Kenianisches Politrätsel III

Meine zuletzt geäußerte Verwunderung über die in meinen Augen "neutrale" Einschätzung der politischen Lage in Kenia muss ich offenbar zurücknehmen - zumindest teilweise. Zwar bestätigt, wie ich gerade lese, der Human Rights Watch in seinem World Report 2008 die Korruptionsanfälligkeit des kenianischen Systems (siehe auch den Kenya Bribery Index von Transparency International). Gleichzeitig aber betont HRW, wie kontinuierlich sich das politische Klima seit den 1990ern, insbesondere aber seit 2002 stabilisiert hat: Kenya’s multiparty political system has developed considerably since the retirement of President Daniel Arap Moi in 2002. The new pluralism, though flawed and very fractious, has helped stabilize the country, along with economic growth, a less divisive executive style and increasingly independent media and legislature. Alles in allem dürfe man daher feststellen: Kenya has one of the most assertive, independent Parliaments in Africa today.

So schwierig die Lage also zu erfassen ist, so absurd ist zur Abhilfe der Rückgriff auf quantitative Indices. Dem Global Peace Index zufolge ist Kenia (Platz 91) friedvoller als die USA (Platz 96 von 121 einbezogenen Staaten). Deutschland findet sich unter den Top Ten wieder. Der Failed States Index objektiviert den status quo in 177 Staaten und platziert, wie es sein Name andeutet, in ungekehrter Reihenfolge: Je tiefer ein Staat in der Rangliste geführt wird, als desto stabiler ist er wohl anzusehen. Hier tauchen die USA plötzlich vor Deutschland (Platz 154) unter den 20 ungefährdetsten Staaten auf (Platz 160), während Kenia auf Platz 31 verwiesen wird. Beim Bertelsmann Transformation Index schließlich rückt Kenia wieder auf Platz 61 von 125 vor, wobei hier allerdings "nur" Entwicklungs- und Schwellenländer in ihrem Transformationsprozess auf dem Weg zu rechtsstaatlicher Demokratie und sozialpolitisch flankierter Marktwirtschaft erfasst werden.

Wozu dieser ausführliche Exkurs? Die Antwort erscheint fast banal: Es gibt keine Vergleichsbasis. Es gibt keine objektive Einschätzung der Situation, die man als Grundlage für die Aufstellung eines Entwicklungs- oder Transformations"proposals" nutzen könnte. Alle Chancen stehen und fallen mit der Bereitschaft, sich vor Ort ein Bild der Lage zu zeichnen. Um also zur ersten Teilfrage zurückzukehren: Ist es als zwingende Voraussetzung der Parteienpluralität anzusehen, dass sich die Parteien nach weltanschaulichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Programmen voneinander abgrenzen oder kann sie ethnisch motiviert sein?

Ja, sie kann. Wenn in der Vergangenheit im Namen des Staates Unrecht entlang ethnischer Trennlinien verübt worden ist, werden diese Trennlinien wohl fast zwangsläufig verstärkt. Dass damit eine Lösung (siehe die Teilfragen b Beschreiben Sie die Vor- und Nachteile von politischen Koalitionen in Deutschland und in Kenia und c) Welche Formen politischer Beteiligung könnten geeignet sein, dem Rückgang politischer Partizipation in Deutschland zu begegnen und eine ethnisch polarisierende Entwicklung in Kenia zu vermeiden?) frühestens mittelfristig möglich wird, liegt in der Natur der aufgebauten Spannungen. Ein paar wenige Stichpunkte dazu:

- Kolonialstaaten sind keine gewachsenen Nationalstaaten, sondern stellen ihre Bürger vor die Herausforderung eines multiethnischen Zusammenlebens, das ihnen die Bildung bisher nicht notwendiger Identitäten abverlangt;
- Die aufgestaute Skepsis gegenüber Staat und Verwaltung kann nur durch Transparenz abgebaut werden;
- diese Transparenz erfordert ein tatsächlich ehrliches Engagement der Internationalen Gemeinschaft, das an bindenden Verpflichtungen und nicht an aktuellen Eigeninteressen orientiert ist.
- Man sollte das reine demokratische Mehrheitsprinzip zugunsten einer garantierten Mitsprache von Minderheiten überdenken;
- ...

So weit für den Augenblick; mehr dazu Morgen ...

Kenianisches Politrätsel II

Eine grundsätzliche Lageeinschätzung (die mir fällt allerdings mehr als schwer fällt, weil sich alle "verlässlichen" Quellen auf ihre jeweils eigenen Zahlen berufen) kann meines Erachtens ausschließlich historisch ansetzen. Warum wirken die gegenwärtigen ethnischen Konstellationen - Kikuyu 22%, Luhya 14%, Luo 13%, Kalenjin 12%, Kamba 11%, Kisii 6%, Meru 6%, other African 15%, non-African (Asian, European, and Arab) 1% [CIA World Factbook] - so destabilisierend?

Man erinnere sich zunächst mit Martin Meredith (The State of Africa. A History of Fifty Years of Independence) an das grundlegendeste koloniale Erbe - den Staat nach europäischem Vorbild. Man möge im Hinterkopf behalten: Die Machtapparate, die imperiale Franzosen, Briten, Belgier, Portugiesen, Spanier, Italiener und Deutsche in ihrem hektischen Rückzug nach dem Zweiten und während des Kalten Kriegs hinterließen, waren nicht im Geringsten geprägt von der idealtypischen Ausgeglichenheit, die ihre "Mutterländer" erträumt haben. Africans had little experience of representative democracy - representative institutions were introduced by the British and the French too late to alter the established character of the colonial state. The more durable imprint they left behind was of authoritarian regimes in which governors and their officials wielded enormous personal power. Traditions of autocratic power embedded in the institutions the new leaders inherited (S. 153-154).

Das allerdings ist nicht der einzige Faktor gewesen, der den Lauf der ersten Unabhängigkeitsjahre bestimmend begleitet hat; die Einschränkungen scheinen im Nachhinein fast allzu selbstverständlich: Zum einen die Wirtschaftsstrukturen, die fast ausschließlich auf die koordinierte Vorsorge des ehemaligen Mutterlandes ausgerichtet waren; zum anderen der eklatante Mangel verwaltungstechnischer Kompetenz auf Seiten der einheimischen Eliten. Die Komplexität der Staatsführung wurde offenbar schlicht und ergreifend unterschätzt. British government officials estimated at the time [d.h.: Ende der 50er / Beginn der 60er) that a minimum period of between ten and fifteen years of intensive training was needed to prepare resonably efficient and stable modern administrations (Meredith, S. 91). Kenia aber erklärte sich bereits 1963 unabhängig.

Dass die Autokraten Yomo Kenyatta (1963-1978) und Daniel arap Moi (1978-2002) derart repressive Regimes aufgebaut haben, ist also keineswegs allein mit ihren jeweiligen Erfahrungen mit der britischen Kolonialsystem zu begründen, ebensowenig wie sich ihre von Korruption und unterdrückender Gewalt geprägte Herrschaft als prinzipieller Mangel politischen Veränderungswillens deuten lassen darf.

Aber dank eines langfristigen Wirtschaftswachstums konnte das Land zumindest statistisch den Schein einer ausgeglichenen Loslösung wahren. Denn auch wenn Kenias BIP in den beiden Jahrzehnten zwischen 1960 und 1980 mit einem jährlichen Durchschnitt von knapp 6% zunahm, zeigt erst ein genauerer Blick in die Zahlen die gelebte Verteilung dieses Wachstums auf: Stabilität, ganz zu schweigen von nachhaltigem Wohlstand, blieb den ohnehnin bereits Wohlständigen vorbehalten. Auf den 20% agrarisch nutzbarer Landfläche verdichtete sich die Bevölkerung in 16 Jahren fast um ihr Doppeltes.

Kenyatta und Moi dagegen sicherten sich dagegen durch Nepotismus und Klientelismus ab. In ähnlichem Ausmaß bevorzugten sie die Vergabe von Ämtern und Regierungsaufträgen an Vertraute der eigenen ethnischen Herkunft: Mit dem Tod Kenyattas saßen unversehens keine Kikuyu, sondern Kalenjin an entscheidenden (Regierungs-)Stellen. Auch mit der "Abwahl" Mois im Jahr 2002 hat sich nach mehrheitlicher Einschätzung die politische Lage nicht wesentlich verschoben. Auch wenn sein Amtsnachfolger, der derzeitige Präsident Kibaki, "[s]ein erstes Kabinett [...] sorgfältig entsprechend der rund 40 Ethnien und der politischen NARC-Parteien des Landes ausbalanciert [...]" hat, schreibt man ihm zu, seine Macht mit Hilfe seiner sogenannten "Mount Kenya Mafia" konsolidiert zu haben.

Ich bin gerade also mehr als überrascht, wenn die Bundeszentrale für Politische Bildung in neutralem Ton von der "vielfältige[n] Parteienlandschaft" spricht, die in Kenia gewachsen sei. Bei allen Brüchen bleiben meiner Ansicht nach eher entscheidende Kontinuitäten zu verzeichnen: Verschärfte Armutsstrukturen, Staatskorruption und autoritäre Herrschaft.

So viel für jetzt, ich bleibe dran ...

Kenianisches Politrätsel

Ich sitze gerade grübelnd an meinen Ideen für einen Bewerbungsessay. Die Bundeszentrale für Politische Bildung finanziert mit ihrer Studienreise Go Africa ... Go Germany 2008 ein Programm, das mich brennender nicht interessieren könnte. Allerdings muten mir die Essaythemen ein wenig absurd an. Unter den drei Aufgabenstellungen kann ich allein der ersten etwas abgewinnen:

In Kenia wurde 1991 das Mehrparteiengesetz wieder eingeführt. Ein Parteiengesetz ist im Entwurfsstadium. Seit 1991 ist eine vielfältige Parteienlandschaft entstanden, wobei die Regierungspartei – die National Alliance of Rainbow Coalition Kenya (NARC-K; offiziell ohne den Zusatz Kenia) ein Zusammenschluss von 15 ehemaligen Oppositionsparteien mittlerweile gespalten ist. Die Parteizugehörigkeit und das Wahlverhalten in Kenia werden zu einem großen Anteil von der Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien bestimmt, die sich jeweils in einer eigenen Partei repräsentiert sehen wollen. Die Identifikation der Parteien über alternative politische Konzepte steht dahinter zurück. Damit weicht die Parteienkonzeption in Kenia von den Anforderungen an politische Parteien nach dem Parteiengesetz in Deutschland ab. Für die Ende Dezember 2007 stattfindenden Wahlen haben sich über 100 Parteien registrieren lassen.

a) Weshalb bedarf es in funktionierenden Demokratien einer Parteienpluralität? Ist es als zwingende Voraussetzung der Parteienpluralität anzusehen, dass sich die Parteien nach weltanschaulichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Programmen voneinander abgrenzen oder kann sie ethnisch motiviert sein?
b) Beschreiben Sie die Vor- und Nachteile von politischen Koalitionen in Deutschland und in Kenia.
c) Welche Formen politischer Beteiligung könnten geeignet sein, dem Rückgang politischer Partizipation in Deutschland zu begegnen und eine ethnisch polarisierende Entwicklung in Kenia zu vermeiden?


Nein - der Eindruck des Absurden lässt sich in meinen Augen nicht mehr umkehren. Wie kommt man auf den ernsthaften Gedanken, die deutsche mit der kenianischen Parteienlandschaft vergleichen zu wollen? Auf der Basis eines Parteiengesetzes? Der leise Entschluss, den ich daher gerade gefasst habe: Ich will die von mir verlangten sechs Tausend Zeichen dafür nutzen, mit Geduld und Beharren die Unmöglichkeit eines solchen Vergleichsversuchs aufzuzeigen. Wie man bescheiden in Anlehnung an Walter Benjamin formulieren darf: Der Vergleich mag seinem Anschein nach sinnvoll wirken, "[...]die Sphäre seiner Anwendung [muß] nach ihrem [praktischen] Wert kritisiert werden" (Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 33). Mit anderen Worten: Es sollte eher gelten, der Frage nachzugehen, warum sich die kenianische Parteienlandschaft vor allem ethnisch ausgestaltet, anstatt mit der belanglosen Feststellung aufzuwarten, dass sie sich anders ausgestaltet. Es gilt, die konkreten Bedürfnisse und Interessen hinter dieser Ausgestaltung zu befragen, die scheinbar so grundlegend von den unseren "abweichen".

Mehr dazu im Verlauf der kommenden beiden Tage - Einsendeschluss ist nämlich der erste März.

Schließung der Europäischen Universität St. Petersburg

Eigentlich kann ich das gar nicht der Denkschublade "demokratische Kultur" unterordnen; das Nachfolgende beweist vielmehr den absoluten, fundamentalen, grundsätzlichsten Mangel demokratischer Kultur - um ihr vollkommmenes Fehlen, Aussetzen, ihre fehlende Durchsetzungskraft. Über die JOE-List (Mailingliste der "Jungen Osteuropa-Experten"), und inzwischen sicherlich auch von anderen Seiten, wurde die alarmierende Nachricht verbreitet:

Dear Colleagues and Friends,

European Unversity at St. Petersburg has been closed indefinitely. Today's article in the Guardian (see link below) gives a clear picture of the event. As the Russian intellectual landscape changes with frightening speed, we need to be vigilant and creative in our responses to it.


Dass die Wahlen in Russland wie auch andernorts nicht unlauteren Mitteln abgehalten werden, ist mir mehr als klar. Allein dank meines Kumpels Max aus Weißrussland weiß ich inzwischen mehr als mir lieb ist. Aber dass sogar der Betrieb einer ganzen Universität eingestellt wird?

Der britische Guardian bestätigt: the Kremlin has largely ignored the higher education sector, allowing Russian academics a relative degree of freedom and autonomy over teaching, student selection and research.

Der konkrete politische Auslöser ...
The university accepted a three-year, €673,000 EU grant to run a project advising Russia's political parties. The programme instructed parties on how to ensure elections in Russia were not rigged.

... flankiert durch die üblichen Argumente ...
Last October President Putin launched a vitriolic attack on the European University - which has close links with universities in the UK and US - accusing it of being an agent of foreign meddling.

... und einem bis ins Lächerliche verzerrten Vorwand für die Schließung ...
officials claimed its historic buildings were a fire risk.

Inzwischen versucht man mit Hilfe einer Petition dem Vorfall und Protest mehr "Nachdruck" zu verleihen. Zum aktuellen Stand der Entwicklungen eine Pressemitteilung der Universität selbst.

NACHTRAG, ohne Worte (12:29) --- man lese, wie die St. Petersburg Times die Schließung einordnet ...

Benjamins Engel der Geschichte

Ich stöbere gerade in Walter Benjamins "Geschichtsphilosophische[n] Thesen" [in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt (Main): Suhrkamp (1965)]. Mit einer Mischung aus Erschrecken und Genugtuung stelle ich fest, dass mir der ein oder andere Gedanke in der Uni, in dem ein oder anderen Seminar, schon mal vorgekaut worden ist. Erschrocken bin ich aus dem Grund, dass ich bisher - außer von Seiten des großartigen Amit Chaudhuri - keine nennenswerten Bezugnahmen auf sein Denken bemerkt habe; Genugtuung verspüre ich deshalb, weil mir gerade bewusst wird, wie sehr nachdrücklich mich Chaudhuris Vorlesung geprägt hat. Immer wieder zitierte er im Zuge des postkolonialen Projekts, Europa zu provinzialisieren, Benjamins fortschrittserschrockenen Engel der Geschichte. Passender könnte ich mich in meiner derzeitigen Gemütslage nicht aufgehoben fühlen. Meinen Dank an Herrn Chaudhuri, für seine Lektionen, verbunden mit einer ausdrücklichen Lektüreempfehlung: Leute, verdammt nochmal - lest Benjamin!


Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Repräsentation und Geschichte

Dass unser Zugriff auf die Welt um uns herum nur ein Vermittelter ist, ist keine neue Erkenntnis. Streitig ist man sich nur nach wie vor in der Beantwortung der Frage, ob - und falls ja: wie - es möglich ist, objektivierbare Aussagen über eine von unserer subjektivierten Wahrnehmung unabhängigen "Realität" oder "Wirklichkeit" zu treffen. Meine entschlossene Antwort darauf: Es gibt keine objektiven, ein für alle Mal festschreibbaren Sinnzusammenhänge, die ich, wir oder man über die Verfasstheit der Welt aufstellen könnte(n). Die Welt ist, aber sie ist für jeden anders - ohne die Möglichkeit eines Rückgriffs auf transzendentale Bedeutungen.

Zur Klarstellung: Dass sich Dinge ereignen, will ich unter keinen Umständen bestreiten. Die maßgebliche Frage ist für mich eherdie der Bewertung. Ich will als Extrembeispiel auf die Shoa verweisen: Dass sie stattgefunden hat, will und würde ich niemals anzweifeln. Ich kann aber niemandem vorschreiben, wie er mit ihr umzugehen hat. Ob der Einzelne in Ignoranz lebt (ich spreche nicht von Leugnung) oder sich täglich seiner Verantwortung bewusst zeigt, solchen und ähnlichen Barbarismus in Zukunft nach allen Kräften zu vermeiden - der Umgang mit Geschichte kann letzten Endes nur unter normativen Gesichtspunkten verstanden und aufgearbeitet werden.

Jeder historische Erklärungsversuch verdeutlicht diesen grundlegenden Umstand. (1) Als "Repräsentation" ist er keine faktische Spiegelung, kein von subjektiver Vereinnahmung neutralisierter Tatsachenbericht. Im Gegenteil: Jede Repräsentation deutet aus sich heraus bereits auf ihre zeitliche und/oder räumliche Distanz zum Berichteten - das nicht mit dem Geschehenen zu verwechseln ist! - hin: Sie ist keine objektive Wiedergabe eines Ereignisses, sondern eine erneute, mit jedem erzählt Werden wieder in die Gegenwart geholte Präsentation - eine suggestiv aufgearbeitete, weil der eigenen Sinnstiftung intendierte Vorstellung, die ohne übergeordnete Einbettung, d.h. Geschichte, leblos bleibt.

(2) Diese "Wieder-Vorstellung" verselbstständigt sich erst recht dann, wenn sie weiteren subjektiven Modifikationen unterliegt. Hat man ein Ereignis erst dann in seiner vollen Tragweite begriffen (man bedenke auch die haptisch konnotatierte Bedeutungsebene dieses Worts), wenn man imstande, ist, es in eigenen Worten wiederzugeben? Dieser Gedanke verrät schon: Es ist meine Aneignung, mein erneutes Verfassen, meine "Wieder-Vorstellung" oder Repräsentation des Geschehenen, die mir vorliegt und zeigt, dass es eben nicht das Ereignis selbst ist, dem ich meine Stimme, meine Worte "verleihe" - sondern einer Spur, einer gegenwärtig gemachten Erinnerung.

Damit ergibt sich für jeden linear-historisch denkenden Menschen wohl die notgedrungene Einschränkung auf eine zirkuläre Hermeneutik ohne Chance auf letztendliche Annäherung an das Ereignis selbst. Eine "vorsichtige Authentizität", so scheint es mir gerade, könnten wir dann wohl nur allein jenen Repräsentationen zuschreiben, die das Berichtete selbst erlebt haben ...

Unterwegs in anderen Gefilden

Die wenige Zeit, die ich derzeit zum Bloggen aufbringen kann, verbringe ich bei Christoph: Er hat die Erdogan-Rede kommentiert; aus den Reaktionen dazu hat sich eine kontroverse, aber in noch recht moderatem Ton geführte Diskussion entwickelt ... aus der ich demnächst hoffentlich auch ein Fazit ziehen kann.

Nächster Ausweg: Republikanismus?

Ein Magisterstudium bringt schon viele Freiheiten mit sich. Unter anderem eben auch die, dass man, sofern mit einem gewissen Maß an Neugier ausgestattet, mit vielen Ideen in Berührung kommt. Bleibt man sich dabei der eigenen Grenzen bewusst, darf man, ja: sollte! man immer wieder unruhestiftende Fragen stellen: Ab und an will man die Menschen doch in ihren verkrusteten Gewohnheiten provozieren. Solche (Denk)Bewegungen sind unverzichtbar, will man Engagement zeigen.

Auf der Suche nach Auswegen hat sich kürzlich Emanuel Richters Republikanische Politik. Demokratische Öffentlichkeit und politische Moralität (Rowohlt, 2004) in meine Hände gespielt. Ich gebe offen zu, dass ich nicht der Vertrauteste mit Demokratietheorien bin. Die Einleitung scheint trotzdem ein paar vielversprechende Gedanken bereitzuhalten. Ein zwei Auszüge daraus (S. 11-14):

Politik ist ein strategisches Erfordernis des kollektiven Regelungsbedarfs zwischen interagierenden Individuen, aber sie ist auch ein Element der Sinnstifitung und Selbsterfüllung jeder Person durch die Einbindung in die kollektiven Entscheidungsprozesse. [...]

Die republikanische Politik vefolgt damit unversehens die demokratische Stoßrichtung, aus fremdbestimmten Betroffenen selbstbestimmte Autoren der Politik zu machen. Politik wird an den Nimbus der sozialintegrativen Elemente kollektiven Lebens, an die normativ anspruchsvollen Gehalte der Volkssouveränität, an die moralischen und partizipativen Leitlinien politischer Praxis zurückgebunden. [...] Politik wird durch den Republikanismus gegen einen dirigistischen Paternalismus sensibilisiert, gegen vorgegebene Tugendkataloge und ideologische Fremdbestimmung immunisiert, gegen die Vereinnahmung des öffentlichen Lebens durch einseitige Imperative effizienter Herrschaft und funktionaler Erfordernisse der Regulierung und Steuerung geschützt. [...]

Der Republikanismus [...] ist eine Modell der kritischen öffentlichen Revision, das systemische Schwächen der Politik aufdeckt, intentionale Täuschungen über den Sinn und die Ziele des öffentlichen Lebens entlarvt, die Belastbarkeit von Leistungsprofilen der Bürger und der politischen Institutionen testet. [... Er] zehrt weniger vom historischen Erfüllungsanspruch eines inhaltlich fixierten Programms, sondern mehr von seiner immer wieder neu in die aktuellen Zeitkontexte zu übersetzenden Anschaulichkeit als Prüfungskatalog, mit dem sich die Erfüllung von Politik bewerten lässt. Republikanismus ist eine Form der kontextbezogenen, grundsätzlichen Reflexion über Politik. Der Republikanimus ist kein geschlossenes Modell einer bestimmten Herrschaftsform, sondern ein Set an Kriterien, denen sich die Akteure, Verfahren, Normen und Institutionen der Politik in Hinblick auf ihre Angemessenheit gegenüber den kollektiven Lebensformen überprüfen lassen.

Ob sich diese Gedanken als Ausweg anbieten?