Darf man, oder unser Militär, dürfen unsere Geheimdienste im Grenzfall – gesetzt, es gehe um die Abwehr einer (inter)nationalen Bedrohung – foltern? Wie brutal, wie gewalttätig darf der Staat seinem potentiellen Feind gegenübertreten? Und wie sehr darf er sein eigenes Auftreten verharmlosen?
Diese Fragen beschäftigen mich mit Nachdruck, seitdem Bush in der zweiten Märzwoche sein Veto gegen ein vom US-Kongress bereits verabschiedetes Gesetz zur Abschaffung umstrittener Verhörmethoden (Stichwort waterboarding) eingelegt hat. Mit dem Gesetz sollte auch die CIA verpflichtet werden, den strengen Verhörvorschriften des Verteidigungsministeriums zu folgen, berichtete die NZZ. Von den L.A. Times lernt man genauer: The bill [...] included a provision to limit the CIA and other U.S. intelligence agencies to tactics allowed by the Army manual used by military interrogators. Bushs präsidiale Begründung: Das vom amerikanischen Kongress verabschiedete Gesetz «würde alle alternativen Methoden ausschliessen, die wir im Kampf gegen die gefährlichsten und gewalttätigsten Terroristen in der Welt entwickelt haben» [...].
Die Eigendynamik seiner Worte ist bemerkenswert. Fast könnte man aus ihnen herauszulesen glauben, er fühle sich bedrängt. Sein Feind ist nämlich migriert: Weil „die Terroristen“ in ihrer vermeintlichen Allgegenwart offenbar an Abschreckungspotenzial eingebüßt haben, muss Bush die Kriegsfront neu verorten und setzt einen Kampf gegen die „gefährlichste und gewalttätigste“ Vorhut der Terroristen, die besonders terroristischen Terroristen, in Szene. Und im Angesicht dieser terroristischen Terroristen verblasst die Schande der Folteranwendung als schlichte methodische "Alternative". Gut: Solche Euphemismen sind in der Regel schnell durchschaut; mit der Stellungnahme des amtierenden CIA-Direktors Michael Hayden dagegen weiss ich nicht recht umzugehen. Seine Worte (via): Die bisher von der CIA angewandten Methoden seien "legal und effektiv" [...].
Es mag durchaus sein, dass man dem Boden der Vereinigten Staaten alles, was nicht verboten ist, als legal, sprich: rechtmäßig betrachten darf. Hayden beharrt mit diesem Verweis auf zweierlei. Erstens – dass ein rechtmäßiger Akt zugleich auch ein gerechter, und damit unschuldiger Akt ist: Wir greifen zur Folter, aber ausschließlich motiviert durch die Unabwendbarkeit einer Notwehrsituation. Zweitens – über die streitbare Legitimation der Folter hinaus unterstreicht er die Rechtmäßigkeit ihrer Anwendung mit einem Verweis auf ihre "Produktivität": Folter leistet einen Beitrag zur (inter)nationalen Sicherheit – sie liefert trotz ihrer Brutalität wertvolle Ergebnisse. Sie ist effektiv; unschön, aber schlussendlich doch sinnvoll.
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Was Folter eigentlich ist: (weitaus) barbarischer als die tiefgreifende, unformulierbare Verletzung, als die ich sie grundsätzlich ohnehin bereits wahrnehme. Über ihre eigene unmittelbare Gewaltzufügung hinaus, die doch legal und effektiv sein soll, ist Folter eine Verletzung, die – gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst – zwei weitere Gewalttaten, zwei weitere Gewalten, mit ihr ineinssetzt. Über ihre physisch-psychische Gewalt hinaus ist sie ein Akt, dessen Gewalt dreifach ist. Folternde Gewalt ist dreifach gewalttätige Gewalt. Diese Ineinssetzung ist allerdings keine synchrone.
Erste Gewalttat
Die erste Gewalttat der Folter besteht bereits darin, bestehendes Recht (oder eine bestehende Rechtskonvention) aufzuheben, es (oder sie) mit Missachtung (ausbleibender Achtung) zu strafen. Das Gesetz oder Gebot körperlicher Unversehrtheit wird jeglicher (Rechts)Grundlage beraubt; diesem Gesetz fehlt, trotz seiner formalen Kodierung als Gesetz, die exekutive, "effektive" Gewalt. "Effektiv" ist Folter also nicht verboten. Die Menschenrechte sind in dieser Situation, in dieser Sache, zwar formuliert, aber keineswegs "effektiv", sondern im Gegenteil gewalt-, d.h.: macht- und damit folgenlos. Als ihr potentielles Opfer ist man, so scheint es daher also, nicht mehr dem Recht, irgendeinem Recht, sondern allein der übermächtigen gewalttätigen Gewalt ausgeliefert, die außerhalb jedes sonst geltenden Rechts sich selbst zum Recht erklärt, sich selbst Recht ist, selbstgerecht ist. (Selbst gerecht ist eben sie keineswegs). Das Recht als unabhängige dritte, regelnde, richtende "Instanz" zwischen zwei im Konflikt stehenden Parteien verstummt: In Räumen der Folter wird kein Recht gesprochen. Jedweder geheimdienstlichen Beteuerung zum Trotz ist Folter damit in Anlehnung an Walter Benjamins Worte ein militaristisches Instrument: Eine Doppelheit in der Funktion der Gewalt ist nämlich für den Militarismus [...] charakteristisch. Militarismus ist der Zwang zur [...] Anwendung von Gewalt als Mittel zu Zwecken des Staats. Die Verwurzelung der Gewalt im Militarismus manifestiert sich nämlich darin, dass sie [...] in einer Anwendung von Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken [...] besteht (S. 40). Dieser Rechtszweck – die Grundlage, auf die sich die Verteidiger der Folter berufen – ist das Recht auf staatliche Selbstverteidigung. Einer seine Vernichtung androhenden Gewalt soll der Staat seine eigene Gewalt vorausgreifend gegenüberstellen und entgegenhalten dürfen. Was aber, wenn dieser Vorausgriff nicht gerechtfertigt werden kann? Wie weit darf er gelten, wie unmittelbar muss die Bedrohung ausgesprochen oder erkannt worden sein? Als Gewalt ist nämlich, wiewohl dies auf den ersten Blick paradox erscheint, dennoch auch ein Verhalten, das in Ausübung eines Rechts eingenommen wird, unter gewissen Bedingungen zu bezeichnen. Und zwar wird ein solches Verhalten, wo es aktiv ist, Gewalt heißen dürfen, wenn es ein ihm zustehendes Recht ausübt, um die Rechtsordnung, kraft deren es ihm verliehen ist, zu stürzen; wo es passiv ist, aber nichtsdestoweniger ebenso zu bezeichnen sein, wo es [...] Erpressung wäre (37). Für die Anwendung der Folter gelten unweigerlich beide Fälle – sie ist zugleich (zeitweiliger?) Umsturz einer ratifizierten, und daher: geltenden Rechtsordnung als auch Erpressung des Gefolterten durch angedrohte (und alsbald effektiv gemachte) Gewaltanwendung.
Zweite Gewalttat
Wenn die Vereinigten Staaten diesen Vorausgriff in Guantanamo vermutlich zu einer "allgemeineren" Praxis ausbaut haben, kristallisiert sich gerade dort das Risiko einer zweiten Gewalttat heraus: Der Folter liegt eine (wie auch immer stark begründete) Mutmaßung zugrunde. Letzten Endes weiß der folternde Staat (noch) nicht, was der Gefolterte weiß, oder was er seinen Befürchtungen zufolge wissen soll, was er angeblich weiß. Anstelle eines wie auch immer gearteten Beweises ist es daher also allein das Indiz, das als Ausgangspunkt für die Aufhebung bestehenden (Menschen)Rechts dienen kann. Diese Ahnung ist es vermutlich, die Bush (oder seinen Redenschreiber) zur rhetorischen Fixierung, zum kompensatorischen Fingerzeig auf die „gefährlichsten und gewalttätigsten“, die terroristischsten Terroristen, bewogen hat.
Aber: Man folgt einem Irrtum, einem falschen Eindruck, wenn man daraus ableitet, mit der Folter betrete man rechtsfreien Raum. Auch wenn man allein der "nackten Gewalt", dem Recht des Stärkeren, ausgeliefert scheint: Im strengen Sinne greift der Staat in dieser Ausnahmesituation vielmehr auf einen archaischen, nur vermeintlich überlebten Rechtsrahmen zurück, der zwar nicht mit dem des gothischen Rechts, den Foucault in Überwachen und Strafen (Kap. II) beschreibt, gleichzusetzen ist, aber einige seiner Züge doch modernisiert. Der folternde Staat entsagt sich nämlich dem gültigen, geltenden „dualistischen System“, das strikt zwischen Schuld und Unschuld eines Menschen trennen soll. Strafverdächtigung und -verfolgung bleiben heute strengen Auflagen unterworfen: die gesellschaftlich-juridische Ahndung eines Verbrechens soll nur unter der Voraussetzung eines fairen, unparteiischen Prozesses durchgesetzt werden können, in dem nicht nur der Anklagende, sondern gerade auch der Angeklagte zu Wort kommen kann – ohne zu seiner Aussage gezwungen worden zu sein. Mit einem Rückgriff auf die „alternativen“ Methoden der Folter aber verliert der Rechtsstaat diese Unvoreingenommenheit und verfällt dem Versprechen spezialisierter, professionalisierter (geheimdienstlich akquirierter) Vorannahmen und Vor(ab)urteile. Der Staat verteidigt sich nicht nur selbst im Angesicht einer Bedrohung – er be- und verurteilt diese Bedrohung auch selbst, wie auf Guantanamo, ohne die Verpflichtung einzugehen, letztendliche, urteilsbegründende Rechenschaft ablegen zu müssen. An die Stelle des „dualistischen Systems“ tritt also ein System gradueller Strafen, das seine ausführlichste Differenzierung in einem der literarischen Großwerke des Mittelalters findet: in Dante Alighieris divina commedia. Bei den Strafformen folgt Dante im wesentlichen der mittelalterlichen Idee des contrapasso, der replikartigen angemessenen Bestrafung, die im Prinzip Gleiches mit Gleichem vergilt: Dem Dieb wurde die Hand, dem falschen Zeugen die Zunge abgehackt usw (Manfred Hardt, „Nachwort“ zur divina commedia in der Übersetzung von Hermann Gmelin. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 548). Auf einen Begriff der „Unschuld“ kann man sich demnach nicht berufen, weder im Mittelalter, noch auf Guantanamo – heute genügt allein der geheimdienstliche Verdacht ohne auswärtige Gegenprüfung, um archaisches Recht wiederherzustellen und somit einen formal Unschuldigen (die gerichtliche, faire Feststellung seiner Schuld fällt/steht ja aus!) einer folternden, dreifachen Gewalt auszusetzen. Das zur zweiten Gewalttat.
Dritte Gewalttat
Als dritte Gewalttat deute ich die ausbleibende Anerkennung der erlittenen Gewalt, des Opfers nach der Zufügung von Folter. Damit ich nicht missverstanden werde: Es gibt keine Anerkennung, keine Entschädigung, die die Ausmaße einer Folter „wieder gut machen“ könnten – niemals. Aber sowohl rechtlich, und damit gerichtlich, als auch psychisch und emotional lassen wir Folteropfer im Stich und setzen sie einer weiteren, vielleicht noch verstörerenden Isolation aus. Folterprozesse werden vor geheimen Militärtribunalen geführt, deren Verhandlungen der Öffentlichkeit, der unabhängigen Berichtserstattung verschlossen bleiben – aus der perversen, aber fast selbsterklärenden Logik heraus, die Offenlegung interner Organisationsgeheimnisse vereitelten die staatlichen Selbstverteidigungsmechanismen vor den terroristischsten Terroristen weiter. Und für das Opfer, verlangte es denn die öffentliche Strafverfolgung? Es gibt kein Gesetz, und vor allem: kein Gericht, vor dem sie oder er eine Anklage wegen Folter „effektiv“ durchsetzen und zu einem bindenden Urteil führen könnte.
Das auf Guantanamo und andernorts verübte Unrecht bleibt also sowohl von vornherein als auch nachträglich geheim, ungeahndet, auf perverse Weise „effektiv“. Der oder die Gefolterte lebt allein mit seiner physisch-psychischen Schändung – wenn er oder sie denn überhaupt im gewöhnlichen Sinne zu „leben“ imstande ist.
In abschließender, freier Anlehnung an Benjamin: man muss, freiwillig oder trotz vehementen Abstreitens, eingestehen, dass es wohl keine Zivilisation gibt, die im Zuge ihrer beständigen Berufung auf ihren kulturellen Fortschritt und ihre ontologische Überlegenheit nicht auch ihre barbarische Rückständigkeit beweist. Das Verstörende daran ist aber: Unsere freiheitlich-demokratische „Zivilisation“ scheint mir die unverkennbar Scheinheiligste. Ihre Decke ist ausgesprochen dünn.