"Wissen" und "Glauben"

Neulich kam bei mspro die Frage auf: Wann glaube ich, wann weiß ich? Die stumpfe postmoderne Antwort auf die Unterscheidung von Glauben und Wissen ist, breit argumentiert, das Beharren auf die Auflösung des Begriffspaares: Alles ist Wissen, und alles Wissen kann nur Glaube sein; große, übergreifende Bestandsaufnahmen und Bekenntnisse sind schließlich verbannt worden.

mspro hat das natürlich etwas differenzierter gefasst. „Glauben basiert in meiner Welt auf Vertrauen, das in der Tat zunächst einmal blind ist. Und damit sind wir wieder mitten in der Finanzkrise. Denn Kredit (lat. credere) bedeutet Vertrauen. Die Welt, egal welche, funktioniert nicht ohne Vertrauen. (und wenn man einen tieferen Grund angeben sollte, warum das Finanzsystem uns gerade um die Ohren fliegt, naja, könnt ihr euch selber denken.) Was andere Wissen nennen, ist aber ebenso verschuldet. Das Messgerät ebenso, wie die Statistik oder der Experte. Es gibt keine unverschuldeten "Tatsachen". Ein Dr. Titel, eine Eichung oder eine "Repräsentativtät" sind nichts weiter als Bonitätsausweise. Warum also nicht ehrlich sein, und zugeben, diesen Dingen lediglich "Glauben zu schenken", mit anderen Worten Kredit einzuräumen?“

hose wollte dagegen „fragen, was wir denn als Wissen oder Glauben verstehen wollen, das über konkrete Kontexte hinaus ein bestimmte Form von Gültigkeit beanspruchen kann. Das ist natürlich eine normative Frage. Wir geben uns Regeln, was wir als Wissen oder Glauben bezeichnen wollen. Für oder gegen solche Regeln lässt sich argumentieren, um über die eigene "Geworfenheit" hinweg zu kommen.“ Man müsste „semantisch zwischen Erwartungshaltungen unterscheiden […], die entweder nur auf (blindem) Vertrauen basieren - GLAUBEN - oder aber durch irgendeine Form der Rationalität (zweck- oder wertrational) begründet und als Wirklichkeitsbeschreibungen verstanden werden - WISSEN.“

Ich will das „müssen“ abschwächen: Sicherlich kann man. Schade bloß, dass hose zu ihrer/seiner Frage nach „interessanten Begründungen“ außer belanglosen Torpedierungen selbst nichts beizutragen hat. Da helfen mir die Gebrüder Grimm schon weiter.

Glauben“ möchte ich hier nicht im „absolute[n] gebrauch [als] die religiöse handlung und haltung des 'gläubig seins' an sich ausdrückend“ verstanden wissen. Sinnvoller erscheint es mir, darunter eine Haltung zu fassen, die „dem subjektiven urteil“ enspringt, „ohne […] in besonderem masze auf das zeugnis und die vertrauenswürdigkeit einer zweiten person (oder die eigenschaft einer sache) gestützt […] sein“ zu müssen.

Wissen“ dagegen gilt uns, verkürzt formuliert, gemeinhin als „Kenntnis“ oder „Kunde“ von einer und über eine Sache. Wenn „glauben“ unbestätigte, unreflektierte Intuition ist, verstehen wir „wissen“ als methodisierte, „wissenschaftliche“ Welterfassung: als Formulierung von Abstraktionen und Näherungen in den Wirklichkeitswissenschaften; als Formulierung von Ableitungen, Prognosen, Typiken und Essenzen in den Gesetzeswissenschaften*. „Wissen“ gilt, darf ich unter Umständen verallgemeinern, als Erwartungshaltung, dessen Wissenschaftlichkeit oder Objektivierbarkeit sich als „quellengestütztes Hineinlesen einer in der Gegenwart formulierten Aussage in vergangene oder zukünftige Gegenwarten“, als Feststellung deckungsgleicher Wahrnehmungen begreifen lässt.

Wird „Glaube“ zu „Wissen“, wenn er methodische, authorisierte Bestätigung findet? Vermutlich ja. Umso genauer prüfe man daher die Gegenfrage: Wenn „Wissen“ in Reinform eines Gesetzes so komplex, so alltagsabstrahiert, sprich: so „wissenschaftlich“ ist, dass es mir in seiner Formelhaftigkeit oder theoretisierten Form unbegreiflich bleibt – bleibt es dann für mich nicht „Glaube“? Nehme ich dieses „Wissen“, so ich es denn nicht schon vorab grundsätzlich verwerfe, dann nicht zwangsläufig „vertrauensvoll als wahr an[…]“? Zwar liegt mir das „zeugnis […] einer zweiten person (oder die eigenschaft einer sache)“ vor, aber es ist zeugnis, das ich nicht lesen kann. Ich finde mich, will ich diesem Wissen Glauben schenken, folglich auf die „vertrauenswürdigkeit“ der Personzurückgeworfen – darauf, dass sie mir gegenüber ehrlich ist und ihren vorgetragenen Sachverhalt nicht wissentlich verzerrt. Vor diesem Hintergrund erschließt sich wohl der juristische Gebrauch von „glauben“, mit dem man seine eigene Aussage als „für wahr, richtig halten und erklären“ kann.

„Wissen“ kann ich demnach nur jenes, von dem ich mir selbst Begriffe geformt habe, dessen Begriff ich mit Bedeutung füllen kann. Wissen wäre demnach „Erfahrungswissen“, das aus selbst erfolgter Überzeugung, auf subjektiver Basis versichert, akkreditiert ist.

Keine Auflösung von „Glauben“ und „Wissen“ also, sondern Lokalisierung im kurzsichtigen intersubjektiven Raum. „Glauben“ als ein Erlauben und Einräumen „wahrscheinlich[er], möglich[er], denkbar[er]“ Alternativen.

Exportware Recht, "made in Germany"

Würde ich nicht gerade die F.A.Z. für zwei Wochen probeabonnieren, wäre unsere Justizministerin Brigitte Zypries für mich nach wie vor ein mehr oder weniger unbeschriebenes Blatt geblieben. Ich gebe sogar zu, dass ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob ich sie als Kabinettsmitglied unserer amtierenden Regierung identifiziert hätte. Seit gestern aber kann ich nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Meinung mit ihrem Namen verbinden: Sie möge doch bitte augenblicklich zurücktreten. Oder ins Bundeswirtschaftsministerium wechseln. Denn was die F.A.Z. auf Seite 10 ihrer gestrigen Ausgabe aus der Feder von Frau Zypries veröffentlicht hat, bleibt mir unbegreiflich.

Von solchen Vorstößen hat man gelegentlich schon gehört, und dass Frau Zypries sie unterstützt, provoziert keinen grundlegenden Unmut. Ihre vier Spalten über das deutsche „Rechtssystem mit Qualitätssiegel“ aber sind von solch diskreter Beratung allerdings weit entrückt. Im „Wettbewerb um das beste Recht“ dürfe Deutschland nicht zurückstehen, mahnt sie und fordert für die Zukunft einen gesteigerten Einsatz für die „Verbreitung unserer Rechtsordnung“. Denn „unsere Gesetzbücher tarieren unterschiedliche Interessen fair aus und sorgen für eine angemessene Verteilung der Risiken.“ Mit Bedauern weist sie daher darauf hin, wie sehr wir es in der Vergangenheit versäumt hätten, unseren „Einsatz“ zu diversifizieren: „unsere internationale Beratung [wurde] bisher zu einseitig von der Nachfrage der Partnerländer bestimmt“. „[S]trategische Koordination“ sei also unabdingbar, um sich an diesem Wettbewerb umfassender zu beteiligen. Motivationsgründe dafür gibt es ihrer Ansicht nach genug: Unsere Rechtsordnung „erleichtert“ die „internationalen Aktivitäten deutscher Unternehmen, sie bietet deutschen Anwaltskanzleien neue Aussichten und Felder und erhöht die Bereitschaft ausländischer Unternehmen, in einem Land mit vertrauter Rechtsordnung zu investieren.“

Das Rechtssystem als geschäftssichernder Exportartikel also, und sein Nutzen nochmals von Frau Zypries anhand eines Beispiels erklärt: „Wenn […] in China Wohneigentum an Bedeutung gewinnt, ist dies nicht nur eine Chance für die Verbreitung des deutschen Grundbuchrechts, sondern auch für deutsche Sparkassen.“ Muss ich „deutsch“ eigentlich noch kursiv setzen? 14, in Worten: vierzehn Mal zähle ich die Vokabel.

Übertreibe ich, wenn ich damit die Rede vom Demokratieexport auf das „Recht“ ausweite – den feinen Unterschied natürlich einbedacht, dass die Rede von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit vollends überflüssig geworden zu sein scheint? Nochmals im Klartext: Die deutsche Justizministerin Zypries bewirbt ein Rechtssystem als Exportartikel. „Standortvorteil Recht“, hat sie das an früherer Stelle benannt. Und gemäß ökonomischer Logik geht es nicht um nichts anderes als Vorteile - um Globalisierung. Ihre Zügelung hätte ich von Frau Zypries zumindest im Ansatz erwartet. Von Demokratie aber lese ich bei ihr nicht ein einziges Wort.

Unkenntnis = Ohnmacht

Jacke und Schuhe sind übrigens nicht genehmigt worden. Mit der schikanierenden Begründung, am 18. November werde doch über seinen weiteren Aufenthalt entschieden. Soll er also doch den einen Monat frieren, denkt sich die Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber, und dann seinen „Bedarf“, so die im Gesetz verwendete Formulierung, erneut vortragen. In der Tat ist für den 18. November ein Termin bei der Ausländerbehörde anberaumt – an dem aber „lediglich“ die Verlängerung der Aufenthaltsgestattung abgewickelt wird: eine reine Formalie, die bis zur endgültigen Rechtsbeurteilung seines Asylantrags selbstverständlich ist. Das schlussendliche Urteil wiederum lässt in der Regel drei bis vier Jahre auf sich warten, während er erst vor einem Jahr nach Deutschland eingereist ist. Ergo: Es gab keine, wirklich keine auch nur annähernd sachlich gerechtfertigte Grundlage, auf die sich die Bearbeiterin in ihrer Entscheidung gestützt hat. Aber woher soll das jemand wissen, der weder Beamten- noch Juristendeutsch spricht und folglich nicht einmal ansatzweise mit den für ihn geltenden Rechtsgrundlagen vertraut ist?

Branding goes Amok

In Berlin feiert man gerade das Festival of Lights, für das sich die Veranstalter zumindest am Brandenburger Tor mit kuriosen Einfällen haben durchsetzen können ...



Dass Berlin seine Imagekampagne so weit ausdehnt ...

Im Leben eines "Anderen"

Ich erinnere mich dunkel daran, dass die BILD-Zeitung von einem guten halben Jahr mit der Behauptung eines Armutsforschers aufmachte, mehr als 153 Euro im Monat bräuchte man als ALGII-Empfänger nicht. Im Netz ist die Schlagzeile nirgends archiviert, vor Augen habe ich lediglich noch eine strenge Aufschlüsselung des Betrags, die ich schlicht und ergreifend abstoßend fand. Sieben Euro, meine ich, waren als Ausgaben für „Kultur“ anberaumt.

Runden wir also auf 200 Euro auf. Selbst 200 Euro sind eine Geißelung. 200 Euro für Ernährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Ge- und Verbrauchsgüter des Haushalts sowie Haushaltsenergie. 200 Euro, wenn nicht (wie in Nordrhein-Westfalen) sogar weniger, die dank der Berufung auf minutiöse Statistiken wie folgt berechnet und im Idealfall zu verbrauchen sind:
Ernährung – 138,05 €; Kleidung – 20,45 €; Gesundheits- und Körperpflege – 5,11 €; Ge- und Verbrauchsgüter des Haushalts – 7,67 €; Haushaltsenergie – 20,45 €. 200 Euro – das ist die Summe des Berliner Regelsatzes für Unterhaltsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Im Rahmen eines Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsgenehmigungen haben eine Gültigkeitsdauer von sechs Monaten; sollten die Behörden in diesem Zeitraum ihrer Entscheidungsfindung nicht nachkommen können, folgt die Erteilung einer Verlängerung um weitere sechs Monate. Sechs Monate, die X. mit etwas mehr als sechs Euro sechsundsechzig pro Tag bestreitet.

Selbst mit dem großzügigen BILD-Kulturhaushalt von sieben Euro: Kein Zeitungsabo, kein Kino, kein Sport, keine Museen. Keine Freizeit, weil keine Arbeitszeit. Nur Zeit, verbunden mit Sprachhürden und Diskriminierungen in Arztpraxen. Mobilität beschränkt auf den Luxus eines Handys oder einer BVG-Monatskarte. Letztere darf er noch nicht einmal voll nutzen, da die Behörden in Fällen wie seinen die Bewegungsfreiheit grundsätzlich auf das Stadtgebiet einschränken. Ich darf ihm noch nicht einmal Schloss Sanssouci zeigen.

Eine Wohnung von ausreichender Größe, ja, ungefähr 50 Quadratmeter, sie aber ein Raum ohne Platz für seine Person. Die Ausstattung ist kein Mobiliar, sondern Inventar. Mit verkratzten Strichcodes versehen, die nach unzähligen Transporten kaum mehr lesbar sind. In wie vielen Küchen der Kühlschrank wohl schon gestanden hat?
„Kann Kleidung nicht geleistet werden, so kann sie in Form von Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen gewährt werden.“ Ich dachte immer: von dem Zeitalter haben wir uns doch längst verabschiedet. Nee, haben wir nicht. Um sicherzugehen, dass ihm seine Kleidung, „die nicht geleistet werden kann“, auch „gewährt“ wird, möchte er mit einem kleinen Anschreiben nachhelfen, das ich in seinem Namen verfassen soll:

Sehr geehrte Frau ****,
für den hereinbrechenden Winter benötige ein paar warme Schuhe und eine dicke Jacke.
Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank im Voraus für Ihre Hilfe,
****

Willkommen im Leben eines "Anderen".


[Nachtrag am 21. Oktober: Die von mir erinnerte Forderung von 153 Euro als ALGII-Regelsatz ist inzwischen unterboten worden, wie ich dank Claudia erfahren darf. Sie verweist auf eine Studie, der zufolge 132 Euro für die "Grundbedarfsdeckung" ausreichen. "Wir können durchaus sagen, dass manchmal weniger mehr ist" (Friedrich Merz auf der Klausurtagung der FDP, September 2008).]

Wunschdenken

Eine kleine, überfällige, wenn auch in ideologische Parole gefasste Einsicht: Was ich da gelegentlich und seitdem darauf aufbauend fasele: Die linke Akademie gehört, will sie's oder will sie's nicht, zum bourgeoisen Überbau. Und der wird sich nie und nimmer selbst stürzen. Die Universität ist ohnehin "nur" ein Denk-, und kein Tatapparat. Raus da also, baldmöglichst.

:-)

Anspruch und Wirklichkeit

Ich bin mir nicht ganz hundertprozentig sicher, wie ich folgendes deuten darf: Im kommentierten Vorlesungsverzeichnis, S. 18, stolpere ich über eine Ankündigung für die Übung "Angewandte Geschichte: Schreibwerkstatt und Berufsorientierung- Umsetzung von Publikationsprojekten", die nicht zum ersten Mal angeboten wird.



Ein klein wenig verklärend arbeitet er dann aber doch, der Herr Dozent. Das digitale Spieglein [google] befragt, erfährt man nämlich prompt, dass Alexander Schug Mitbegründer der Vergangenheitsagentur ist, die ihre Dienstleistungen wie folgt bewirbt:



Müsste man sich als Historiker für so etwas nicht zu schade sein? Sind solche Vereinnahmungen / Praxisseminare nicht im Marketing zielgruppenorientierter aufgehoben?

Ortsaufgabe

Welche Reaktionen eine Abmeldung von StudiVZ doch provozieren kann; wie präsent und offenbar unersetzlich diese Kommunikationsform für viele inzwischen geworden ist. Ganz so, als ob ein Verschwinden von der Bildschirmfläche physische Qualität gewonnen hätte und der Rückzug aus dem virtuellen Raum als Rückzug aus dem sozialen Raum interpretiert würde, fragte mich Philipp per sms: „Aber wo bist Du denn dann?“ Seine Frage hat mich genauso stutzig gemacht wie ihn vermutlich meine Antwort, hätte ich sie ihm mitgeteilt: „Na – in Berlin?“

Ich solle doch stattdessen zu facebook kommen, da sei’s wirklich lustig, meinte er weiter. Interessant, dass er „zu facebook kommen“ formuliert hat, und nicht „bei facebook anmelden“. Darf man das die Örtlichkeit des Virtuellen nennen? Die kulturpessimistische Interpretation würde die Aufgabe der physischen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, die Verkümmerung des Sozialen beklagen. Ich ziehe aus der Verschiebung für’s erste diesen Hinweis: dass das Soziale, in welchen Formen auch immer, nicht physisch orientiert, sondern ausschließlich bedeutungsorientiert ist. Die heutige Dezentralisierung des Sozialen im physischen Raum – unsere „Globalisierung“ – führt (fast zwangsläufig?) zu neuen Konzentrationen im virtuellen Raum.

Verkürztes Argument

Ein wenig Verständnis habe ich an pessimistischen Tagen wie dem Heutigen ja doch für die Damen und Herren Journalisten, wenn Sie sich von der wachsenden Bloggerschaaren in ihrer Autorität herausgefordert sehen. Nur, weil man das Netz Zwei Null mit Kommentaren, Gegenanalysen- und recherchen, Vorwürfen, Kritiken überschwemmen kann, heißt es noch lange nicht, dass man sich zu allem äußern darf, was einem beim Skimming auf dem Bildschirm entgegenflimmert. Das Netz kennt keine Zurückhaltung, und so fürchten sie Dezentralisierung als Verrohung.

Dann aber wiederumm macht es mich stutzig, dass viele auf ihrer Seite folgendes offensichtlich nicht zu begreifen imstande sind: Dass das Anliegen der "seriösen" Blogger nicht die reaktionäre Dekonstruktion jeglicher Eliten ist. Ihr Einsatz gilt dem Verschmelzen zweier Eliten, der etablierten und ihrer aufstrebenden, und nicht um eine dumpfe "Elite für alle". Ausweitung, nicht Absetzung ist das Ziel.

zitiert: Foucault

Wenn Jerzy Jedlicki (via) einen „neuen Typus des Intellektuellen [fordert] – sensibel gegenüber Leiden und Unrecht, bereit zum Protest gegen Verfolgungen und Ungerechtigkeit, dabei aber Individualist und Skeptiker, der niemals als Apostel der Einen Wahrheit auf die Fähigkeit zum kritischen Denken und Zweifeln verzichtet“, weiß ich mich gewiß auf seiner Seite. „Sie werden dieser Haltung moralischen Relativismus vorwerfen und nachzuweisen versuchen, wie nutzlos solche Weicheier seien, die sich auf Vorbehalte und Zweifel, auf all diese verschiedenen 'Aber' spezialisiert hätten, wo die Menschen doch vor allem des Gefühls eines kollektiven Sinnes bedürften – und dessen Quellen könnten allein Glaube und Tradition sein.“

Kein anderes Ideal hat Foucault beschrieben und - im entscheidenden Unterschied zu vielen der vermeintlich Intellektuellen, denen man im Alltag begegnet - gelebt: „Ich träume von dem die Evidenzen und die Universalitäten zerstörenden Intellektuellen, dem Intellektuellen, der in den Trägheiten und Zwängen der Gegenwart die Schwachpunkte, die Öffnungen und die Kraftlinien entdeckt und anzeigt, dem Intellektuellen, der unaufhörlich seinen Platz wechselt, der nicht genau weiß, wo er morgen sein oder was er morgen denken wird, denn er achtet zu sehr auf die Gegenwart“ (via).

Für mich ein weiterer Impuls also, um den letzten Absatz der "Fallstricke" in seiner vollen Begründung erfassen zu können: Geisteswissenschaftliche Kritik nach dem Konzept Foucaults und ökonomische bzw. juristische Lehre bilden zwei Felder, die ungleichen Machtgewichts sind und mit unterschiedlicher Distanz zu den Gravitationsschwerpunkten Politik, Wirtschaft und Globalisierung stehen.

Erst vor dem Hintergrund dieser Einsicht gewinnt meine Forderung nach einem Feldwechsel die Dringlichkeit, die ich ihr zuschreibe: Wir kommen meines Erachtens nicht umhin, diesen Schritt heraus aus den hermetischen Geistesanstalten zu tun. Man bringt sich ansonsten unweigerlich in Erklärungsnot, in Bedrängnis, zum Ethiker zu werden, der seine Ethik zu leben vergisst (metepsilonema). Woher also nur, frage ich mich immer wieder, die überdimensionalen Hemmungen?

Das Radikal und die Angst

Versuchsweises Herantasten an das, was die Diskussion über gute Lehre angekratzt hat. Samuel fragte nämlich nach dieser Grenzziehung: „Ab wann bin ich ein kritischer Mensch, ab wann ein Spinner?“

Meine Vermutung darauf war diese: „Je informierter man ist, desto "radikaler", d.h. die Wurzeln des Bestehenden hinterfragend, vielleicht sogar unterwandernd, wird man wahrgenommen. Vermutlich müsste man die "Grenze" zwischen machbarer oder wünschenswerter Alternative und umstürzlerischer Radikalität zu verorten versuchen. Dort erkennt man unter Umständen, dass Gesellschaften schon lange ein Bewusstsein für ihre "Globalisiertheit" haben: Radikalität führt eine Veränderungskomponente ein, die jeden betrifft und ihn aus Gewohnheiten reißt, ohne ihm bei der Gestaltung eine Wahl zu lassen ...“

Mir scheinen inzwischen vier Figuren nötig, um die Konstellation besser ausleuchten zu können: Den Experten, den Radikalen, den Spinner ...

- der Experte kritisiert innerhalb der Horizonte des Bestehenden bzw. Möglichen;
- den Spinner hält man für ungefährlich;
- dem Radikalen aber schreibt man etwas zu, was er mit dem Experten teilt: Charisma und Autorität. Allerdings zeigt sich der Radikale durch seine Kritik als Idealist – und durch seinen Veränderungswillen als Tatmensch, der genau damit droht: Menschen aus ihren Gewohnheiten zu reißen, ohne ihnen bei der Umgestaltung eine Wahl zu lassen. Der Radikale ist also totalitär. Oder doch nur autoritär?

Vielleicht hilft mir der Idealist weiter? Der erklärt mir, unsere Angst sei nicht die, dass alles radikal, d.h. grundsätzlich, anders sein könnte. Wir haben keine Angst vor der Umstellung auf morgen, sondern vor dem Bruch mit dem heute.

Hilfe geleistet, nicht nur gedacht

Vor lauter verkopfter Grübelei habe ich ganz vergessen, dass man so etwas nicht nur andenken, sondern auch leisten kann - dass ich so etwas seit kurzem nicht mehr nur andenke, sondern auch leiste. Wenn auch im kleinen Rahmen, nämlich hier, als "Mentor". Selber tun und weitersagen.

Feine Verse

Poesie ist noch nicht einmal annähernd meins, gebe ich offen zu. Wie viele Gedichte ich im Laufe meines Studiums interpretiert habe, kann ich an einer Hand aufzählen, und A.K. Ramanujans Verse zählen ganz offensichtlich nicht dazu. Wenn mir auf Anhieb drei Werke einfallen, für die ich mich immer wieder begeistern kann, dann sind es wohl, in keiner bewussten Reihenfolge, diese.

T.S. Eliot, "Journey of the Magi":



Erstes Semester, wenn nicht sogar mein erstes Referat: Man merkt's an der Akribie, mit der ich mich vorbereitet habe. (Lang, lang ist's her ...)

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Dann: Philip Larkin, "This Be The Verse":



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Und dann: Langston Hughes, "Life is fine":

I went down to the river,
I set down on the bank.
I tried to think but couldn't,
So I jumped in and sank.

I came up once and hollered!
I came up twice and cried!
If that water hadn't a-been so cold
I might've sunk and died.

But it was cold in that water! It was cold!

I took the elevator
Sixteen floors above the ground.
I thought about my baby
And thought I would jump down.

I stood there and I hollered!
I stood there and I cried!
If it hadn't a-been so high
I might've jumped and died.

But it was High up there! It was high!

So since I'm still here livin',
I guess I will live on.
I could've died for love--
But for livin' I was born

Though you may hear me holler,
And you may see me cry--
I'll be dogged, sweet baby,
If you gonna see me die.

Life is fine! Fine as wine! Life is fine!

Identitätsfrage