Mein bescheidener Versuch, Derridas Konzeption der "differance" zu verstehen, indem ich sie frei übersetze - als "Textonik".
Und ich glaube, wir sind mit dem Verweis in die Geowissenschaften gar nicht so falsch aufgehoben. Die klassische Literaturtheorie (mein ursprüngliches Studienbrot) interpretiert jeden Text als vermeintlich bedeutungsdichte Einheit. Dass er jedoch "schwimmt", dass die Bedeutungen von Wort und Sprache uns nur vermeintlich als feste, starre Bezugs- und Orientierungspunkte zur Verfügung stehen, entgeht ihr. Mit jeder Lektüre aber ordnen sich die Interpretations- – und damit auch die Bedeutungskonstellationen – neu. Die Abschiednahme von vermessbaren "Sprachkontinenten": das ist das Programm, dem sich die poststrukturalistische Schule verschrieben hat. Unterhalb der vermeintlich festen, tektonischen Oberfläche verzerren sich die Bezüge zwischen dem Gebrauch der Sprache, ihrer Bedeutung und den transportierten und zu transportierenden Botschaften. Anstelle der Annahme einer unverfälschten, deutlich nachvollziehbaren Eins-zu Eins-Übertragung gilt es (auch oder ausschließlich?), Sinnverschiebungen zu erahnen, ihre Spuren nachzuzeichnen. Die Bedeutung eines Worts muss durch seine "Be-Deutung", d.h. durch die von meiner Seite vorgenommene Deutungszuweisung, ergänzt werden.
So weit, so gut. Der Schritt, den die Sprachspieler bisher allerdings selten unternehmen, ist der: sich mit der Einsicht anzufreunden, dass dies alles ein allmählicher, schrittweiser Prozess ist. Philosophierend, im stillen Kämmerlein denkend, verfällt man schnell dem Fluss der Gedanken und Assoziationen; im Alltag aber – will heißen: im Gespräch, im Austausch, im Dialog – muss ich diese Position, diese Gedanken, Assoziationen und Deutungszusammenhänge immer wieder neu, und vor allem: ob der jeweiligen Situation immer wieder anders (er-)klären, um mich verständigen zu können. So schnell sich Be-Deutungen in der Reflexion verflüchtigen, erstarren sie im Augenblick des Dialogs.
Die Postmoderne verdrängt, so scheint es mir, dabei vollkommen die Sprache als Medium: Ihre Vermittlungsfunktion verlangt nach kurzfristiger Einigung, nach einem sporadischen, situativen "Dritten Ort" (Homi Bhaba), den die Dialogparteien für sich in Anspruch nehmen, um überhaupt in Dialog treten und über das Notwendige sich austauschen zu können. Gefordert ist damit vor allem ein sensibler Umgang mit sprachlichen Darstellungen und ein Bewusstsein für ihre innerliche Doppelseitigkeit - ihre Vermittlungsfunktion einerseits, die Flüchtigkeit ihrer Bedeutungen andererseits: Durch ihre Vermittlung ermöglichen sie gemeinsames Begreifen, das aber gerade aufgrund seiner Qualität als Vermittlung nur kurzen Bestand hat, da es sich nur auf einen Kreis einzelner, beteiligter Individuen beschränkt. 'Außenstehende' mögen auf die gleiche Vokabel zurückgreifen, sie aber mit abweichenden Bedeutungen belegen und in andere Zusammenhänge aufnehmen, so dass sie letztendlich von dem selben Gegenstand einen vollkommen eigenständiges Verständnis und folglich einen eigenständigen Begriff formen.
Wäre es möglich, diese Form, diese formale Auseinandersetzung als Textonik zu bezeichnen? Sie müsste das Bewusstsein für diese zweideutige Vermittlungsfunktion der Sprache schärfen. Nur auf diese Weise können Begriffe als Konzentrationspunkte von Bedeutungen eine Grundlage bieten, um eine erste Bezugnahme, ein vorsichtiges in Beziehung Setzen zweier subjektiver Wirklichkeiten, zu ermöglichen und somit objektivierbare – nicht objektive – Aussagen und Erkenntnisse haltbar aufzustellen ...
Differance = "Textonik"?
at 31.1.08 Posted under Denkschubladen: Textonik, Wissenschaftstheorie
Zwei Podcasts zur Postmoderne
at 27.1.08 Posted under Denkschubladen: Podcasts, Postmodernes in Bild und Ton
Ohne große Worte - außer meiner ausdrücklichen Empfehlung! - der Hinweis auf zwei Podcasts mit einer ausgesprochen zugänglichen Perspektive auf postmoderne Denkansätze.
In "Vom Ende starrer Systeme" (vollständige Textfassung hier) behauptet das D-Radio: Den Menschen werden schon bald Modelle nur noch wenig bedeuten, die keine ausreichenden Begriffe und Vorstellungen zur Verfügung haben, um die augenblicklichen Wandlungen in der Lebens- und Gesellschaftsgestaltung zu erfassen, zu deuten und in die Zukunft hin zu verlängern.
Der Podcast "An den Schnittstellen von Geschichte und Geschichten" (Vollständige Textfassung hier) erinnert mich persönlich immer wieder an die perspektivische Doppeldeutigkeit dessen, was wir mit "Geschichte" zu bezeichnen versuchen: Mit dem Begriff verweisen nicht nur auf eine nach Wertneutralität strebende Wissenschaftsdisziplin, sondern indirekt auch auf die Struktur dieser vermeintlich faktischen "Geschichte". Sie ist und bleibt immer eine Erzählung, der eine Perspekive, eine Haltung, eine "dramatische Struktur" zugrunde liegt.
Die Einführung des D-Radio zum Podcast: Die Literatur ist ein Experimentierfeld für unendlich viele Spiegelungen dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Das Diverse und Geschichtete der Wirklichkeit lässt sich mit literarischen Mitteln adäquater darstellen als mit wissenschaftlichen Vorgehensweisen. Der Schriftsteller kann sich im Gewand seiner literarischen Figuren zu dieser oder jener Position und Haltung, und auch Verfehlung und Irrationalität bekennen.
Der Wissenschaftler dagegen hat diese Möglichkeit zur Travestie, zum Spiel und Rollentausch nur sehr eingeschränkt. Er sieht sich zur Darlegung der Position, von der aus er spricht, zur argumentativen und rationalen Erörterung der beschriebenen und gedeuteten Wirklichkeit genötigt. Zugleich ist die heutige, telekommunikativ, ökonomisch, politisch und kulturell vernetzte Welt in jedem Augenblick als ganze in unserem Blick, so dass alle herkömmlichen strikten Aufteilungen und Zuteilungen von Wirklichkeitssegmenten zu den Wissenschaften hinfällig geworden sind.
Man höre - und staune!
Vom Mythos eines Dialogs "auf Augenhöhe": Die EU und Afrika
at 26.1.08 Posted under Denkschubladen: Entwicklungshilfe, EU - Afrika, Orientalismus
Ich beobachte immer wieder mit derselben Enttäuschung, mit demselben Zynismus - ganz so, als ob ich aus meinen Erfahrungen nicht lernen wollte - wie sich die Politik in festgefahrenen Situationen ungehemmt ihres Rhetorikkästchens bedient und Altbewährtes neu formuliert. Im Falle des kürzlichen und längst fälligen EU-Afrika-Gipfels in Lissabon bin ich allerdings überrascht, mit welchem Krampf das Verhältnis in den Schlagzeilen und Podiumsdiskussionen geschönt wird. Und mit welcher Leere. Vergessen ist die "verbrannte Erde", das Leid des "Schwarzen Kontinents", in dem Joseph Conrads "Herz der Finsternis" schlägt. "Es sei Zeit", zitierte die taz EU-Kommissar Louis Michel, "das Bild vom 'problembeladenen Kontinent' zu revidieren und den 'Afro-Pessimismus' durch ein realistisches Bild zu ersetzen. Wie sich dieser Realismus formulieren lässt, machen die durchsichtigen Euphemismen schnell deutlich: Fortan verspricht man sich also einen Dialog "auf Augenhöhe" mit einem von Bundeskanzlerin Merkel portraitierten "neuen Afrika". Am vergangenen Dienstag in der KAS war sogar vom "Chancenkontinent" die Rede. Doch ob mit oder ohne dieses rhetorische Aufblenden: der Ausblick auf die mittelfristige Zukunft bleibt mehr oder weniger unverändert; hinter der freundschaftlichen Geste des Gesprächsangebots "auf Augenhöhe" steht die kalkülbasierte "strategische Partnerschaft".
Diese Doppelzüngigkeit zu verurteilen, sie wie die taz als "Pragmatismus nach chinesischem Vorbild" abzumahnen, ist nicht mein Anliegen. Ich will die Arroganz betonen, mit der die EU diesen Dialog mit der AU abzuwickeln pflegt - eine Arroganz, die ich als Symptom einer europäischen Denke lese und die man mit sloterdijk'schem Schwulst als eine "Ontologie des Vorsprungs" bezeichnen kann. Die "Ontologie des Vorsprungs", halte ich der Prägnanz halber fest, ist mehr als ein kulturalistisch verbrämter Rassismus (Micha Brumlik). Sie ist der Überlegenheitsglaube der aufgeklärten Moderne gegenüber allem Vor-, allem Noch-Nicht-Modernen. Das Grundgerüst dieser Denkart lässt sich überspitzt wie folgt skizzieren: Dank tatsächlicher technischer, wirtschaftlicher und militärischer und gefühlter philosophischer und religiös-säkularer Überlegenheit sind die Europäer (die Vereinigten Staaten eingeschlossen) schlicht und ergreifend die besseren Weltbürger. Alles, was wir sind, waren wir zuerst: Wissensbasiert, industrialisiert, globalisiert und vor allem: aufgeklärt. Wir sind und waren seit jeher all das zuerst, was uns im inspirierenden Dunst der vagen, aber nichts desto Trotz bis ins mythische verklärten Idee des "modernen" selbst schmeichelt. Wir sind nicht nur ganz selbstverständlich uns selbst, sondern allen anderen voraus.
Die wohl geläufigste Formulierung aber, die dieser kulturellen Überlegenheit zum Ausduck verhilft, ist die weit verbreitete "Feststellung", dem Islam fehle die Aufklärung. Den für mein Denken äußerst unwahrscheinlichen Fall angenommen, der Islam nähme sich der Aufklärung an - wie änderte sich unsere Wahrnehmung? In der Essenz, möchte ich behaupten, gar nicht. Ja: Irgendwie wäre der Islam dann schon aufgeklärt. Aber dann eben doch nicht so ganz, denn: er wäre ja noch nicht so lange so aufgeklärt wie wir es sind. Der patriarchalisch-diskriminierende Ton bliebe unter der angepassten Fassade rhetorischer Alltagsübungen derselbe. Daher - gebt's doch zu. Wir wissen alles einfach irgendwie besser, und wir wissen es auch noch objektiv.
Das ist das eins der zentralen Argumente in Dipesh Chakrabartys Provincializing Europe, das Amit Chaudhuri in seiner Rezension für die LRB (London Review of Books) ausführlicher - und vor allem: sehr suggestiv - aufgreift: I went to a Protestant school in Bombay, but the creation myth we were taught in the classroom didn’t have to do with Adam and Eve. I remember a poster on the wall when I was in the Fifth Standard, a pictorial narrative of evolution. On the extreme left, crouching low, its arms hanging near its feet, was an ape; it looked intent, like an athlete waiting for the gun to go off. The next figure rose slightly, and the one after it was more upright: it was like a slow-motion sequence of a runner in the first few seconds of a race. The pistol had been fired; the race had begun. Millisecond after millisecond, that runner – now ape, now Neanderthal – rose a little higher, and its back straightened. By the time it had reached the apogee of its height and straight-backedness, and taken a stride forward, its appearance had improved noticeably; it had become a Homo sapiens, and also, coincidentally, European. The race had been won before it had properly started.
An dieser Selbstwahrnehmung haben die Europäer festgehalten, unabhängig von der Himmelsrichtung, in die sie als Kolonialisten oder Imperialisten aufgebrochen sind. Leidig ist, dass ihre politische Elite diese Perspektive bis heute - und der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zum Trotz - nicht grundlegend hinterfragt hat. "Wie [Afrika] helfen?" fragte Harro Albrecht für die Zeit im vergangenen November. Keine zwei Spalten später die Antwort auf die derzeitigen Missstände der Entwicklungsarbeit: Der beste Platz auf Erden, um solche Fragen zu beanworten, scheint die Harvard University im amerikanischen Cambridge zu sein. Der Satz nimmt vorweg, wie oft ein solcher Wissenstransfer vom neutralen in ein autoritäres Lehrer-Schüler-Verhältnis umschlagen kann: Politische und wirtschaftliche Sanktionen werden durch die Wahrnehmung gestärkt, Afrika leide an mangeldem Verantwortungsbewusstsein, sei noch "im Lernen begriffen" und stecke in der "Entwicklungsphase". Man verfolge nur beispielhaft die Berichterstattung über die aktuellen Entwicklungen in Kenia: Das Land, so der unterschwellige Tenor, steckt noch in den Kinderschuhen.
Der Deutlichkeit halber: ich bin fern davon, mich dem jugendlich-naiven Ton der Jungen Welt (& ihrer politischen Artverwandtschaft) anzuschließen. Man liest dort: Europaweit bejubeln kapitalfreundliche Medien dies als Eröffnung eines neuen Kapitels in den über 500 Jahre von der Ausbeutung und der Versklavung Afrikas gekennzeichneten Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten. Die Lobeshymnen auf die gemeinsame Abschlußerklärung, insbesondere auf die »Vertiefung der Zusammenarbeit bei den großen Herausforderungen wie Frieden und Sicherheit, Armutsbekämpfung und Klimawandel« triefen von heuchlerischem Moralin. Den Vogel bei der Heuchelei schoß Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer scharfen Kritik am simbabwischen Staatschef Robert Mugabe ab.
Unbrauchbares Geblubber, das. Was ich verurteile, ist die Psychologisierung, die "Ontologie des Vorsprungs", durch die wir das Verhältnis zwischen Europa und seinen ehemaligen Kolonien interpretieren und einordnen. Ein Dialog "auf Augenhöhe" schließt meines Erachtens jede "strategische Partnerschaft" aus. Will man den jungen afrikanischen Staaten gegenüber jemals gerecht werden, müssen wir daran arbeiten - und nicht an der Gemütsfrage, mit welchen Auflagen wir unsere Hilfskredite versehen.
Welche Gerechtigkeit?
at 20.1.08 Posted under Denkschubladen: demokratische Kultur
Vergangenen Donnerstag seit langem mal wieder einem Vortrag im Rahmen der "Mosse-Lectures" an der Humboldt gelauscht. "Confronting Democracy - Wissenschaft und Politik im Zeichen extremer Bedrohung" lautet das übergreifende Semesterprogramm, zu dem am besagten Abend Alain Badiou, Professor und Direktor des Institutes für Philosophie an der Pariser École Normale Supérieure, seine Thesen beitragen wollte. Die Programmankündigung:
Ein eklatanter Widerspruch ist zu bemerken: Einerseits ist die Philosophie selbstverständlich und notwendigerweise eine demokratische Tätigkeit. Andererseits sind die politischen Vorstellungen der Mehrheit der Philosophen - von Plato bis zu meinem Denken, Hegel, Nietzsche, Wittgenstein und Deleuze eingeschlossen - keineswegs "demokratisch" im üblichen Verstande des Wortes. Es besteht also ein Widerspruch zwischen der wahren Natur von Philosophie, die sicherlich so etwas wie eine demokratische Übung des Diskutierens und Denkens darstellt, und den expliziten Begrifflichkeiten der Philosophie im Bereich der Politik, die sehr oft eine autoritäre Grundstruktur für das kollektive Schicksal der Menschheit annehmen. Dieses Paradox zu erklären, [...] - daran war Badiou gelegen.
Was einen spannenden Abend versprach, erschien mir - ohne anmaßend oder überheblich klingen zu wollen - oftmals banal, weil unpragmatisch. Zugegeben: Ich habe bisher keines seiner Bücher gelesen, um an dem Abend an sein Denken anknüpfen zu können, und auch wenn Maximilian Probsts Artikel in der Zeit einen transparenten, nachvollziehbaren Zugang zu Badious Philosophie eröffnet, bleibt ein fader Beigeschmack. Meine leichte Verstimmung trifft vielleicht noch nicht einmal Badiou persönlich, sondern wird vermutlich auf einen "Wahrnehmungsumschwung" hindeuten, den ich bisher - wenn überhaupt - fühlen, aber kaum an- oder aussprechen konnte: Allmählich befrage ich das, was Probst zufolge
die Philosophie in ihrer leidenschaftlichen Form schon immer gewesen ist: ein Überzeugungskampf, der mit den klassischen Waffen der Geschlechter ausgefochten wird, mit der Faust und dem Charme, wohlgemerkt in den eisigen Höhen der Abstraktion.
Nichts gegen den Überzeugungskampf, im Gegenteil. Ich habe mehr und mehr Bedenken, was die philosophische Neigung zur unpragmatischen Abstraktion anbelangt. Nun will ich den Abend nicht in Form einer Rezension aufarbeiten; ich möchte einen Gedanken aufgreifen, vielleicht den Gedanken, der mich seither immer wieder beschäftigt, weil er mir einerseits zwar einleuchtet, andererseits aber zugleich zu bodenlos, zu abgehoben, ja: zu abstrakt erscheint.
Um anzudeuten, was ihm "gerecht" ist, beruft sich Badiou auf das seiner Ansicht nach geeigneteste Paradigma, die Mathematik. Fern aller formalen Bezüge stellt er lediglich folgende "Gleichung" auf: Verändere ich ein mathematisches Axiom im Rahmen einer bestehenden Formel, oder führe ich ein neues Axiom ein, führt diese Modifizierung zu einem neuen Ergebnis. Seine Übertragung auf das Tagtägliche geht über die verkürzte Feststellung Ich modifiziere, sprich: handele und verändere damit die Konstellationen hinaus. Die Betonung, dass jede Handlung ihre Spuren im sozialen Gefüge hinterlässt, dass jede Handlung Konsequenzen in sich birgt, erlaubt ihm die Festschreibung eines Imperativs: Gerecht ist, wenn ich mich aus freier Wahl, aus freiem Willen dazu entschließe, ein Axiom im Rahmen einer bestimmten Konstellation durch meine eigene Handlung zu verändern, sprich: durch Handlung in das soziale Gefüge einzugreifen, muss ich "gerechterweise" auch die Konsequenzen akzeptieren. Gerechtigkeit kann also nur unter zwei aufeinander Bezug nehmenden Bedingungen zustande kommen: erstens - der Annahme der freien Wahl der Handlung durch das freie Subjekt, sowie zweitens - der freien Annahme der aus dieser freien Wahl resultierenden Konsequenzen durch das freie Subjekt.
So ansprechend ich den Gedanken finde, wundert es mich doch, dass ein Denker wie Badiou so einseitig, so "einfach" oder "vereinfachend" argumentiert. Wer soll diese Kausalkette zwischen Handlung und Handlungskonsequenz mit Autorität festschreiben? Wenn Gerechtigkeit durch den philosophischen oder postmodernen Dialog immer nur momentanen Bestand hat, weil sie auf fortwährendem Dialog gründet - wer spricht dann letzten Endes Recht? Es geht mir nicht um die Betonung, dass genau hier die Philosophie ihre Rolle als demokratische Gedankenübung hat. Eine Schusswaffe bleibt eine Schusswaffe, ein Mord bleibt bei aller Offenheit für dialogische Erklärungsfindungen der gewaltsam herbeigeführte Tod eines Menschen. Wie will die Postmoderne also ihr Verständnis, wohl eher: ihre in Verhandlung stehenden Verständnisse von Gerechtigkeit durchsetzen? Ein Kärker aus Worten lässt viel Bewegungsfreiheit zu ...
Kapitalismus und Demokratie - Versuch einer Einsicht II
at 14.1.08 Posted under Denkschubladen: Bestandsaufnahme, demokratische Kultur, Kapitalismus vs. Politik
Eine Fortsetzung hatte ich angekündigt, damals. Überlegungen habe ich mich zwar von Zeit zu Zeit gewidmet, aber der Ton, den ich damals angeschlagen habe, missfällt mir inzwischen. Zu pauschal, zu verkürzt, zu sehr nach Attac klingt das, was ich dort festgehalten habe. Einen vermutlichen Grund für diese Tendenz zur "Verzerrung" hält Don Dahlmann fest:
"Mir fehlt der zeitliche Abstand zu den Ereignissen, und deswegen habe ich nur mein Gefühl. Und das sagt mir, dass ich mich nicht mehr wohl fühle. Es ist nicht greifbar, denn es ist in meinem Leben noch nichts passiert, was mich am demokratischen Grundgerüst des Staates zweifeln lassen würde. [...] Es ist ein nebulöses, nicht greifbares Gefühl. Ein Unwohlsein, dass vielleicht daraus resultiert, dass mir viele Worte und Argumente, die man so hört und liest, irgendwie aus einer dunkleren Zeit bekannt vorkommen. Die Diktion ist nicht gleich, das was zwischen den Zeilen mitschwingt vielleicht schon."
Statt einer Fortführung also eine überfällige Korrekturanzeige, angeregt vor allem durch zwei insprierende, nachdenklich stimmende Beiträge, die Michael auf TIEF zu "Gewalt und Demokratie" und "Demokratie und Revolution" mit seinen Lesern teilt.
Meines Erachtens wurzelt das Aufeinandertreffen beider Lebenswelten, die gegenwärtig verspürte Unvereinbarkeit zwischen Kapitalismus und Demokratie, in der Art und Weise, mit der wir sie behandeln. Sie denken sie als reine, theoretische Konzepte - und eben nicht als Lebenswelten, als gelebte Welten. Klingt kryptisch, ich weiß.
Was ich damit andeuten möchte, ist: Die Demokratie - jede Demokratie - ist niemals frei, sie selbst zu sein. Philipp hatte recht, als er mich daran erinnerte, dass jeder Mensch sein täglich Brot verdienen muss, dass sich jede Gemeinschaft gegen Bedrohungen von Außen abgesichert wissen will:
"Politische Entscheidungsbefugnisse können theoretisch beliebig delegiert werden, bei der Delegierung von wirtschaftlicher Produktion gibt es absolute Grenzen. Es ist daher durchaus möglich, einen Menschen zu bestimmen, der für 80 Millionen andere politische Entscheidungen trifft. Es ist aber nicht möglich, dass ein einziger, das Brot für 80 Millionen andere bäckt."
Eine Demokratie bleibt daher Ideal; sie kann nicht mehr sein als gelebter Kompromiss. Diesen Kompromiss verstehe ich hier allerdings nicht als das (selbstverständlich einzufordernde) Ergebnis ihres "Gelebt-Werdens" - ich rede nicht vom Kompromiss aus demokratischer Nächstenliebe, aus Rücksichtnahme, aus Abstimmung -; der Kompromiss kommt schlicht und ergreifend durch den Umstand zustande, dass auch ein Demokrat sich ernähren und Ressourcen sichern muss.
In unseren Sphären hat sich dieser Kompromiss als "marktwirtschaftlich geprägte Demokratie" institutionalisiert. Ganz in diesem Sinne meinte ich daher bereits: Sowohl der Kapitalismus als auch die Demokratie brauchen mich - entweder als kaufkräftigen Kunden, oder als mündigen Bürger. Beide verlangen sie meine volle Aufmerksamkeit. Beide erfordern beständig eine bestimmte, bestimmende, meine Wahl.
Es scheint zunächst, dass sich beide "Systeme" zu ähnlich sind, weil sie beide zu sehr auf dasselbe angewiesen sind: die Zeit und Aufmerksamkeit des Einzelnen. Für beide ist es ein Streit - und projiziert man dieses Aufeinandertreffen auf eine zeitliche Ebene, dann ist es auch ein Wettlauf - um die Beantwortung der Frage, wie sich dieser Einzelne, der doch von beiden angesprochen, in Anspruch genommen wird, definieren soll: Als Konsument oder als Bürger?
Die Ähnlichkeit beider Systeme täuscht allerdings, und das zugleich mehrmals. Zum einen steht das Prinzip der Gleichheit dem Prinzip des Überlegeneren, Schnelleren, Wagemutigeren, Gebildeteren, Finanzstärkeren gegenüber. Mit anderen Worten: Der demokratischen Gleichheit Aller steht die marktwirtschaftliche Selektion, die Unterscheidung zwischen Erstem und Zweitem, Gewinner und Verlierer, gegenüber. "[D]as Menschsein [wird] zu einer Frage der Kaufkraft, und der Sinn von Freiheit enthüllt sich in dem Vermögen, zwischen Produkten für den Markt eine Wahl zu treffen - oder selbst solche Produkte zu erzeugen" (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Suhrkamp, 2006, S. 26-27).
Zum anderen täuscht man sich mit einer solch schematischen Skizze schnell darüber hinweg, dass auch die Gleichheit der Demokratie ihre Probleme ich sich birgt. Von welcher Gleicheit sprechen wir? Von der des Geschlechts? Der Chancen? Aber auch von der Gleicheit des Bluts? Der Herkunft? Der Kulturen? Eines Deutschen und eines Migranten?
Herunterbrechen dieser Feststellungen auf zwei Schlachtrufe: Der Demokrat ruft "Gleichheit & Menschenrechte für alle!"; der Kapitalist "Wohlstand für alle!". Ich muss also revidieren: So vollkommen und grundlegend unterschiedlich scheinen beide Systeme, Demokratie und Kapitalismus, dann doch nicht zu sein - beide bleiben ein Versprechen. Beide versuchen sich möglichst umfassend um- und durchzusetzen. Was die Globalisierung für den Kapitalismus, ist die EU scheinbar für die Demokratie:
"»Es ist die Berufung der Europäischen Union, in anderen Ländern des Kontinents die Methoden zu nutzen, die sie selbst erfolgreich gemacht haben«, fordert der langjährige Kommissionspräsident Jacques Delors. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat die Gründung einer Mittelmeerunion nach dem Modell der EU angeregt. EU-Entwicklungskommissar Louis Michel propagiert und finanziert die Fortentwicklung der Afrikanischen Union, ebenfalls nach dem Modell der EU."
Diese Ver(w)irrungen ausgeräumt, kehre ich zur Ausgangsfrage zurück: Muss die Gleichzeitigkeit der Umsetzung beider Versprechen zwangsläufig scheitern?
Um das eindeutiger zu beantworten, müsste ich sofort mit einer Lektüre (und Aktualisierung) von Max Webers Protestantischer Ethik anschließen. Mein Eindruck und mein Bauch sagen: Jein. Geographischer Expansionismus - die EU als Vorbild einer Afrikanischen Union - ist kein Qualitätsmerkmal. Während der Ausbau des Konsumkapitalismus mit viel Überzeugungsarbeit durchgesetzt wird, scheint der Ausbau der Demokratie Zeit zu haben; für ihn gibt es ausreichende Gegenargumente, die ich sporadisch kommentiert hatte. In der Zeit konnte man folgendes Eingeständnis lesen:
"[...] Befürworter haben gewiss recht, wenn sie den heutigen Zustand der Direktdemokratie als unehrlich kritisieren. Die Bürger dürfen über fast nichts abstimmen, die Quoren sind so hoch, dass erfolgreiche Volksentscheide kaum möglich sind. Und der Mangel an Verbindlichkeit der getroffenen Beschlüsse untergräbt nicht nur die Legitimität des Instruments selbst, sondern die der gesamten Parteiendemokratie."
Der Einwand dagegen: "Ein so radikales Modell der Direktdemokratie ist in keinem anderen Land Europas verwirklicht. Selbst in der Schweiz wurde die Volksinitiative für einfache Gesetze erst kürzlich eingeführt."
Meine Befürchtung ist schlichtweg die, dass wir eher zum Kapitalismus, zum Konsum(enten) erzogen worden sind und weiterhin erzogen werden. Worauf ich daher mit meinen unfertigen Gedanken für den Augenblick hinauswill, ist eine noch genauer zu bestimmende (Neu-)Entdeckung demokratischer Langsamkeit. Wir könnten sie uns leisten und sind sie schuldig, sofern wir denn unserem selbstgerechten Anspruch als Demokraten treu werden wollen.
Das bedeutet für mich im Konkreten: Mehr bürgerliche Mitsprache. Ich finde es bezeichnend, dass unser demokratisches System eine (wie diffus auch immer verteilte) "Staatsgewalt" zu entwerfen und erhalten imstande ist, dagegen aber kein Konzept einer "Volksgewalt" oder "Bürgergewalt" verfolgt. Das ist meines Erachtens keine Frage des "Systems", sondern der Erziehung. Wie delecat im Kommentar zu Demokratie und Revolution meinte: Vieles "[...] ist Umkehrbar, wenn der politische Wille vorhanden ist. Dieser beginnt aber nicht bei den Parteien, auch nicht in den Unternehmen, nein, er beginnt bei den Menschen."
Damit fixiert man vermutlich genau den Punkt, den Michael aus anderer Perspektive beleuchtet hat: "Wenn man sich genau überlegt ist die Idee der demokratischen Wahl [...] nichts anderes als die rechtlich institutionalisierte Revolution. Alle paar Jahre wird das Volk aufgerufen das System zu stürzen. Oder eben nicht. [...] Es gilt: Die Politik hat nicht die Aufgabe die Revolution zu verhindern. Sondern sie unnötig zu machen."
Wie also erziehen wir uns zur Demokratie?
Das Kreuz mit der direkten Demokratie
at 9.1.08 Posted under Denkschubladen: Auswege, demokratische Kultur
Habe mich in den vergangenen Tagen endlich mal einem immer wieder verschobenen Vorsatz gewidmet: Das kleine "Archiv" von Zeitungsartikeln aufzuarbeiten, das sich inzwischen auf meinem Schreibtisch angesammelt hat. Heute also zum Auftakt und mit ein zwei Lektürenotizen versehen:
Frank Decker, "Das Kreuz mit der direkten Demokratie", Die Zeit Nr.45 vom 31.10.2007, S.6.
Das Volk soll entscheiden! Klingt gut. Nur hat sich in Hamburg einmal mehr gezeigt, warum Plebiszite oft scheitern: Ihre Befürworter wollen zuviel.
So heißt es im Untertitel. Die Bürgerinnen und Bürger "wollen zuviel"? Wovon zuviel? Zuviel Demokratie? Mehr Mitsprache? Oje, das kann ja werden. Meine Frage an Herrn Decker: Mit welcher Begründung von vornherein die Klage nach dem Übermaß der Forderungen?
Aber vielleicht sollte man erst einmal klären, worum es im Oktober vergangenen Jahres abzustimmen galt:
Nun liegt das Resultat des jüngsten Volksentscheids in Hamburg vor: ein weiteres klares Votum für einen Ausbau der plebiszitären Demokratie. Mehr als drei Viertel der Abstimmenden wollten (1) in Zukunft auch über finanzwirksame Gesetze abstimmen können. Zudem wollten sie (2) die Zustimmungsquoren senken, um die Erfolgswahrscheinlichkeit von Volksbegehren zu erhöhen. (3) Und drittens sollte gewährleistet werden, dass die Ergebnisse für die Regierenden tatsächlich verbindlich wären.
Damit ist also bereits zu viel verlangt??? Mein Unverständnis, vollstens. Aber weiter:
Gerade an dem letztgenannten Punkt hatte sich die Debatte in Hamburg in den letzten Jahren entzündet. Anfang 2004 stimmten die Bürger über einen von der CDU-Regierung geplanten Verkauf der staatlichen Krankenhäuser ab, den sie mit großer Mehrheit ablehnten. Wenige Monate später votierten sie für eine weitreichende Reform des Landeswahlrechts, die mit dem Monopol der Parteien bei der Kandidatenrekrutierung Schluss gemacht hätte. In beiden Fällen ignorierte die seit 2004 mit absoluter Mehrheit regierende CDU die ihr nicht genehmen Volksbeschlüsse.
[...]
Hätten die Anhänger der Volksgesetzgebung sich durchgesetzt, wären die Konflikte aber keineswegs beendet gewesen, im Gegenteil: Konflikte zwischen Bürgern und der Parlamentsmehrheit würden dann noch häufiger vorkommen und die Konkurrenz zwischen dem plebiszitären und parlamentarischen Gesetzgeber verschärfen. Das Problem liegt im Volksgesetzgebungsmodell als solchem. Dessen Befürworter haben gewiss recht, wenn sie den heutigen Zustand der Direktdemokratie als unehrlich kritisieren. Die Bürger dürfen über fast nichts abstimmen, die Quoren sind so hoch, dass erfolgreiche Volksentscheide kaum möglich sind. Und der Mangel an Verbindlichkeit der getroffenen Beschlüsse untergräbt nicht nur die Legitimität des Instruments selbst, sondern die der gesamten Parteiendemokratie.
Wunderbar. Aber ist denn überhaupt grundsätzlich sinnvoll, fragt Decker nun, [...] den Bürgern ein so weitreichendes Demokratieversprechen zu machen?
Seine Einwände:
Ein so radikales Modell der Direktdemokratie ist in keinem anderen Land Europas verwirklicht. Selbst in der Schweiz wurde die Volksinitiative für einfache Gesetze erst kürzlich eingeführt. Dort konnten die Bürger bislang nur Verfassungsänderungen begehren.
Na, dann ist es wohl eindeutig?
Die Vereinbarkeit der Volksgesetzgebung mit dem parlamentarischen System steht von daher generell in Zweifel. Nur hat in der politischen Klasse auch unter den Skeptikern niemand den Mut, dieses Problem offen anzusprechen.
Toter kann man ein Gegenargument meiner Ansicht nach nicht formulieren. Was mich daher erstaunt, ist der pragmatische, durch und durch konstruktive Umschlag, den Decker plötzlich macht:
Dabei gäbe es durchaus Alternativen. Auch hier hilft ein Blick in die Schweiz, wo sich die Direktdemokratie vornehmlich im sogenannten »fakultativen Referendum« konzentriert. Mit diesem tritt der Bürger nicht selbst als Gesetzgeber in Aktion - vielmehr hat er die Möglichkeit, ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz einer nochmaligen Abstimmung zu unterwerfen und es gegebenenfalls abzulehnen.
Die Einführung einer solchen »Vetoinitiative« könnte die Debatte um eine plebiszitäre Erweiterung der repräsentativen Demokratie aus der Sackgasse herausholen, in die sie durch das starre Festhalten an der Volksgesetzgebung (als vermeintlich fortschrittlichster Form der Direktdemokratie) geführt worden ist. Denn mit der letzteren dürften nicht nur alle Versuche, die Plebiszite auf Bundesebene einzuführen, zum Scheitern verurteilt sein. Es werden auch die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der Volksgesetzgebung in Ländern und Kommunen weitergehen und ein ständiges Hin und Her zwischen plebiszitfreundlichen und restriktiven Reformbestrebungen auslösen.
Einen solchen Streit um einen wesentlichen Teil seiner konstitutionellen Grundlagen kann sich auf Dauer kein Gemeinwesen leisten, ohne Schaden zu nehmen. [...]
Ob man nun um "Schadensbegrenzung" oder Demokratieausbau bemüht ist - sinnvoll scheint ein Plädoyer für das Schweizer Veto allemal, oder etwa nicht?
Postmoderne Überbefragung? Eine Verteidigung
at 7.1.08 Posted under Denkschubladen: Sprachspiele, Zu laut gedacht - Irritationen im O-Ton
Begräbt sich dei Postmoderne mit ihren eigenen Fragen? Zwei große Denker zusammengeführt (auch wenn ich dem ersten sehr skeptisch gegenüber stehe):
"Das Elend der großen Erzählungen herkömmlicher Machart liegt keineswegs darin, daß sie zu groß sind, sondern darin, daß sie nicht groß genug waren."
(Peter Sloterdijk)
Meine volle Zustimmung. Wie aber verteidigt man die sich daraus ableitende Aufforderung zur andauernden Hinterfragung? Wie begegnet man der Totalisierung, ohne selbst totalisierend zu lähmen?
"Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die Überzeugungen sind. Skeptiker ist nicht der, der - als Inhaber geballter Ratlosigkeit – gar keine Position hat sondern zu viele."
(Odo Marquard)
Die Grenze befragt: Privat / Öffentlich
at 5.1.08 Posted under Denkschubladen: Auswege, selbst bestimmt
Ein paar knappe Zeilen über ein Thema, zu dem ich mir bisher nur gelegentliche Gedanken geleistet habe (meine Schlussfolgerungen fand ich nicht nennenswert genug, um zur Diskussion beizutragen): Die zwangsläufigen Aufarbeitungen und Neudefinitionen von privat und öffentlich, die das WWW insbesondere mit seinem Trend zur Teilhabe (Stichworte u.a. die Social Networks, das Web 2.0 & der Prosumer) und die Debatte um die Datenvorratsspeicherung aufwerfen. Zu letzterem bloggt TIEF in vergangener Zeit regelmäßig, zuletzt hier.
Dass die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Ich verschwimmen, dass ich sie (bewusst) verschwimmen lasse, wenn ich via facebook oder StudiVZ Persönliches von mir preisgebe, ist mir klar. Bleiben wir bei der Idee der Preisgabe: Das, was ich dort will, hat für mich keinen eigentlichen Preis, zumindest keinen nominellen, keinen Marktpreis: Ich will Kommunikation, unter Freunden (wie ausgedeht auch immer das Verständnis von Freundschaft inzwischen sein mag). Was ich dort zugleich veröffentliche & öffentlich mache, dient der Kommunikation - zwischen Menschen, nicht einem beliebigen Unternehmen zur Einschätzung meiner Kaufkraft, nicht zwischen einer Marke und ihren potentiellen Abnehmern. Das Private mag heute in seinem Hang zum seichten Exhibitionismus Züge des Öffentlichen in sich aufnehmen - damit gebe ich das Private aber noch längst nicht zur Be-Werbung frei. Bei StudiVZ wollte ich stets ausdrücklich Privatperson, kein Nutzer, kein Waren- oder Markenkonsument sein. Für Werbung zwischen den Nachrichten meiner guten alten Schulfreunde ist und war dort niemals Platz angedacht, zumindest nicht in meiner Wahrnehmung.
Mein Vorstoß also: die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Präsenz mache ich im Netz fortan an der Einverständniserklärung fest. Bin ich User, Nutzer, der formulierten, einklagbaren Nutzungungsbedigungen zugestimmt hat, oder bekenne ich mich als Nicht-Nutzer aus freier Solidarität, aus sozialer Nähe zu offenen, selbstregulierenden Standards, die sich durch die Art und Form der Kommunikation selbst herauskristallisieren? Schlägt mit meiner Zustimmung jemand Profit aus meinem Kommunikationsbedürfnis - dann bin ich als Vertragspartei meiner Ansicht nach "öffentlich" unterwegs. Privat heißt daher für mich im Kern: Ohne Vertrag. Was nicht heißen soll: Ohne Verpflichtungen; sie ergeben durch den Austausch sozialer Gesten.
Das Private setze ich also gleich mit: Ohne Einwilligung zur Datenweitergabe, ohne SMS-Werbung und ohne SPAM. Im privaten Raum werde ich nicht angesprochen. Im Gegenteil - hier kann ich sprechen, für mich, ohne verführerisches Werberauschen. Das Private ist werbefreie Fläche.
Darüber, wie schwer diese Forderung außerhalb des WWW, sprich: in der physischen Öffentlichkeit, umzusetzen ist, will ich gar nicht nachdenken. Eine Aktion in Kreuzberg hatte vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht. Ins Blaue hinein nachgedacht, scheint mir folgende Verkehrung eingesetzt zu haben: Privat bin ich am ehesten auf öffentlichen Flächen; sie gehören der Kommune, der Stadt, dem Land, dem Bund. Öffentlich dagegen bin dort, wo privatisiert worden ist.
Über Wissenschaft als geistige und technische Macht
at 3.1.08 Posted under Denkschubladen: Auswege, Wissenschaftstheorie
"Die Wissenschaft als geistige Macht ist skeptisch und wirkt etwas destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt, während sie als technische Macht genau die entgegensetzten Eigenschaften besitzt. Die technischen Entwicklungen, die den Naturwissenschaften zu verdanken sind, erhöhten Größe und Wirkungsbereich der Organisationsformen und vermehrten insbesondere die Macht der Regierungen."
Bertrand Russells Unterscheidung der Wissenschaften zwischen geistigem und technischem Lager, die ich im vorangegangenen Post aufgegriffen habe, verdient ausführlichere Erklärung; sie ist tiefgründiger, als sie beim ersten Lesen glauben lassen will. So monolithisch die Kategorien zunächst wirken mögen, so verweigern sie doch einer vorschnellen Antwort auf die Frage, welche Wissenschaften denn nun "geistigen", welche "technischen" Einschlags sind. Die Zweiteilung erlaubt nämlich keine grobschlächtige Tabellarisierung nach Forschungsgegenständen; sie ist keine umformulierte Neuauflage der klassischen Grenzziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften; sie beharrt nicht auf eine strikte Trennung von "erklärender" und "verstehender" Methode, wie sie sich offenbar in der Nachfolge Diltheys in den Köpfen und Statuten akademischer Institutionen festgeschrieben hat. Die Unterscheidung ist auch nicht per se in der erkenntnistheoretischen "Wertigkeit" der einen oder anderen Wissenschaft verankert; sie bedeutet keine durchgängige Hierarchisierung; keinen noch so allgemein gehaltenen "Qualitätsunterschied" der Forschungsergebnisse. Das für Russell entscheidende Kriterium scheint das inzwischen allgegenwärtige Schlagwort der Anwendbarkeit zu sein: Den technischen Wissenschaften ist an der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung gelegen, den geistigen Wissenschaften aber gerade an der Infragestellung des status quo. Ausschlaggebend ist daher, ob sich Wissen in bestehende, übergeordnete, dominante Diskurse einordnen lässt. Oder vermehren die gewonnenen Erkenntnisse im Gegenteil die Skepsis? Wirken sie in Russells Worten "destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt"?
Damit spürt man einer spannungsvoll geladenenen Dynamik nach, die einen durchdringenden Blick auf die Funktion der Wissenschaften wirft. Dem "technischen" Lager wäre demnach, wie bereits angedeutet, jedes Wissenschaftsfeld zuzurechnen, das Macht konsolidiert: heute zählte ich große Zweige der Soziologie, Ethnologie und Psychologie; die überwältigende Mehrheit der Lehre an geschichts-, politik-, wirtschafts-, rechts- und erziehungswissenschaftlichen Instituten dazu. Eben alles, was Macht in ihren bestehenden marktwirtschaftlich-liberalen Konstellationen reproduziert, ohne sie grundlegend zu destabilisieren.
"Geistige" Wissenschaften scheinen dagegen all jene Disziplinen, denen entweder an keiner grundsätzlichen Infragestellung ihrer Umwelt gelegen ist oder deren Infragestellung keine tatsächlichen Auswirkungen auf den "technischen" Ereignisablauf hat. Auch hier liegen Beispiele auf der Hand: die heutigen Philologien, Sprachwissenschaften, die Kulturwissenschaften, postmoderne Gesellschaftswissenschaften.
Der Forderung nach einer differenzierteren Beleuchtung dieser stark schematisierenden Einteilung muss selbstverständlich die ergänzende Notiz beiliegen, dass ich hier wohl eine europäische Rasterung vornehme. Dasselbe Pamphlet, dieselbe Veröffentlichung mag hier müde diskutiert werden, obwohl sie doch in zweitausend Kilometer Entfernung Entrüstungs-, Begeisterungs- oder Revolutionsstürme provoziert.
Soll der postmoderne Veränderungselan sich nicht gänzlich selbst vorführen, wäre hiermit, so scheint es mir, also eine Orientierungsbasis aufgestellt: Die postmodernen Kulturwissenschaften müssen "technischer" werden. Aufrücken zur BWL, zur Politkwissenschaft! Auf auf!