Aufklärung, die: geboren ? / getauft 1783 / gestorben?

Der Austausch mit Christoph spinnt sich fort. Meine Antwort(en) auf Christophs Antwort(en):

- "Broder globalisierungsskeptisch? Ein Mitglied von Attac? Das wäre mir neu. Traditionsorientierte Haltung? Auf jeden Fall! Und zwar in der Tradition der Aufklärung und der Freiheit."

Sicherlich ist er in meinen Augen globalisierungsskeptisch. Seine Kritik, wie auch Giordanos, ist offen eurozentrisch. Globalisierung findet für sie statt - allerdings nicht (mehr) in Europa. Wir sind die bereits Zivilisierten, Aufgeklärten, Demokratisierten. Die Menschenzuströme, die sie beklagen, sind für sie ein unwillkommener Kollateraleffekt, dessen Bewältigung (inzwischen gar: Beseitigung) sie schnellstmöglichst umgesetzt sehen möchten. Was mich besonders wütend macht, ist die Geschichtsverdrossenheit der beiden "in der Tradition der Aufklärung" stehenden Herren: Sobald wir einer Gesellschaftsgruppe fehlende Fähigkeiten und mangelnden Willen unterstellen, sind wir bereits erneut einem veralteten Denken verfallen, das Kolonialismus und Imperialismus begleitet hat. Huntingtons Clash of Cililizations ist nichts anderes als eine modernisierte Aufarbeitung der "mission civilisatrice", eine Neuformulierung der schon vor zweihundert Jahren empfundenen Last des verantwortungsvollen weißen Mannes ("the white man's burden"). Du berufst Dich auf die europäische Geschichte und schreibst: "Ich meine, dass extremistisch eingestellte Minderheiten ein größeres Problem sind als eine politisch wenig engagierte Mehrheit." Verständlich, aber meines Erachtens nach verkürzt gedacht. Es dürfte Dir nicht entgangen sein: Wenn eine Mehrheit ein Problem mit einer Minderheit hat, dann liegt das selten an der Minderheit. Und ich bezweifele sehr stark, dass der Generalvorwurf an Muslime, sie seien integrationsunfähig und -unwillig, aus diesem Muster herausfällt.

- Natürlich hast Du recht: Ich messe diese Demokratie an Idealen. Diese "dialektische Demokratie" hat es nicht gegeben, und auch heute glänzt sie durch ihr gänzliches Fehlen. Deinen Mangel an Vision aber teile ich nicht. Idealismus ist etwas, das die Europäer mit dem Ende der Französischen Revolution aufgegeben haben. Wer seither mehr fordert, ist kindlicher Idealist und radikal (=Anarchist). Warum? Meine Vermutung: Demokratie und Kapitalismus sind unvereinbar. Vielleicht gelingt es mir demnächst, mir meine Gedanken genauer auszuformulieren - wenn Du magst.

- Zur Einbürgerungsoption meiner Mutter: Natürlich besteht sie. Macht sie den Unterschied? Das eine Dokument für ein anderes eintauschen? Auch hier frage ich wieder grundsätzlich: Macht sie ein Pass zur Deutschen? Und, was nicht das gleiche ist: Macht sie ein Pass zur Wahlberechtigten? Macht mich mein deutscher Pass zum Deutschen, wo ich mich doch auch zwei weitere Staatsbürgerschaften berufen kann?

- Ich möchte nochmal den Vorwurf aufgreifen, Integration sei von der Mehrheit gefordert, aber nicht entgegenkommend unterstützt worden. Über Deinen berechtigten Hinweis auf die Arbeit einer gesellschaftsengagierten Minderheit brauchen wir nicht diskutieren; hier sind wir uns mehr als einig. Ich will vielmehr das Denken einer - zugeben: von meiner Seite idealtypisierten - ausschließlich medial gelenkten Mehrheit hinterfragen. Mich interessieren einzelne Worte, die oftmals mehr vermitteln als die vielen guten, ausführlichen Hintergrundberichte im Spätprogramm der Öffentlich-Rechtlichen. Nehmen wir als Beispiel die Bezeichnung "Gastarbeiter". Es wandert ein, arbeitet in Deutschland, weil es an Arbeitskräften mangelt, bleibt aber erklärtermaßen "Gast". Zu Besuch. Sein Aufenthalt ist vorläufig; seine Rückkehr, wird vermutet, ist absehbar. Für seine mehrheitlich gering qualifizierte Tätigkeit [1] werden ihm kaum Deutschkenntnisse abverlangt, und keine Rechte angeboten - Gesellschaftliche Mitsprache? Keinesfalls.

Soweit für mich noch nachvollziehbar. Was aber wird aus seinen Kindern, seiner Familie, wenn sie nachzieht und der Nachwuchs hier sozialisiert wird? Wir können leicht auf die Anderen schimpfen. Meine Fragen richten sich aber zuallererst an "uns", die Deutschen, die demokratischen Europäer: Haben wir alles demokratisch vorstellbare getan? (Wie) Hat das Arbeitsumfeld dazu beigetragen, ihn zu integrieren? Und im Alltag? Wie reagieren die Postbeamten auf den "anderen"? Wie der gemütliche Beamte beim Finanzamt? Wie, also, reagiert der Einzelne auf den Einzelnen?

Teil zwei des postmodernen Wortspiels: Ein "Gastarbeiter" bleibt "Gastarbeiter". Lebt er seit dreißig Jahren in Deutschland, sehen wir ihn als "ehemaligen Gastarbeiter" oder "Migranten der ersten Generation" an. Unabhängig davon, ob er sich hier zu Hause fühlt oder nicht - die Mehrheit verrät mit solchen Bezeichnungen, dass sie ihm kein zu Hause gewähren möchte.

- Ob ich damit erneut das Thema verfehle? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir hören nach wie vor ausschließlich Politiker- und keine "Bürgerschelte" (nerones grandioses Wort): Giordano fordert heute ein mutiges, offenes, ehrliches, islamisierungstoppendes Bürgerengagement, weil er den Volksvertretern Versagen vorwirft. Es geht aber nicht so weit, dieses in der Vergangenheit mangelnde Bürgerengagement zu kritisieren.

Was mich dabei verwundert, ist die Tatsache, dass Du ihm offenbar zustimmst: Der Bürger trägt nur alle vier Jahre Verantwortung, und zwar bis ins Wahllokal - und keinen Schritt weiter.

- Welches Hindernis spielt für Dich der Sozialstaat? Meinst Du etwa, er sei zu großzügig? Darüber können wir diskutieren; mein Gedanke sollte allerdings (einmal mehr) hervorheben, dass es immer wieder der Staat und unsere Vertreter sind, die eingespannt werden, sobald es um die Koordinierung von Integrationsplänen geht. Die Mehrheitsgesellschaft, d.h. die Bürger, fühlen sich weniger, sogar selten angesprochen. Sie wollen persönlich gesellschaftliche Teilhabe, wenn es ihnen passt, weigern sich aber, den Pflichtteil ihrer Rechte wahrzunehmen - der wird delegiert. Meine konsequente Frage: Haben wir auf Bundesebene, auf deutscher Ebene also, nur alle vier Jahre Öffentlichkeit, nur alle vier Jahre einen Tag lang Demokratie? Deine Antwort lautet ja. Meine Reaktion darauf lautet: Dann brauchen wir von Demokratie nicht mehr reden.

- Und wie verteidigt man Demokratie in der Tradition der Aufklärung, wie Du schreibst? Der Westen ist häßlich, nicht aufgeklärt. Schon grundsätzlich gesehen ist man meines Erachtens nach nicht aufgeklärt. Man muss es immer wieder werden. Die Aufklärung ist kein Geisteszustand, mit dem man als Menschenkind des 21. Jahrhunderts geboren wird. Aufklärung ist eine europäische Denkart, eine Rationalität, eine Weltdeutung, der sich das Individuum, und allein das Individuum, annehmen kann. Keine Gesellschaft ist aus sich heraus aufgeklärt. Es gibt einzelne aufgeklärte Denker, aber keine aufgeklärte Gesellschaft. Wie Kant es in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? formuliert:

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Rechtfertigt das unseren Verstandesgebrauch alle vier Jahre? Ausdrücklich will ich daher auch den nachfolgenden, zweiten Absatz zitieren:
"Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Dies alles auf den Punkt gebracht, bedeutet, wie wir von Lennart Mari lernen: "Der Staat ersteht nur einmal, die Freiheit jedoch musst Du jeden Tag erkämpfen."

Deswegen die Pflicht zur Verantwortung des Einzelnen, deswegen der fortwährende Dialog. Natürlich kann ich in der Folge schwer einfordern, dass Du Dich mit jedem muslimischen Busfahrer und jedem muslimischen Gelehrten austauschst. Was ich Dir aber abverlangen dürfte, ist Deine eigene, persönliche, mündige Auseinandersetzung mit dem, was zur Verhandlung aussteht - in diesem Falle also die Frage, ob in Deutschland lebende Menschen muslimischen Hintergrunds integrationsfähig und -willig sind, oder ob ihnen ihre vermeintliche Andersartigkeit lediglich unterstellt wird - von Angesicht zu Angesicht. Du als ein kritischer Mitdenker, der weiß, das vieles von dem, was in den Massenmedien kursiert, auf verkürzten Darstellungen aufbaut, solltest Dich in dieser Debatte selbst von der Tiefe und Richtigkeit der Für- und Gegenargumente überzeugen wollen. Gerade weil Du um die Qualität der Berichterstattung weißt. Gerade weil Du um die deutsche Geschichte weißt. Denn das "letzte Mal" haben die Deutschen ihre Verantwortung ebenfalls delegieren wollen; im Nachhinein will keiner Bescheid gewusst haben über Ausschwitz, Sachsenhausen und die schätzungsweise sechs Millionen Menschen, die - ebenfalls aufgrund Ihrer kulturellen Herkunft und Religion - als nicht integrationsfähig und -willig galten. Aufklärung also als Denken im Andenken an die Vergangenheit. Die Prozesshaftigkeit dieses Denkens unterstreichen Adorno und Horkheimer im Titel ihrer "Dialektik der Aufklärung". Aufgeklärt sein zu wollen, so be-deute ich es, heißt: sich niemals ausruhen zu dürfen auf den Einsichten und Erkenntnissen von Gestern - denn es bleibt die Möglichkeit, dass die Aufklärer von heute Kants potentielle "Seelsorger", sprich: Vormunde von Morgen sind. Für das enge Verwandtschaftsverhältnis on Aufklärung und Demokratie folgere ich daraus: Auch Demokratie ist situativ, nicht ererbt. Sie muss immer wieder, tagtäglich, geboren, erneuert, gefestigt und verteidigt werden. Als Möglichkeit ist sie sicherlich ererbt, das will ich gelten lassen; ein Freiraum zur Demokratie ist uns gegeben. Aber er muss gefüllt sein - mit unseren Stimmen. Mit unserem Dialog. Demokratie ist kein System, sie ist ein Ort: Ein "dritter Ort" zwischen Menschen.