„Der Geist des Noch-Nicht“: „Neuzeit ist nonum-Zeit – die Zeit eines vielversprechenden Werdens, die sich von der Statik der Ewigkeit ebenso emanzipiert hat wie von der kreisenden Zeit des Mythos“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2006, S. 59). Mit diesem Optimismus sind die Schlagworte der europäischen Moderne verknüpft, allesamt realisierbar, schon fast: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit.
Ich war bisher kein ausgesprochener Freund der Psychoanalyse, aber die Erklärungen, die Herbert Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft (Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1995 (1957)) festhält, stoßen bei mir auf offene Ohren. Hinter dem modernen „Geist des Noch-Nicht“ steht für ihn „die fundamentale Wirklichkeit der Ananke, der Lebensnot, die bedeutet, daß der Existenzkampf in einer Welt vor sich geht, die zu arm ist, um die menschlichen Bedürfnisse ohne ständige Einschränkungen, Verzichte und Verzögerungen zu erfüllen. Mit anderen Worten: jede mögliche Befriedigung erfordert Arbeit“ (ebd., S. 40).
Die Drastik seines Arguments qualifiziert er näher. Lebensnot ist, abhängig vom gesellschaftlichen Wohlstand, nicht ausschließlich als „brutale[…] Tatsache“ zu bewerten, sondern „in Wirklichkeit die Folge einer spezifischen Organisation der Not und eine spezifische Daseinshaltung […] die durch diese Organisation erzwungen wird. Der herrschende Mangel ist durch den gesamten Verlauf der Kultur hindurch so organisiert worden (wenn auch in höchst unterschiedlichen Weisen), daß die vorhandenen Mittel nicht in Übereinstimmung mit individuellen Bedürfnissen kollektiv verteilt wurden, noch ist die Beschaffung der Güter für die Bedürfnisbefriedigung mit dem Ziel organisiert worden, die sich entwickelnden Bedürfnisse der Einzelnen in der besten Weise zu befriedigen. Statt dessen wurde sowohl die Verteilung der mangelhaften Güter als auch die Anstrengung, den Mangel zu bekämpfen, die Arbeitsweise also, den Individuen aufgezwungen durch eine rationalere Anwendung der Macht“ (ebd., S. 40-41.)
Diese internalisierte Ananke kennt allein ein „es war“, „es wird“, vielleicht auch ein „es wird einmal gewesen sein“. Sie verweigert mir nicht nur den Präsens, sondern macht des „Jetzt!“ einer / jeder zukünftigen Gegenwart unmöglich. Und doch: Setzt diese Perspektive nicht einen fest im Gegenwärtigen verankerten Standpunkt voraus? Sogar: Dass es keine Zukunft gibt, nein, falsch: niemals geben kann, weil sie nicht (auf mich zu)kommt, sondern bleibt, zwar transzendental, aber unerreichbar? Und ich, körperlich präsent, an-wesend, soll ohne Präsens auskommen?
Präsenz ohne Präsens
at 29.6.08 Posted under Denkschubladen: die Postmoderne: historisiert, Geschichtsphilosphie
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