Wenn ich in der Vergangenheit die Kompatibilität von Demokratie und Kapitalismus hinterfragt habe, überrascht mich das, was ich heute in der FAZ lese, nicht wirklich: Die kleinen Parteien werden sich vor künftigen Wahlen nicht mehr darauf festlegen lassen, mit wem sie regieren wollen. Ein Schritt, der wie folgt kommentiert und bewertet wird: Hinter diesem Strategiewechsel steckt die Einsicht, dass die Gesetze von Angebot und Nachfrage auch in der Politik gelten. Wer mit seinem Wahlkampfschlager ein gutes Ergebnis erzielt, kann einen entsprechenden Preis für seine Regierungsbeteiligung herausschlagen. Und Extrazuschläge gibt es sogar, wie man gerade in Hamburg sieht, für einen Lagerwechsel. Für die CDU sind die Grünen teurer als für den „natürlichen Partner“ SPD. Umgekehrt muss die SPD den Freien Demokraten mehr bieten als die CDU.
Bleibt daraufhin also nur noch die Einsicht umzusetzen, sich als Wähler in Zukunft genauso flexibel, undurchsichtig, kalkulierend, kompromissbereit zu verhalten?
NACHTRAG 27. März: Aus der Netzeitung erfährt man (via): Der Umzug des Springer-Blatts «Bild» nach Berlin wird nach Einschätzung des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz den journalistischen Konkurrenzkampf in der Hauptstadt verschärfen. Offenbar aber nicht nur den journalistischen: Auch [...] die Amtsträger selbst erlägen immer häufiger der Versuchung, mit Hilfe des Fernsehens und «Bild» zu regieren. «Politiker sind sehr viel mehr bereit als früher, ihre gezielten Indiskretionen in 'Bild' zu platzieren. Im Grunde ist jeder bereit, zum Franz Beckenbauer der Politik zu werden.» Ich bin gespannt, wie (spürbar) sich der "Stimmenmarkt", äh: die Politik, entschuldigung!, verschiebt, verbiegt ...
Inhaltsfragen
at 26.3.08 Posted under Denkschubladen: Kapitalismus vs. Politik
Anonym hat gesagt… said:
Eine Partei, die nur als Appendix einer grösseren Partei existiert, riskiert auf Dauer ihre Existenzberechtigung. Umgekehrt ist es aber auch nicht möglich, sich dauerhaft an der legislativen Partizipation zu verweigern.
Kleine Klientelparteien (die in Deutschland ja gar nicht so klein sein können - sie müssen midnestens 5% Wählerstimmen erhalten) sind immer dann überflüssig, wenn sie nur als "Mehrheitsbeschaffer" dienen sollen, ohne dass ihre Anliegen in genügender Form berücksichtigt werden. Dieser Effekt war einige Zeit bei den Grünen zu beobachten. Die Idee, durch eine Schwarz-Grüne Koalition alte Strukturen aufzubrechen, ist daher für die Grünen von existentieller Dimension. Die Perspektive mit der SPD an regierungen beteiligt zu werden, sind fast überall gegen null.
Willyam hat gesagt… said:
Was mich zwischen den Zeilen bewegt hat, ist eine gewisse "Verärgerung" über den scheinbar anstehenden (und schon längst gängigen, aber hier besonders deutlichen) Umgang mit den Stimmen, den Anliegen der eigenen Wählerschaft. Wenn sich im Wahlkampf bestimmte Themen zu Schwerpunkten herauskristallisieren und die Parteien Position beziehen, um ihre Stimme als Verstärker meiner Stimme zu bewerben, um sich als Forum meiner Interessen, meines Willens anzubieten, und wenn ich mich aufgrund der vorgetragenen oder selbst erschlossenen Argumente für die ein oder andere Partei entscheide, habe ich mich - im Idealfall zumindest - entschlossen. Ich bin in dieser Sache, in Bezug auf dieses (Wahlkampf)thema entschlossen.
Meine Position ist damit nur noch beschränkt verhandelbar. Wer sich aber im Voraus auf keine parteipolitische Linien festlegt, weil er theoretisch zumindest mit jedem können will, kann mir in der Folge auch kein ernsthaftes Regierungsprogramm mehr anbieten. Das gilt nicht nur für die kleinen Parteien, sondern in gleichem Maße wohl auch für die großen Volksparteien. Sicherlich ist es "[...] auch nicht möglich, sich dauerhaft an der legislativen Partizipation zu verweigern." Noch wird auf Beruhigung gesetzt und Hamburg zur Ausnahme erklärt - auf Dauer allerdings bin ich gespannt, wie sich unsere Wahlkämpfe an diese Pluralität anpassen.
Anonym hat gesagt… said:
um ihre Stimme als Verstärker meiner Stimme zu bewerben, um sich als Forum meiner Interessen, meines Willens anzubieten
Das wäre ja - kurz und vereinfacht - die "Strategie" einer Merkel: Politik nach Umfragewerte. Wenn 60% der Leute für X sind, dann bin ich (sind "wir") auch für X. Das ist das Gegenteil von Politik - wenigstens wie ich sie verstehe, nämlich: Die Parteien machen Entwürfe und ich suche mir diejenige heraus, mit deren Entwürfen ich am ehesten übereinstimmen kann. Programmatik als Angebot, von dem im Prinzip nicht abgewichen wird.
Wenn jedoch vor der Wahl "X" propagiert wird - nach der Wahl jedoch "Y" gemacht wird, dann hat irgendwann eine Partei der "Y"-Politik keine (moralische) Existenzberechtigung mehr.
Schwarz-Grün ist Hamburg ist interessant als ministeriale Beschaffungsmassnahme für die Grünen - ihrer Politik wird es auf Dauer schaden, weil sie bis zur Unkenntlichkeit marginalisiert werden wird. Den Pragmatikern wird diese Marginalisierung aber unter Umständen ausreichen, weil sonst gar keine Spuren von "Grün" gemacht würden (was nicht stimmt).
Parteien sind in dem Moment in einem Dilemma, in dem sie in eine parlamentarische Struktur eingebunden sind.
Willyam hat gesagt… said:
"Wenn jedoch vor der Wahl "X" propagiert wird - nach der Wahl jedoch "Y" gemacht wird, dann hat irgendwann eine Partei der "Y"-Politik keine (moralische) Existenzberechtigung mehr."
Genau das war mein Gedanke. Schließlich bekommt eine Partei, um Deine Beispielrechnung aufzugreifen, 60% der Stimmen für ihr Programm, ihre Ankündigung - die sie - ob groß oder klein - aber in Zukunft mit weitaus weniger Gradlinigkeit wird umsetzen können. Daher ja auch mein gespannter Blick auf die möglichen Veränderungen im Wahlkampfablauf.
Im Großen und Ganzen deute ich das eben aber nicht nur als Herausforderung der Parteien in ihrem Umgang miteinander - sondern gerade auch im Umgang mit ihren Wählern. Für Dich gilt: "Die Parteien machen Entwürfe und ich suche mir diejenige heraus, mit deren Entwürfen ich am ehesten übereinstimmen kann. Programmatik als Angebot, von dem im Prinzip nicht abgewichen wird." Für mich gilt auch: Diese Entwürfe sollten den Realitäten, den Lebenswelten der Wähler entlehnt sein und auf ihnen aufbauen. Wer gewählt wird, wird für etwas, für einen (wie auch immer geformten) Inhalt gewählt, den er bei Koalitionsverhandlungen nicht wieder unmittelbar verschachern darf. Früher nannte man das "Grundsatzposition" - und in Zukunft? :-)
Anonym hat gesagt… said:
Für mich gilt auch: Diese Entwürfe sollten den Realitäten, den Lebenswelten der Wähler entlehnt sein und auf ihnen aufbauen. Wer gewählt wird, wird für etwas, für einen (wie auch immer geformten) Inhalt gewählt, den er bei Koalitionsverhandlungen nicht wieder unmittelbar verschachern darf.
Ich glaube, da sind wir gar nicht weit auseinander. Ich plädiere ja nicht für eine irgendwie abgehobene Politik, die den Leuten oktroyiert wird. Das ist ja primär das Kennzeichen totalitärer Systeme.
Den "Lebenswelten entlehnt sein" bedeutet freilich nicht, sich nach Umfragen zu richten und danach politische Entscheidungen zu treffen - und diese zu ändern, wenn sich die Stimmung dreht. Ich gebe zu, dass der Spagat schwierig sein kann - am besten kann man das an Kohl erkennen, der in den 70er Jahren durchaus als "Revoluzzer" in seiner Partei galt und neue Ideen vertrat, dann jedoch (insbesondere gegen Ende seiner Kanzlerschaft) zum monolithischen Rechthaber mutierte, der in jeder Hinsicht beratungsresistent wurde. (Man kann trefflich darüber streiten, ob Schröder in dieser Hinsicht nicht falsch eingeschätzt wird: Zwar hat er eine 180-Grad Kehre in einer Legislaturperiode gemacht, die vage Wahlkampfversprechungen nivellierte und teilweise ins Gegenteil verkehrte, aber 2005 ist er mit diesem Programm wie ein Martin Luther [Bild von Ulrich Beck] in den Wahlkampf gezogen.)
Der Trend in der medialisierten Welt unserer Zeit geht in den Umfragepolitiker, der seine Grundsatzpositionen den jeweiligen Strömungen in der Bevölkerung anpasst und dies als Errungenschaft verkauft. Die Journalisten befördern oftmals ein solches Verhalten und verklären es als "Bürgernähe". Das hat damit zu tun, weil sie sich selber nach Quotengesichtspunkten definieren und eine Seelenverwandtschaft mit dem Politiker entdecken.
Willyam hat gesagt… said:
Dieser Spagat zwischen einer seichten „Politik der Umfragewerte“, wie Du sie genannt hast, die sich einem geäußerten Mehrheitswillen „verpflichtet“ und einer konsistenten, langfristig verantwortlichen „Politik der Nachhaltigkeit“ ist in der Tat schwer. Aber das Gewicht, dass man beiden Orientierungen zumisst, gibt Aufschluss über das Selbstverständnis derjenigen, die uns institutionell „vertreten“. In Deiner Trendprognose gehst Du ja ganz mit Norbert Bolz überein: Keine Politik ohne Franz Beckenbauer. Ich bin zu wenig mit diesem Apparat vertraut, um darüber urteilen zu können, ob und wie sich diese Quotenorientierung umgehen lässt. Rührt sie aus Fraktionszwängen? Aus persönlichen Karriereinteressen? Meine (realpolitisch vermutlich sehr entrückte) Einschätzung ist und bleibt da einfach die, dass ein sich Einlassen auf diese Seichte einer jeden, eines jeden Selbstentscheidung ist. Was die Kanzlerin vormacht, muss ja noch lange nicht von jeder/m einzelnen Abgeordneten nachgeahmt werden. Ob jemand mediale Aufmerksamkeit sucht oder sich die Republik nur noch medial regieren lässt, ist ein fundamentaler Unterschied. Ich kann nur hoffen, das letzteres noch nicht Tatsache geworden ist, ganz unabhängig davon, dass wir wohl ähnliche Erwartungen an die Politik haben.