In aller Munde

Kaum an unsensiblem Umgang zu überbieten sind die derzeitigen Beiträge Europas zur allmählich eskalierenden Nahrungsmittelkrise. Wie immer mangelt es nicht an wohlgemeinten Lösungsvorschlägen - "Wie Afrika mehr Essen produzieren könnte", liest man seit wenigen Tagen in der NZZ, die die "Steigende[n] Nahrungsmittelpreise als Chance für die Bauern" begreift. Wirklich peinlich wird's darüber hinaus dann, wenn die Presse schneller schreibt als sie denkt: Die steigenden Nahrungsmittelpreise sind in aller Munde, heißt es im selbigen Artikel weiter. Ähnlich unbeholfen reagiert auch der Tagesspiegel: Die steigenden Lebensmittelpreise treffen jeden – allerdings die einen mehr als die anderen.

Mit solcher analytischen Brillianz bewegen sich die Damen und Herren Journalisten auf ein und demselben Niveau mit den Damen und Herren Politikern, deren von deren (mangelnden) Kompetenzen eine schnelle und vor allem: langfristige Lösung der Krise abhängt. „Ich glaube nicht, dass das, was wir jetzt an Preisentwicklungen in der EU erleben, das eigentliche Problem ist. Es besteht darin, dass anderswo auf der Welt gehungert wird.“ Nein, das ist keine Grundschulweisheit, sondern die Erkenntnis Jutta Haugs, ihres Amtes Haushaltsexpertin bei den Sozialdemokraten im Europaparlament.

Ich bin beeindruckt, Frau Haug. Und das gleich doppelt: Bei aller politischen Selbstkritik, der sich die EU und ihre größten Mitgliedsstaaten wie immer einmal mehr erst dann stellen, wenn die Krise eskaliert, schaffen Sie und Ihre Kollegen es doch noch, den Anstrich der spontanen, heldenhaften Geberin Europa zu erneuern. Gleichzeitig mit dem Fingerzeig auf die möglichen Ursachen der Krise – der Hunger in den aufstrebenden Schwellenländern? Der steigende Ölpreis? Der Klimawandel? Die EU-Agrarsubventionspolitik? – verkünden unsere Spitzen mit einem Brustton, dessen Resonanz Stolz und Mitleid vermitteln will, mit einer Geste, die so selbstgefällig und zugleich erbarmend wirkt, mit einer Erleichterung, die man als Ergebnis umstrittener Finanzumschichtungen andeutet, nun tatsächlich die zunächst noch vorbehaltliche, weil gerade erst beantragte Bereitstellung von Rekordsummen: Die rund 160 Millionen Euro für Nahrungsmittelhilfe, die die EU-Kommission im März bereitstellte, sollen nun auf auf knapp 280 Millionen Euro aufgestockt werden.

280 Millionen Euro Lebensmittelhilfe – ein Betrag, dessen Kaufkraft auf zwölf Monate verteilt noch nicht einmal ausschließlich, sondern lediglich vor allem hungernden Menschen in Afrika, Asien, der Kaukasusregion und im Nahen Osten zugute kommen soll.

Kein Kommentar – und das vor allem von Seiten der „kritischen Presse“. Warum versäumt sie es bloß mit sturer Konsequenz, solche Zahlen zu hinterfragen? Aus Sorge, man empfehle sich vielleicht nun doch schon als lärmende Globalisierungsantis, wenn man das kollektive Gedächtnis mit ein paar Erinnerungshinweisen auf Europas „Verpflichtungsfreiheiten“ auffrischt?

Bei solch politisch inszenierter Selbstgefälligkeit sollte man nach den Suffleuren fragen. Zwar kann sich Deutschland laut Netzeitung damit brüsten, zum weltweit zweitgrößte[n] Geber nach den USA aufgestiegen zu sein. Übersetzt man diese Statistik in die Realität barer Münze, bleiben die 12,2 Milliarden US-Dollar Entwicklungshilfe, die Deutschland im Jahr 2007 zur Verfügung gestellt hat, allerdings eine beschämende Summe, die gerade einmal 0,37 Prozent unseres Bruttonationaleinkommens ausmacht. Ein so großes Herz haben die Deutschen also. Das Eingeständnis von offizieller politischer Seite, dass wir [...] noch einen weiten Weg vor uns haben – so die übergenaue Einschätzung Frau Wieczorek-Zeuls wirkt nicht nur dürftig, sondern geradezu makaber.

Dass das WFP (World Food Programme der VN) [...] wegen der kritischen Situation auf eine Budgeterhöhung durch Geberländer hofft, ist nicht deshalb eine eigene Katastrophe, weil unser Entwicklungshilfebudget etwa an anderer Stelle überstrapaziert wäre, sondern weil dieses Budget bereits grundsätzlich kaum einen nennenswerten Beitrag zur rhetorisch aufgeblähten Wirkung unserer Entwicklungshilfe leistet. Die märchenhaften Ziele für die Zukunft: Gemeinsam wollen die EU-Mitgliedsländer ihre ODA-Quote [...] bis 2010 auf 0,56% und dann bis 2015 auf 0,7% erhöhen. In absoluten Zahlen würde dies eine Verdoppelung der EU-Entwicklungshilfe (Union und Mitgliedsländer zusammengenommen) von heute 40 auf 80 Mrd. US-Dollar im Jahre 2010 bedeuten.

Freude darüber und über die guten Zahlen der OECD für die deutsche Entwicklungspolitik, wie sie unsere Entwicklungshilfeministerin zum Ausdruck bringt, ist mehr als unangebracht. Der eigentliche Skandal, klein und verdrängt, ist nämlich der: Selbst mit ihren derzeit „zusätzlichen“ Millionen kommen die Geberländer nicht einmal annähernd den Zusagen nach, die sie schon 1970 vereinbart haben. Schon damals hieß es großmütig, man werde spätestens bis 1980 das 0,7%-Ziel [...] erreichen.

Ich will gar nicht bestreiten, wie wichtig es ist, öffentlichen Druck zum Thema aufzubauen: Einer repräsentativen Oxfam-Meinungsumfrage aus dem März 2007 zufolge halten es 71 Prozent der Deutschen für wichtig, dass Deutschland sein Versprechen hält und bis zum Jahr 2015 die deutsche Entwicklungshilfe verdoppelt. Damit erreicht man zumindest eine gewisse Sensibilisierung der Politik. Wie weit aber reicht dieses Bewusstsein, wenn - und das ist zweite, ebenfalls Beeindruckende an dieser Diskussion - man, wir alle, sowohl Öffentlichkeit als auch Politik als auch Medien, regelmäßig die Maßstäbe verdrängen, an denen man, wir, die Politik, Maß anlegen wollten?


Trauriger Nachtrag, 29. April (via): Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) [hat] den Geberländern ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: Demnach sanken die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit 2007 um 8,4 Prozent.