Warum immer wieder Europa?

Das Buch: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt: Suhrkamp, 2007.

Die Autoren: Daniel Levy; Natan Sznaider



Die These, aufs Gröbste zusammengestrichen: „Das Trauma des Holocausts wurde zum Geburtstrauma, zum Beginn einer besseren Welt“ (14), das seine moralische Autorität als „kosmopolitisches Gedächtnis“ (11) auf der „Erfahrung der Katastrophe“ (12), des Kriegs und der Zerstörung im Verlauf des Zweiten Weltkriegs (11) gründet.

Das Gegenargument: Mit der Kernthese, die „Erfahrung der Katastrophe“ sei notwendige Ursache für die „Kosmopolitisierung“, für das Entstehen einer „kollektive[n] Erinnerung als […] Erinnerung an Schuld“ (11) als Basis eines ethischen Wertesystems, erklärt sich, warum Europa die brutalen Seiten kolonialer und imperialer Gewalt nicht als solche wahrgenommen hat: Die Erfahrung dieses Leids war nicht „prägend“ genug. Spricht aber nicht das gerade für die Gefahr, dass die Nachfolgegenerationen des Zweiten Weltkriegs in eine ähnliche Apathie zurückverfallen? Welche Schrecken, welche Katastrophen hat ein Kind des Wirtschaftswunders durchlitten, haben den Globalisierungsgewinner einschneidend bewegt, um die Achtung vor zukünftigen Wiederholungen dieser Schrecken, dieser Katastrophen nicht nur einzufordern, sondern tatsächlich zu leben?

Baumans Worte sind für mich eher Fakt: “No victory over inhumanity seems to have made the world safer for humanity. Morla triumphs, apparently, do not accumulate; in spite of the narratives of progress, movement is not linear – yesterday’s gains are not reinvested, nor are the bonuses once awarded irreversible. Ever anew, with each shift in the balance of power, the spectre of inhumanity returns from its exile. Moral shocks, however devastating they might have seemed at the time, gradually lose their grip – until they are forgotten. All their long history notwithstanding, moral choices seem always to start from square one” (Zygmunt Bauman, Postmodern Ethics. London: Blackwell, 1993, S. 228-229).

Wenn die Autoren diesen Einwand mit dem Verweis kontern, dass es ausgerechnet „durch massenmediale Bilder“ gelungen sei, „dieses Verbrechen [die Shoa] so zu vermitteln, daß eine emotionale Identifizierung möglich wurde“ (14), verkennen sie die grundlegende Verschiebungen europäischer Erfahrungswelten: der Erlebnischarakter der Massenmedien, des Computers, des Internets und der Photographie haben keine ausschließliche Sensibilisierung, sondern allemal eine Teilsensibilisierung erreicht, die doch von einer gleichzeitigen Desensibilisierung begleitet wird. Die Kritik Susan Sontags: “The problem is not that people remember through photographs, but that they remember only the photographs.” Und auch sie lehnt, wie schon Bauman, die Umklammerung durch „kollektive“ Identitäts- und Geschichtsstiftungen als äußerst problematisch ab. “Strictly speaking, there is no such thing as collective memory – part of the same family of spurious notions as collective guilt. But there is collective instruction. [… C]ollective memory is not a remembering but a stipulating: that t h i s is important, and this is the story about how it happened, with the pictures that lock the story in our minds” (Susan Sontag, Regarding the Pain of Others. New York: Picador, 2003, S. 85-86, 89).

Mein Fazit? Enttäuschung. Keine Hinterfragung der eigenen These, keine schlagenden Argumente. Das europäische Moralkollektiv wird ausgerufen, seine Existenz ohne Zweifel behauptet, Verweise in die Nachkriegsgeschichte und die heutige Realpolitik nachlässig ausgeblendet. Die meines Erachtens unbeantworteteste Frage: Warum ist es ausgerechnet die europäische Erfahrung, die kosmopolitisiert werden soll? Müsste das Erkennen unseres Leids nicht die Anerkennung vorangegangenen, aber durch Europa zu verantwortenden Leids – und damit: gerade dessen Kosmopolitisierung bedeuten? Warum schon wieder, immer wieder Europa?