Das Radikal und die Angst

Versuchsweises Herantasten an das, was die Diskussion über gute Lehre angekratzt hat. Samuel fragte nämlich nach dieser Grenzziehung: „Ab wann bin ich ein kritischer Mensch, ab wann ein Spinner?“

Meine Vermutung darauf war diese: „Je informierter man ist, desto "radikaler", d.h. die Wurzeln des Bestehenden hinterfragend, vielleicht sogar unterwandernd, wird man wahrgenommen. Vermutlich müsste man die "Grenze" zwischen machbarer oder wünschenswerter Alternative und umstürzlerischer Radikalität zu verorten versuchen. Dort erkennt man unter Umständen, dass Gesellschaften schon lange ein Bewusstsein für ihre "Globalisiertheit" haben: Radikalität führt eine Veränderungskomponente ein, die jeden betrifft und ihn aus Gewohnheiten reißt, ohne ihm bei der Gestaltung eine Wahl zu lassen ...“

Mir scheinen inzwischen vier Figuren nötig, um die Konstellation besser ausleuchten zu können: Den Experten, den Radikalen, den Spinner ...

- der Experte kritisiert innerhalb der Horizonte des Bestehenden bzw. Möglichen;
- den Spinner hält man für ungefährlich;
- dem Radikalen aber schreibt man etwas zu, was er mit dem Experten teilt: Charisma und Autorität. Allerdings zeigt sich der Radikale durch seine Kritik als Idealist – und durch seinen Veränderungswillen als Tatmensch, der genau damit droht: Menschen aus ihren Gewohnheiten zu reißen, ohne ihnen bei der Umgestaltung eine Wahl zu lassen. Der Radikale ist also totalitär. Oder doch nur autoritär?

Vielleicht hilft mir der Idealist weiter? Der erklärt mir, unsere Angst sei nicht die, dass alles radikal, d.h. grundsätzlich, anders sein könnte. Wir haben keine Angst vor der Umstellung auf morgen, sondern vor dem Bruch mit dem heute.

Anonym hat gesagt… said:

9. Oktober 2008 um 15:24  

Interessante Thematik.

Ich glaube festzustellen: Sobald man selber glaubt, ein "Experte" zu werden (und/oder es schon ist), so wird man sozial einsamer. Man kann das sehr schön an und in Diskussionen im Internet sehen. Der Nachteil dieser Diskussionen, die rein auf das Schriftliche rekurrieren müssen, dürften bekannt sein. Es gibt keine Mimik, Ironie ist schwer darzustellen. Es gibt auch Vorteile: Man kann "ausreden"; es gibt keine Unterbrechungen (ein Nicht-Weiterlesen eines Postings wäre im übertragenen Sinne eine "Unterbrechung") - und man muss (sollte) besser nachdenken, bevor man argumentiert.

Zurück zum Thema: Wenn ich nun in einer Thematik eine Art "Experte" bin (was ich nicht wissenschaftlich meine bzw. nicht ausschliesslich hierauf festmachen möchte), so versanden Diskussionen meist sehr schnell, weil (1.) die Mehrheit der Mitdiskutanten nicht fähig sind zu folgen oder (2.) einfach den "Experten", der meistens Exot ist, ignorieren - und "ihre" Diskussion weiterführen.

Dies radikalisiert den Experten in seinem Expertentum: Er ist unwillig, sein Expertentum weiterzugeben. Vielleicht besitzt er auch nicht die Radikalität, um Charisma zu erzeugen, welches sein Expertentum einer breiten Öffentlichkeit zugängig macht. Dies würde dann nachher bedeuten, dass man ihn zwar schätzt – aber das hat mit dem "Verstehen" dessen, was der Experte weiss, nichts zu tun.

Ich meide Experten, die ihr Expertentum ein Stück weit (oder ganz) mit Charisma anreichern. Ich bin ihnen gegenüber skeptischer als gegenüber den "trockenen" Experten. Weil ich vom Experten aber (siehe oben) nur einen Teil verstehe, steigert sich die Skepsis gegenüber dem Charisma des radikalen Experten noch: Warum verwendet er "radikale" Formeln? Warum trivialisiert er eventuell sein Expertentum?

In diesem Sinne ist der Radikale ein Demagoge – und natürlich im Kern totalitär (und nicht nur autoritär). Er sieht sich durch sein Expertentum erhoben. Seine Autorität basiert hierauf. Er glaubt, dass diese Autorität es rechtfertigt, auch totalitär zu sein. Der Radikale ist der "gutmeinende Diktator". Der radikale Experte der "gutmeindende Terrorist".

(Das ist zugegebenermassen holzschnittartig. Aber zunächst einmal so weit. Eine kleine Anmerkung, die mir vielleicht nicht zusteht: Ich finde graue Schrift auf schwarzem Untergrund – das tut weh. Mir und meinen Augen. Es gibt Möglichkeiten, dies zu bannen; einverstanden. Ich habe auch bisher bei weitem nicht soviel auf diesem Blog gelesen, wie es der Qualität nach sein müsste. Mich wird das nicht abhalten. Aber vielleicht andere.)

Willyam hat gesagt… said:

11. Oktober 2008 um 00:36  

Gregor - danke für Deine reichen Ergänzungen! Die Dimension "Wissensvermittlung" hatte ich nur unterschwellig mitgedacht. Zwei Varianten schweben mir durch den Kopf:

1) Pauschal betrachtet würde ich jeden, der sein Wissen nicht transparent kommuniziert, als Exoten, und damit: als Spinner rechnen.

Den charismatischen Radikalen hatte ich anders vor Augen: Sein Charisma rührt daher, dass er den status quo nicht ausschließlich zerstört, sondern durch lebendige, nachvollziehbare, ersehnte Visionen oder Utopien ersetzt sehen möchte - er ist idealistischer Tatmensch. Und genau daher ist seine Einordnung zwiespältig, wird ein Experte mit Charisma doch schnell als Demagoge diffamiert: Der Radikale hat Charisma, weil er sich verständlich macht, eben "populistisch" oder "demophil" ist; weil er dank seines Expertentums Zustände durchschaut, die Komplexität der Welt aber doch auf greifbare Verständniszusammenhänge herunterbricht. Er mobilisiert. (Argumentiert er zu flach, gilt er als dämlich; argumentiert er zu verkopft, verliert er an Aufmerksamkeit).

2) Das fehlende Verständnis für einen Experte und sein Wissen erschrickt uns nur und erst, wenn der unverstandene Experte aus dem Machtinnenraum heraus spricht: Denn das Unverständnis verhindert jegliche Kommunikation zwischen Herrschendem und Beherrschten, zwischen Führungsfigur und Gefolgschaft - und das macht erstens Angst und zweitens die Führungsfigur zum Radikalen: weil er der Masse (eben durch fehlende Kommunikation) bei der Umgestaltung keine Wahl lässt.


Mir ist nur noch nicht ganz schlüssig, ob sich die Varianten ergänzen oder widersprechen ... und ob wir uns eigentlich gerade in Richtung einer Machtheorie bewegen? Spannend jedenfalls ... :-)

[Danke für Kompliment und Kritik. Letzteres kann ich mehr als nachvollziehen. Mir gefiel die Vorlage; inzwischen habe ich leider feststellen dürfen, dass ich ihr Erscheinungsbild nicht wirklich (eigentlich so gut wie gar nicht) beeinflussen kann ... die Suche nach augen- und personenschonenderen Alternativen läuft also weiter.]