"fordern, fordern, fordern, ohne jeden Sinn für eine Bringschuld." Broder, Giordano und eine Frage der Integration

Lieber Christoph,

meine Antwort auf Deine Kritik hat einige Tage auf sich warten lassen; ich wollte bedächtig, ausführlich und möglichst weitsichtig antworten. Dein Einwand steht außer Frage: Es ist wichtig, unermüdlich immer wieder die Mahnung auszusprechen, dass Islam und Islamismus scharf voneinander zu unterscheiden sind. Genau diese Trennung, glaube ich, droht aber in den öffentlichen Wortmeldungen Broders und Giordanos - vor allem in der "ungehaltenen" Rede Giordanos - zu verwischen.

Damit will ich keine pauschale Aburteilung ankündigen. Einen vielleicht gewagten Schritt will ich zu Anfang allerdings tun, obwohl ich nicht glaube, dass ich mich damit ausliefere: Ich setze Broder und Giordano in ein Boot. Differenzen der beiden in anderen Streitfragen blende ich aus und berufe mich dabei auf Deine eigenen Worte:

"Henryk Broder wird nicht müde, zwischen Islamismus und Islam zu unterscheiden. Zuletzt mit einem sehr lesenswerten Text von Giordano [...]."
Ich gehe davon aus, ich mache zur Voraussetzung, dass Deine Verteidigung Broders nicht ganz so pauschal erfolgt wie meine neuerlichen Kommentare in dieser Diskussion, die hier ihren Ausgang genommen hat. Ferner hat Broder die Veröffentlichung der "ungehaltenen Rede" Giordanos auf seinem eigenen Blog weder kommentiert noch sich ausdrücklich von ihr distanziert. Eher noch darf ich den Hinweis geben, dass Broder Giordanos Rede mit dem Titel "Nicht die Moschee, der Islam ist das Problem!" in ihrer Brisanz verschärft [1]. Vielleicht kannst Du Dich daher mit mir darauf einlassen, die Meinungsübereinstimmung Broders und Giordanos (in dieser Sache) anzunehmen?

Aber zur Kritik - zu Giordanos Rede und Broders vermuteter Übereinstimmung. Ich habe im Kern nichts gegen ihre "konservative", d.h. "bewahrende", globalisierungsskeptische oder traditionsorientierte Haltung vorzubringen; sie gehört zur gesellschaftlichen Dialektik im Streit um die Zukunft, die eine Gesellschaft einschlägt. Im zentralen Streitpunkt stimme ich ihm im Kern - unter Zurücknahme der Vehemenz, mit der er seine Befürchtungen unterstreicht - zu. Giordano macht deutlich:
"Wir sind hier angetreten, um auf ein schwer wiegendes Problem der deutschen Innen- und Außenpolitik hinzuweisen, das seit Jahrzehnten regierungsübergreifend von den Politikern unter der Decke gehalten, geleugnet, verdrängt oder geschönt worden ist: auf das instabile Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit, vorwiegend türkischen Ursprungs."
Ob dieses Problem tatsächlich an den "Grundfesten unserer demokratischen Gesellschaft" zehrt, möchte ich bezweifeln, aber weiter beklagt er mit - von meiner Seite wiederum eingeschränktem - Recht:
Vor uns liegt der Scherbenhaufen einer Immigrationspolitik, die sich zäh geweigert hat, Deutschland zu einem Einwanderungsland zu erklären und es mit den entsprechenden Gesetzen und Regularien auszustatten. Über Jahrzehnte hin gab es deutscherseits nichts als Hilflosigkeit, Konfliktscheue und falsche Toleranz, das ganze Arsenal gutmenschlicher „Umarmer“: verinnerlichte Defensive christlicherseits bei den sogenannten „interreligiösen Dialogen“; verheerende Nachsicht der Justiz bei Straftaten, bis in den Versuch, Teile der Scharia in die deutsche Rechtsprechung einzuspeisen; überängstliches Vorgehen und wehrloses Wegschauen von Polizei und Verfassungsschutz auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik; beängstigende Reserve gegenüber islamischen Organisationen, die den Terror unterstützen, wie auch gegenüber Plänen für eine schleichende Umwandlung westlicher Staaten in eine islamische Staatsform.
Das Kreuzfeuer der Kritik ausschließlich auf Politik und Staat zu lenken, verfehlt allerdings die Richtung, die diese Kritik nehmen könnte - und meiner Ansicht nach auch nehmen sollte. Denn Demokratie ist auf lange Frist dialektisch: Es sind unsere Delegierten, Vertreter des Volkes, die im Bundestag Politik machen. Wie Herr Lambing über die herkömmliche Idee des öffentlichen Raums formuliert: Die
"räsonierende Öffentlichkeit betrachtet sich selbst nicht als ausführendes oder beschließendes Organ. Sie ist Kontrolle der Macht, nicht selbst Macht. Sie schränkt die politische Macht, alos [sic] ihre Eliten und Entscheidungsträger durch ihr laut hörbares, mit großer Autorität gesprochenes Urteil ein, ohne sich selbst als Teil der politischen Sphäre zu verstehen."
Warum also, muss sich die Frage anschließen, sind es allein die Politiker, denen Giordano (und so gern auch Broder) die Generationsabschlussrechung vorlegt? Warum ist das Veto, das Urteil der mündigen Bürgerschaft verstummt?

Meine starke Vermutung: ein Veto wurde niemals, noch nie, formuliert. Unsere Gesellschaft ist mehrheitlich politisch enttäuscht, uninteressiert, resigniert. 85% der Bürger, so eine Hochrechnung von TNS Emnid im Auftrag der Zeit (Die ZEIT Nr. 37, S. 4), sind der Überzeugung, dass Bundestagsabgeordnete "nicht so genau oder gar nicht" mit "Leben, Alltag und Sorgen ihrer Wähler" vertraut sind. Die Gegenfrage fällt noch deutlicher aus: 95% der Befragten wissen "eigentlich nicht" oder "nicht so genau", wie sich der Alltag des eigenen Bundestagsabgeordneten gestaltet (ebd., S. 5). Und ein Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre wird sicherlich nichts anderes wiederspiegeln.

Entfremdete Welten. Wie kann Giordano auf Parallelwelten von Deutschen und Ausländern schimpfen, wenn sich doch die Bevölkerungsmehrheit insgesamt politisch verloren fühlt? Kein Wunder also, dass es an gesellschaftlich-demokratischer Eigeninitiative mangelt - wo sich doch so leicht der Staat als Exekutive verstehen lässt. Mitnichten: Die Gesellschaft in ihrem Ganzen ist (auch) Exekutive: Sie ist es, die lebt, die Teilhabe gewährt und gewähren muss. Sie trägt Verantwortung. Demokratie, ich betone es nochmals, bedeutet Dynamik - und das nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft, Bürgerschaft oder Volk. Sie bedeutet Dialog. Fortwährenden Dialog. Mit den Bürgern, den Menschen, den Anderen um uns herum.

Ein integrierender Dialog wurde auf politischer Ebene nie geführt, das prangern Giordano et. al. zurecht an. Allerdings blenden sie offenbar nur zu gerne aus, dass er auf gesellschaftlicher Ebene vielen, gar dem Großteil, von vorherein verwehrt geblieben ist. Zuständig waren und sind, so meine pauschalierter Eindruck, der Sozialstaat. Nicht aber die Sozialgesellschaft. Eine persönliche Fußnote dazu: Meine Mutter lebt seit beinahe dreißig Jahren in Deutschland. Sie arbeitet, zahlt ihre Steuern, spricht fließend Deutsch; sie ist gemeinhin eine Person, die man als "integriert" betrachten würde. Dennoch bleibt ihr ihre Stimme verwehrt: Sie hat keine Mitsprache an bundespolitischen Entscheidungen und "genießt" allein kommunalpolitisches Wahlrecht. Ist es vor diesem Hintergrund nicht verständlich, dass sich Menschen zurückziehen? Daher beunruhigt mich seit jeher jener nur schmale Grat, der traditionellen Bewahrungswillen von gesellschaftlicher Stagnation trennen soll. Sein Übertreten passiert leider allzu leicht:
"Was dann nahezu unkontrolliert und in philanthropischer Furcht vor dem Stempel „Ausländerfeindlichkeit“ nachströmte, waren Millionen von Menschen aus einer gänzlich anderen Kultur, die in nichts den völlig berechtigten Eigennutzinteressen des Aufnahmelandes entsprachen, ohne jede Qualifikation waren und nur bedingt integrationsfähig und -willig. Und dazu gewaltige Belastungen der Sozialkassen."


Indem Giordano mit seinen Überspitzungen der Zivilgesellschaft jegliche Verantwortung in der Debatte abspricht, stellt er ihre Pflichten, ihre Versäumnisse, ja: sogar ihre Existenz in grundsätzliche Frage. Stattdessen wird, wie so oft, die Verantwortung delegiert, ganz so als ob man seine bürgerliche Verantwortung in dem Moment abtritt, in dem der eigene Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag einzieht: Die Vertreter der Verbände, die Politiker tragen die Schuld am Versagen deutscher Integrationspolitik.

Wir müssen Demokratie leider (immer) noch lernen. Wir hätten ihre Prinzipien schon seit 1949 verinnerlichen sollen, haben sie aber in der Aufschwungszeit des Wirtschaftswunders vernachlässigt - und mit ihr Giordanos "nachströmenden Millionen", die diesen Auschwung mitgetragen haben. Mit dem Fehlen dieses Rückblicks, dem Mangel an Selbstkritik, führen Giordano und oftgenug auch Broder ihr eigenes Versagen als Bürger, und viel gewichtiger noch: als Intellektuelle und öffentliche Meinungsführer, vor. Das strahlt zurück: "[...] Angst [...] machen mir Politiker, die ihre Denkmuster von Toleranz und Antirassismus heute nicht einer Neudefinition unterziehen. Nur wenige ihrer Vertreter sind in der Lage, die intellektuellen Wertmesser ihrer Jugend in Frage zu stellen", zitiert Giordano aus dem Brief einer Frau, der ihn erreicht hat. Diesen Vorwurf muss ich, befürchte ich, auf Giordano und Broder ausweiten: Die Integration einer als gänzlich anders empfundenen Minderheit für "gescheitert" zu erklären, ohne zu erkennen, dass die Mehrheit der Gesellschaft, der man selbst entstammt, einen integrierenden, willkommenheißenden Dialog niemals angeboten hat, bleibt für mich der entscheidende Kritikpunkt. Es ist ihre Schwäche, die fehlende Dialektik zwischen Politik und Öffentlichkeit, die spürbar sein sollte, und es de facto allerdings eher selten ist, diese Schwäche also, die ich mir von Broder, Giordano und Anhängerschaft angesprochen sehen wünsche.

Bisher halten sie beide an einem kulturellen Determinismus fest, aus dessen Perspektive "wir" Deutschen den Anderen immer bloß als Anderen wahrnehmen können und wollen. Integration, ein Miteinander, bleibt ausgeschlossen, denn der Andere ist zu anders, um unsere Lebenswelten mit uns zu teilen: sie enstammen eben "einer gänzlich anderen Kultur" und sind "nur bedingt integrationsfähig und -willig."

Zum Abschluss: Ich verstehe diese Perspektive, will aber gestehen, dass sie mir lächerlich erscheint. Sobald unsere scheinheilige "demokratische Kultur" als Demarkationslinie instrumentalisiert und missbraucht wird für die Einordnung, wer deutschland- oder europatauglich ist und wer nicht, gilt es aus meiner Sicht stets den Blick auf diejenigen zu richten, die diese Richt(er)schnur aufzuspannen sich erlauben. Wie ich schon im Vorfeld Salman Rushdie zitiert habe: "Beware the writer who sets himself or herself up as the voice of a nation."

Es ist und bleibt ein feiner Unterschied, ob man mehr Öffnung von den in Deutschland lebenden Muslimen einfordert, oder wie Herr Giordano den Schlussstrich zieht: "Die Integration ist gescheitert." Die eine Position lässt die Möglichkeit für ein Nachholen des verpassten Dialogs zu, während ich die andere als radikalisierende, reaktionäre Antwort auf die Verzweiflung vor dem bisherigen Misslingen einer geforderten, aber nicht unterstützten Integration lese. Diese feinen Unterschiede aber vermisse ich bei Giordano und Broder schmerzlichst. "Der Islam ist das Problem", schreit Giordano, nicht der Islamismus. Überhaupt sollten, sogar: müssen wir die "muslimische[...] Drohung" thematisieren: denn "statt auf Integration [arbeiten viele Verbände und Parteien] auf kulturelle Identitätsbewahrung der Immigranten und ihrer Nachkommen hin[...]". Die Trennung zwischen Religion und politisiertem Fundamentalismus fällt ihm vermutlich deshalb so schwer, weil die erste den letzteren hervorbringt, der Fundamentalismus also schon im Islam angelegt ist: unter Umständen kann "er bald schon identifiziert werden mit einer Bewegung, die das Zeug zum Totalitarismus des 21. Jahrhunderts in sich trägt."

Wie bereits angemahnt: Wenn Herr Broder und Herr Giordano schon die Rückständigkeit des Islam (oder islamischer Gesellschaften), seine (oder ihre) Verspätung und seine (oder ihre) fehlende Aufklärung in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellen, so verzerren sie deutlich das Ziel der "kritischen Methode", die sie für sich in Anspruch zu nehmen glauben: Neben Kritik sollte auch stets Selbstkritik geübt werden. Unsere - die deutschen - Verfehlungen bleiben für beide aber nicht der Erwähnung wert.

Und um kurz die globale Dimension "westlicher" Verfehlungen anzureißen: Die Merkmale von unserer Seite sind anhand gegebener historischer Vergleichsmöglichkeiten alarmierend genug: Fordert die Globalisierung, fordert die Verteidigung unserer Interessen am Hindukusch etwa keinen "Einfluss", kein Zusammenspiel aus "soft" und "hard power"? Wen verwundert die von Giordano zitierte Forderung daher ernstlich: "Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens und ihre Ersetzung durch islamische Herrschaft"? [2] Aber das soll ein anderes Kapitel werden.

Was zum Abschluss auszusprechen bleibt? Eine Reihe von Forderungen, die "ohne Sinn für eine Bringschuld" - eine Haltung, die Giordano der (so verstehe ich ihn) muslimischen Mehrheit zum Vorwurf macht - genauso realitätsfern sind wie der von ihm geforderte Islamisierungsstopp: Während wir uns in dieser Debatte auf "unsere" "europäische" Kulturgeschichte berufen, ist es endlich an der Zeit, unsere Lehrer zu achten. [3] Etwas mehr Historismus, etwas mehr Selbstkritik, etwas mehr Empathie, weniger Selbstgerechtigkeit, etwas mehr Pragmatismus. Wir müssen miteinander reden lernen. Sprechen können doch wir bereits. Schimpfende Giordanos und Broders können und müssen sogar dazu beitragen - ohne ihre Arroganz, ihre Geschichtsvergessenheit.


[1] Das Titelzitat ist einem offenen Brief Giordanos an die Ditib vom 15./16. August 2007 entnommen.
[2] Giordano schreibt: "Die Merkmale anhand gegebener historischer Vergleichmöglichkeiten sind alarmierend genug, bis hinein in das erklärte Ziel des politischen Islam: „Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens und ihre Ersetzung durch islamische Herrschaft.“"
[3] "Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer achtet." (Karl Jaspers)

Anonym hat gesagt… said:

21. September 2007 um 01:29  

Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

Anonym hat gesagt… said:

21. September 2007 um 01:32  

Lieber Willyam,

vielen Dank für deine lange Antwort! Ich habe meine Replik ebenfalls als Blogbeitrag verfasst (statt eines langen Kommentars an dieser Stelle):

Freiheit, die Richtschnur

Liebe Grüße, C.