Menschenantlitz [...]" beziehen kann, frage ich mich unweigerlich: Untergräbt seine Haltung den "Wert" seiner Arbeit? Sollte ich seine Haltung überhaupt einbeziehen? Oder sie ignorieren? Kann man, darf man sich seiner Arroganz zum Trotz zum mitleidenden Blick hinreissen lassen, also allein das Bild betrachten? Den Autor, seine Motivation, außen vor lassen? Ist die ethische Dimension fotografischer Kunst ausschließlich vom Auge des Betrachters abhängig?

karl gumbricht hat gesagt… said:

20. November 2007 um 00:05  

Hallo und danke für die Erwähnung.

Jeff Wall beschreibt seine Funktion als Künstler sehr präzise. Er entdeckt und legt frei, dann prüft er und optimieret und dient nur einem: der Bildwirklichkeit. Wall ist sehr ehrlich und politisch gänzlich unkorrekt. Aber er hat recht. Er muss der Form und der Bildwirklichkeit dienen, denn das ist das was er kann. Sein Talent dient einer Bildwirklichkeit, die sich durch ihn ausdrückt, die er aber nicht beherrscht. So kann das Bild für den einen ein politisches Statement sein, für den anderen Ausdruck einer verlorenen archetypischen Landschaft in uns; der eine betont das Metaphysische, der andere das Materielle. Wall kann durch einen Titel auch nicht mehr machen als der Kritiker - er gibt dem Bild, dass nunmehr selbstständig, ohne seinem Schöpfer wirkt nur interpretieren. Ich kenne Benjamins Schriften (noch) nicht. Aber ich denke er überschätzt den Akt der Titelfindung (Beschriftung). Im Titel liegt nicht die Kraft einer Fotographie. Ich denke auch das Susan Sonntag eher recht hat. Vermittelt wird kein Wissen und schon gar nicht ein ethisches oder moralisches...

Was du über den Urheber weißt beeinflusst eigentlich nur deine Haltung zum Künstler nicht zu seinem Werk. Leni Riefenstahls Filme sind gruselig aber von einem hervorragenden Formverständnis und ihrer Zeit weit voraus (mag nicht stimmen, passt mir aber als Argument)

Du selbst bezeichnest Wall als arrogant. Ich nehme ihn als sehr ehrlichen Analysten seiner verschiedenen Rollen, die als Künstler einerseits und die als Privatier andererseits wahr. Das belegt für mich die Feststellung, dass wir hier den Künstler und nicht sein Werk besprechen, wenn wir versuchen ihm mangelndes soziales Bewusstsein oder Ethik in seinem Werk vorzuwerfen und dann zu sagen, weil es die von uns verlangten Werte nicht enthalten könne es ergo auch keine guten Bilder wären- In dem Satz sind jetzt schon mindestens drei beschissene Kategorien, die für die Kunsterstellung Gift sind, weil sie Schranken aufweisen. Wall ist keine Dokumentator, er ist Künstler. Er verpflichtet sich nicht der Realität, sondern der Bildwirklichkeit. Da diese über ein Dokument hinaus geht berührt uns diese Bildwirklichkeit besonders. Sie gilt es tatsächlich zu feiern. Und das tut Wall, wenn er von Ästhetik und Form spricht.

"Ist die ethische Dimension fotografischer Kunst ausschließlich vom Auge des Betrachters abhängig?"

Ja! Geh davon aus, dass Wall als Betrachter seiner Bilder in einer anderen Kommunikation zu dem Bild steht, als wenn er den Set vorbereitet! Oder denke an Picasso! Wäre ich Frau müsste ich jedes seiner Bilder hassen. Der Typ war ein Egomaner Macho! Dorian Grey! Bukowski! Thomas Bernhard! Benn! Heidegger (der Schlimmste in der Reihe vielleicht - aber ein Ästhet des Geistes)! Es gibt 'ne Menge Arschlöcher, die sich nicht geschont haben um die Wirklichkeit zu ergänzen. Sie waren immer auch Ästheten. Oder?

karl gumbricht hat gesagt… said:

20. November 2007 um 00:10  

Ein wirklich Wertvoller Link:
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/4446859/
passt in die Diskussion.

Hier etwas Zusammengefasst und ein wenig interpretiert:
http://dienormseite.twoday.net/stories/4460769/

Willyam hat gesagt… said:

21. November 2007 um 16:46  

Nerone,

ich könnte nicht entschiedener widersprechen: "Sein Talent dient einer Bildwirklichkeit, die sich durch ihn ausdrückt, die er aber nicht beherrscht." Ein Künstler versucht (ähnlich wie ein Wissenschaftlicher, möchte ich zu wagen behaupten), die Welt zu verstehen; sein Verstehen sehe ich als seine Antwort auf sein Hinterfragen der von ihm beobachteten Zustände. Künsterlische Arbeit zeichnet sich meiner Ansicht nach durch einen bewussten Reflexions- und einen daraus erwachsenden Darstellungsprozess aus, durch den sie empathisch an die Wahrnehmung anderer anknüpft. Diese Kommunikation gelingt einem Künstler nicht, indem er die Welt passiv abbildet, indem er der Welt sein individuelles Können als interessenloses Werkzeug zur Verfügung stellt. Ein Künstler ist für mich Verstärker: Seine Arbeit ist eine Einladung, mehr oder weniger "Provokation", sprich: ein An- oder Aufruf zur Auseinandersetzung mit dem Dargestellten. Bis zu einem gewissen Grad (be)herrscht er also durchaus - indem er mich aufmerksam macht. (Ich möchte ihn und seine Arbeit von der Auffassung abgrenzt wissen, jeder sei "Künstler", der Werkstoffe, Instrumente oder Materialien (welcher Definition auch immer) bearbeitet.)

Das kann er auf "politische" oder "unpolitische" Art und Weise tun. Mein Argument, meine Empörung rührt aus meiner Auffassung heraus, dass ich das Bild, das im Tagesspiegel abgedruckt ist, vielleicht nicht als grundsätzlich dokumentarisch, aber doch dokumentarischER empfinde als andere Kunst. Es ist eine Fotografie, keine Collage, auf der Straße und nicht im Studio entstanden. "DokumentarischER" will hier nicht heißen, dass ich seine ästhetische Auseinandersetzung mit der Situation ausschließe - im Gegenteil: ich räume ihr großen Raum ein. Wie Wall Menschen in ihren sozialen Umständen darstellt, ist durchaus (und für ihn ja: ausschließlich) eine Frage der Ästhetik. Dennoch bleibt die Tatsache: Ich sehe kein detailliert vorbereitetes Studioset, sondern Menschen, denen viele meiner alltäglichen Selbstverständlichkeiten verwehrt bleiben. Diese Menschen abzubilden ist also seine mehr als bewusste Entscheidung.

Was nun meine (für's Argument angenommene) Fotografie von der Walls unterscheidet, ist ihre Ästhetik. Mir fehlt Walls Können, sein Talent, sein Blick für "den Moment", für die "Kunst". Ich beherrsche meine Kamera nicht so wie er, kann die chemischen Reaktionen des Films nicht so präzise einschätzen wie er u.v.m. Wenn seine Bilder ausgestellt werden, dann aus dem Grund, dass sie "Kunst" sind. Seine Auseinandersetzung mit der Welt ist in diesem Fall medial "treffender" kanalisiert als meine. Sein Bild berührte eher als das meine, dem es vermutlich deutlich an Eindringlickeit fehlte. Diese Ästhetik ist ihr Wert, ihre (wenn auch nicht im Sinne Benjamins) "Aura", wenn Du so willst.

Was mich frustriert, ist die (für mich leider nur allzu verständliche) Tatsache, dass diese Ästhetik in keinem, aber auch keinem Zusammenhang mit der Intensität seiner und meiner Auseinandersetzung, seiner und meiner Berührung, mit dem Motiv steht. Der Kunstwert seiner Arbeit scheint (allein?) dieser Abkoppelung verdankt zu sein: Seine Fotografie ist aus seiner Sicht rein qualitativ (= "gute Bilder"), ästhetisch. In Abwandlung dessen, was Gumbricht über das Kunstverständnis Herbsts schreibt: Es gilt - danke für Deinen Hinweis - offenbar, unter keinen Umständen "[...] das Bild [zu] vereinnahmen - schon gar nicht als Produzent von Literatur, von Kunst. Die Vereinnahmung beginnt in der Profanisierung von Begrifflichkeiten durch die Festlegung kalkulierbarer Interpretationsmöglichkeiten aller verwendeter Begriffe." (http://dienormseite.twoday.net/stories/4460769/) Für mich dagegen sind Motiv und Motivation, Ästhetik und soziale Aussage, technisches Können und das eingebunden Sein in eine Situation hier nicht trennbar. Die soziale Dimension ausblenden zu können, ein Armutsviertel also nur noch als lebendiges Archiv ästhetischer Motive zu sehen, ist per se bereits pervers. Perverser noch ist die Tatsache, dass er - wortwörtlich - aus diesen ästhetischen Abbildungen persönliches Kapital "schlägt": Indem Wall sein Bild zum reinen Ausstellungsobjekt stilisiert, ehrt er meiner Ansicht nach nicht, sondern degradiert geradezu die von ihm abgelichteten Menschen. Nochmals zur Betonung: Es geht um Menschen, um die künsterlische Darstellung ihrer Lebenswirklichkeit. Sie sind keine "Abbilder", sondern real, lebendig, aus Fleisch und Blut. Ihr Leben ist keine entlehnte, im Studio nachgestellte künstlerische "Bildwirklichkeit" (daher meine Betonung des trotz aller Ästhetik nach wie vor doch "dokumentarischen" Charakters des im Tagesspiegel abgedruckten Bildes).

Letztendes habe ich dafür offenbar kein wirkliches, wirkungsvolles Argument außer den Verweis auf die intuitiv in meinem Gewissen verankerte Abwehr, mit Können und Know-How aus Menschen einen derart offenen Profit zu schlagen. Dass die Welt in ihren Zusammenhängen so komplex ist, dass man nie weiß, wem man mit den Konsequenzen welcher Handlung Unrecht zufügt, ist mir klar. Aber wie in diesem Fall sind die Linien selten so deutlich gezogen: Auf der einen Seite ein Fotograf von bestem Ruf (weiß), auf der anderen ein Mensch (schwarz), dem viele meiner Lebenschancen verwehrt bleiben. Der Fotograf wird reichlich entlohnt (mit 300 000 €) und feiert sich dank Selbstfreispruch als unbeteiligten Ästheten. Was bei seiner strikten Betonung des Ästhetischen verloren geht, ist das Persönliche: Der abgebildete Mensch, nur noch Motiv, wird austauschbar. Er könnte genauso gut der nächste Arme um die Ecke sein - wenn er denn fotografisch verlockend genug ist. Das grenzt für mich an Narrenfreiheit.

Was mich daher wohl tatsächlich bewegt ist nicht, dass Wall ein "Arschloch" zu sein scheint - das gibt er ja indirekt zu. Was mich wurmt ist, dass seine Besucher, mehr noch: seine Käufer ihn würdigen - indem sie ihn finanzieren. Wenn Wall mit seinem Streifzug durch ein Armenviertel nichts bewegen möchte, soll er dafür auch nichts (na gut, ein Kompromiss: deutlich weniger) bekommen.

karl gumbricht hat gesagt… said:

21. November 2007 um 23:10  

Hallo Willyam,

es ist ein spannendes Thema - ohne Frage. Ich will eigentlich mehr auf den Schöpfungsprozess abzielen. Also, dass was der Künstler berücksichtigen mag oder nicht, wenn er ein Bild komponiert. Ich bin im Übrigen sicher, dass die Arbeit des Fotografen, bei einer so Präzisen Bildkomposition einem Set-Aufbau gleich kommt. Ich will dir erklären welche Ebene Wall intendieren könnte, wenn er behauptet nicht politisch oder mit sozialem Interesse zu arbeiten (was er ja nicht tut). Teil seiner Komposition ist ja der Kontrast. Stell dir einfach mal vor, wo nachher so ein 30-mille Bild hängen wird. Und sei es in irgendeinem Museum.

Ich denke da zugegebener Massen an Prozesse, die ich vom Zeichnen kenne. Zwar betrachte ich eine Szenerie, aber ich objektiviere meinen Blick sowohl auf den Gegenstand, als auf das Bild. Es ist notwendig eine gewisse Distanz zu dem eigenen Tun und sehen herzustellen. Es ist ein wenig so als schautest du dir zu. Bei Schönheit fragst du warum, bei Hässlichkeit auch: Warum ist es hässlich? Aber Ziel ist es nicht die gesehen Realität abzubilden, sondern das Blatt entsprechend deinen Möglichkeiten zu füllen und dabei Entscheidungen zu treffen, die der Form der Zeichnung dienen. Du baust also auch eine Form der Objektivität zu deiner "Perspektive", deiner Subjektivität auf. Das sind Prozesse, die um so besser laufen, als du keine Zielsetzung voranstellst. Wenn ich Wall richtig verstanden habe waren die Bilder aus dem Zyklus, der seine Heimatstadt zum Thema hat.

Er sagt:
"Das ist ebenfalls eher Zufall (die Motive, anm, nerone). Ich verfolge kein Konzept, sondern reagiere nur auf das, was mich gerade berührt. Ich versuche offen zu bleiben. Manchmal verändert sich während der Arbeit sogar noch das Motiv."

"Menschen, die kämpfen, sind faszinierender. Sie befinden sich in einem dynamischen Prozess. "

"Das ist meine Ethik: Das Leben der Menschen, die ich als Motiv ausgewählt habe, wirklich zu würdigen. Ich bin empathisch in dem Moment, in dem ich das Bild mache, aber im Alltag würde ich am gleichen Menschen vielleicht achtlos vorübergehen."

Ich sehe darin kein politische Agenda, sondern tatsächlich so etwas wie Achtung vor dem Motiv. Seine Arbeiten scheinen eher psychologisch motiviert zu sein. Sie zielen am Ende aber darauf hin, dass er den Blick wählt, der uns den Menschen, die er ablichtet in Würde begegnen lässt und wir wiederum an seinem Blick anteil haben. Warum muss das den politisch oder sozial motiviert sein? Das machte die Bilder ja vielleicht sogar schlechter? Seine Bildwirklichkeit ist ja von höchstem Wahrheitsgehalt, weil es keine Schlagworte enthält. Und Schlagworte entstehen durch Vorwegnahme, durch Intention, durch Unterstellung. So meine ich das in etwa.

Mit der Haltung des Künstelrs,wenn er sein eigenes Bild betrachtet, meine ich tatsächlich, dass der Künstler dann seine Mediale Rolle als Wahrheitsträger verloren hat. Die Wahrheit ist nunmehr abgebildet und der Künstler steht wie jeder andere Betrachter als Interpret der Wirklichkeit des Bildes vor dem selben.

Ich glaube noch nicht mal, dass Wall ein Arschloch ist - er ist nur ehrlich genug es nicht auszuschließen. Wir wissen doch gar nicht, ob er nicht so und so viel für irgendwelche Projekte abdrückt oder so. Als Künstler wird er mit dem Werk und dessen Qualität gemessen und nicht mit seiner politischen oder sozialen Haltung, die ja dann auch nur - gerade in Interviews - Bekenntnischarakter hätte. Der Fehler in deiner Betrachtungsweise, Willyam, liegt darin, dass du das Interview für wahrhaftiger nimmst, als Walls Kunst, was ich wiederum nicht verstehe. Ich habe mir mittlerweile einige Bilder angesehen, dann erinnere ich eines im K21 - und muss sagen, der Typ kennt gar kein anderes Thema als the struggel of life. Das wird aber nicht als politisches Credo abgehandelt sondern im Einzelschicksal und wir dadurch überhaupt erst für den Betrachter in seinem Übel greifbar. Zwar hat Wall recht, wenn er behauptet ein Bild zwänge einen nicht zum handeln. Grausamer ist, dass es ausweglos ist, je besser das Bild ist, desto weniger kannst du seiner Wirklichkeit entgehen - und schon gar nicht kannst du dich von dem Eindruck frei kaufen.

Willyam hat gesagt… said:

28. November 2007 um 11:29  

Lieber Nerone,

meine Entschuldigung für die fehlende Antwort. Ich hatte mir vorgenommen, seine Ausstellung in der Deutschen Guggenheim zu besuchen, habe es bisher aber nicht geschafft. Bis dahin kann ich Dich vielleicht mit folgendem Link bei Diskussionslaune halten: http://www.columbia.edu/cu/museo/3/jeffwall.htm

_ W

Willyam hat gesagt… said:

6. Dezember 2007 um 01:50  

Lieber Nerone,

Austellung besucht, weiter in unserer Diskussion - wenn Du magst? Je mehr ich mich mit diesem für mich eigentlich recht entlegenen Thema befasse, desto begeisterter bin ich - nicht zuletzt dank Deinen ausführlichen, kenntnisreichen Antworten.

Bevor wir uns zu sehr festfahren und unsere Verortungen zu einem banalen gegeneinander Anreden erstarren: Ich verstehe - ich begreife - Deine Argumente; ich teile sie zu einem sehr großen Teil. Ich will das deutlich machen, nicht indem mich um eine halbwegs angemessene Wiedergabe Deiner Worte bemühe, sondern sie um ein zwei Absätze aus einem großartigen Kunstband ergänze, den ich neulich entdeckt (und daraufhin: direkt erworben) habe. Im 2. Band "Kunst des 20. Jahrhunderts. Skulpturen und Objekte, Neue Medien, Fotografie" (Hrsg.: Ingo F. Walther, Köln: Benedikt Taschen, 2005; dringende Kaufempfehlung, weil derzeit über die Wohlthatschen Buchhandlungen vergünstigt zu beziehen ...) lese ich über Wall & Co.:

"Obwohl sich [seit den 90ern] die Künstlerinnen und Künstler der Fotografie von durchaus unterschiedlichen Positionen näherten, leitete sie stets ein reflexives Moment. Sie begriffen die Fotografie sozusagen als Stoff, den sie kraft künsterlischen Zugriffs in ein autonomes ästhetisches Material verwandeln konnten. Die Fotografie war für sie nicht länger das Vehikel, sich die Bruchstücke der sichtbaren Wirklichkeit anzueignen und in entsprechender Gestalt wiederzugeben, sondern sie erkannten sie in ihr einen eigenen Bestandteil des Wirklichen, dessen Beschaffenheit es zu befragen galt." Insbesondere bei Jeff Wall, heißt es weiter, kippe "[d]er fotografische Realismus [...] in die durch und durch kalkulierte Künstlichkeit einer Fotografiekunst um (S. 674; 676).

Durch und durch kalkuliert ist seine Kunst in der Tat, das hattest auch Du bereits hervorgehoben. Inzwischen weiß ich, dass das Bild, was mich so stark bewegt, eines von zig Duzend Bildern desselben Motivs (derselben kriegspielenden Kinder) ist, das im Verlauf von vier Tagen entstanden ist. Es ist eins von siebzig, achzig, neunzig, aber es ist das Perfekteste, das Ausgewählte. Hier verschwimmen also tatsächlich die Grenzen zwischen dokumentarischem Festhalten menschlicher Lebensumstände und inszenierter Kunst. Er ist in der Tat ein "painter of modern life", wie er sich selbst gern, aber nicht ausschließlich bezeichnet (http://www.columbia.edu/cu/museo/3/jeffwall.htm), der die Einheit und Integrität eines jeden Kunstwerks - unabhänging von dessen Bezugnahme auf eine Realität außerhalb seiner selbst - als einen seinen zentraler Moment bestimmt ("I see the unity of the work of art as an unavoidable moment of the making and of the experiencing of any work [...] It means [representing] phenomena of the now that are configured as pictures by means of [... an] accumulation of standards and skills and style and so on" (http://www.columbia.edu/cu/museo/3/jeffwall.htm).

Das Selbstverständnis, das diese Kunst für sich beansprucht, kann ich nachvollziehen. Wie ich bereits an früherer Stelle betont habe, ist es nicht die technisch-künstlerische Ebene der Fotografie Walls, die ich hinterfrage. Wenn wir es als gegeben annehmen, dass jeder Diskurs seine eigenen Wahrheiten entwirft, dann formuliere ich mit der "moralischen" Antwort auf meine Ausgangsfrage ("Liegt Ethik im Auge des Betrachters?") zum wiederholten Male einen Vorwurf, der innerhalb des Diskurses dieser selbstreflexiven Kunst einfach nicht formulierbar ist. Walls Kunst dreht sich schließlich um sich selbst. Es geht ihm um die Fotografie als Fotografie, als eigenständige Kunstform: "[d]ie Fotografie sozusagen als Stoff, den [... er] kraft künsterlischen Zugriffs in ein autonomes ästhetisches Material verwandeln" kann - auch wenn er noch so oft den "struggle of life" thematisiert.

Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich gerade allein auf das "einfache" im Prozess des künsterlischen Entstehens "in der Welt Sein" des Fotografen, zu dem Wall m.E. jegliche Stellungnahme verweigert. Er kann sich damit begnügen, als in seinen Worten "unpolitischer" Künstler allein der künsterlischen Dimension seiner Arbeit, nicht aber: der menschlichen Beachtung zu schenken.

Ein Beispiel aus der prallen Vielfalt des Alltagslebens: Vorige Tage ging ich unmittelbar vor dem S-Bhf Berlin-Friedrichstraße einer bettelnden Frau entgegen. Sie saß im leichten Nieselregen auf dem Boden und flehte in gebrochenem Deutsch um ein paar Cent. Während ich auf sie zuging, fiel mir im Augenwinkel eine junge Frau auf: Gut gekleidet, perfekt geschminkt. Sie stand ohne Jacke in der Kälte und hat geraucht. Ihre genaueren Umstände brauche ich nicht ausmalen; ich vermute, sie wird im S-Bhf gearbeitet haben und für ein zwei Minuten nach draußen gehuscht sein, um besagte Zigarette zu genießen. So belanglos ihre Situation im Konkreten ist: Ihre Körpersprache, ihr Blick, waren es, die mich einen Moment lang nicht losgelassen haben. Unbeteiligt, sogar gleichgültig und mitleidslos schaute sie mit Zigarette in der Hand die bettelnde Frau an. Eine Sekunde lang kam ich mir wie aus mir selbst entrückt vor: Ich dachte, DAS wäre ein Bild.

Ich versetzte mich daraufhin - zumindest einen Versuch ist es ja wert - in die Lage eines Fotografen wie Jeff Wall und stellte mir vor, vier Tage an Ort und Stelle zu verbringen, um dieses "Bild" festzuhalten. Vier Tage vor oder in der Nähe dieser bettelnden Frau, um eine ähnliche, intensive Konstellation nach allen Regeln der Ästhetik darzustellen. Dann spulte ich vor: Ich kassiere fünfzig, hundert oder zweihundert Tausend Euro für meine Arbeit und erkläre mich zur Ausstellungseröffnung zum unpolitischen Künstler.

DAS verstehe ich nicht. Gesetzt, Dein Einwand gilt - "Wir wissen doch gar nicht, ob er nicht so und so viel für irgendwelche Projekte abdrückt [...]" - ich frage mich, warum er seiner Milde nicht Ausdruck verleiht. Warum der so tiefenscharfe Autofokus auf die Kunst, warum nicht zumindest andeutungsweise ein Auge für das Soziale?