Im Leben eines "Anderen"

Ich erinnere mich dunkel daran, dass die BILD-Zeitung von einem guten halben Jahr mit der Behauptung eines Armutsforschers aufmachte, mehr als 153 Euro im Monat bräuchte man als ALGII-Empfänger nicht. Im Netz ist die Schlagzeile nirgends archiviert, vor Augen habe ich lediglich noch eine strenge Aufschlüsselung des Betrags, die ich schlicht und ergreifend abstoßend fand. Sieben Euro, meine ich, waren als Ausgaben für „Kultur“ anberaumt.

Runden wir also auf 200 Euro auf. Selbst 200 Euro sind eine Geißelung. 200 Euro für Ernährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Ge- und Verbrauchsgüter des Haushalts sowie Haushaltsenergie. 200 Euro, wenn nicht (wie in Nordrhein-Westfalen) sogar weniger, die dank der Berufung auf minutiöse Statistiken wie folgt berechnet und im Idealfall zu verbrauchen sind:
Ernährung – 138,05 €; Kleidung – 20,45 €; Gesundheits- und Körperpflege – 5,11 €; Ge- und Verbrauchsgüter des Haushalts – 7,67 €; Haushaltsenergie – 20,45 €. 200 Euro – das ist die Summe des Berliner Regelsatzes für Unterhaltsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Im Rahmen eines Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsgenehmigungen haben eine Gültigkeitsdauer von sechs Monaten; sollten die Behörden in diesem Zeitraum ihrer Entscheidungsfindung nicht nachkommen können, folgt die Erteilung einer Verlängerung um weitere sechs Monate. Sechs Monate, die X. mit etwas mehr als sechs Euro sechsundsechzig pro Tag bestreitet.

Selbst mit dem großzügigen BILD-Kulturhaushalt von sieben Euro: Kein Zeitungsabo, kein Kino, kein Sport, keine Museen. Keine Freizeit, weil keine Arbeitszeit. Nur Zeit, verbunden mit Sprachhürden und Diskriminierungen in Arztpraxen. Mobilität beschränkt auf den Luxus eines Handys oder einer BVG-Monatskarte. Letztere darf er noch nicht einmal voll nutzen, da die Behörden in Fällen wie seinen die Bewegungsfreiheit grundsätzlich auf das Stadtgebiet einschränken. Ich darf ihm noch nicht einmal Schloss Sanssouci zeigen.

Eine Wohnung von ausreichender Größe, ja, ungefähr 50 Quadratmeter, sie aber ein Raum ohne Platz für seine Person. Die Ausstattung ist kein Mobiliar, sondern Inventar. Mit verkratzten Strichcodes versehen, die nach unzähligen Transporten kaum mehr lesbar sind. In wie vielen Küchen der Kühlschrank wohl schon gestanden hat?
„Kann Kleidung nicht geleistet werden, so kann sie in Form von Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen gewährt werden.“ Ich dachte immer: von dem Zeitalter haben wir uns doch längst verabschiedet. Nee, haben wir nicht. Um sicherzugehen, dass ihm seine Kleidung, „die nicht geleistet werden kann“, auch „gewährt“ wird, möchte er mit einem kleinen Anschreiben nachhelfen, das ich in seinem Namen verfassen soll:

Sehr geehrte Frau ****,
für den hereinbrechenden Winter benötige ein paar warme Schuhe und eine dicke Jacke.
Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank im Voraus für Ihre Hilfe,
****

Willkommen im Leben eines "Anderen".


[Nachtrag am 21. Oktober: Die von mir erinnerte Forderung von 153 Euro als ALGII-Regelsatz ist inzwischen unterboten worden, wie ich dank Claudia erfahren darf. Sie verweist auf eine Studie, der zufolge 132 Euro für die "Grundbedarfsdeckung" ausreichen. "Wir können durchaus sagen, dass manchmal weniger mehr ist" (Friedrich Merz auf der Klausurtagung der FDP, September 2008).]

Unknown hat gesagt… said:

21. Oktober 2008 um 17:34  

Es ist doch toll, wie Sozial unser Staat ist. Und wie einfach und transparent.
Wir alle sind gleich. Brüderlichkeit und Freiheit ole`.

Ja, es ist so eine Sache mit der Rechnerei. 153 € im Monat langen sicher. - Wenn man eine Maschiene ist, und obendrein gut rechnen kann.
Menschen die aber kein Geld haben, sind nun mal keine Maschienen.

Und was vergessen diese meister rechner wie Sarrazin in der BZ, oder der genannte Herr in der Bild?
Menschen haben eine Psyche, und verhalten sich nicht rational. (meistens meine ich).
Es gibt da ein Phänomen, dass ich jeden Monat bei einer von mir betreuten arbeitslosen (347€ im Monat zum überleben) beobachte:
Spätestens am 15. hat sie kein Geld mehr. Nun muss sie sich durch schnorren, in der Mülltonne von Supermärkten wühlen, wenn es ganz brutal kommt, sexuelle Dienstleistungen an bekannte verkaufen.
Sie könnet mit dem Geld auskommen (nach Abzug derlaufenden Kosten bleieb c.a. 200€ über) es ist aber so, dass wenn man lange zeit kein Geld hat, und sich nichts leisten kann, ein nachvollziehbares Phänomen eintritt, wenn man wieder Geld bekommt ( am 1. d.m. in ihrem Fall). Das Phänomen ist ein Kaufrausch. Heil froh wieder endlich Geld in den Händen zu haben, und sich endlich wieder etwas leisten zu können, wird an Krimskrams gekauft was der Geldbeutel her gibt. Die Folge ist, das sie dann wieder Pleite ist, und sich scheiße fühlt. Denn kein Geld zu haben ist ein wirklich mieses Gefühl der Abrhängikeit und Ohnmacht.
Hinzu kommt, dass Viele Menschen die Sozialleistungen bekommen auch nicht mehr wirklich wirtschaften können. Warum bekommen sie denn Sozialgeld? Weil sie so kompetent sind?

Aber ich weiche vom Thema. Und möchte es auch nicht so sehr in diel länge hier ziehen.
Pervers ist was viele Armen in diesem Land erdulden müssen.
Viele dieser Armen, sind obendrein krank. Psychisch, körperlich. Sie kommen mit Anträgen und einfachsten Briefen nicht mehr zurecht. Es ist Himmelschreind, was da so täglich in unserer Sozialen Gesellschaft geschieht. Der Asylbewerber reiht sich da ähnlich ein. wenig Sprachkenntnise, villeicht traumatische Erfahrungen, und dann : Das ständige nagende warten, und hoffen auf die Güte des zuständigen Beamten. Zusätzlich viel zu wenig geld um sich hier einzufühlen, oder nicht in die Kriminalität getrieben zu werden.

Zu dem Brief:
Meiner erfahrung nach, ist es wichtig nicht nur zu schreiben was man braucht, sondern dem beamten so kurz und eindringlich wie möglich zu veranschauclichen, dass die warmen Schuhe, die Jacke dirngend aus diesem oder jenem konkreten Grund benötigt werden. (z.B. Die Heizung geht nicht etc.)
Der Sachbearbeiter ist nur dann unerbittlich, wenn er eine Zahl oder bloßen Namen vor sich hat.
Kann er den Namen mit einer geschichte verknüpfen sieht das ganze schon besser aus.