Über Digitale Demenz

"The more I study, the more I know; the more I know, the more I forget; the more I forget, the less I know - so why study?"

Eines der Phänomene, das unsere globalisiert-schnelllebige Zeit offenbar ereilt, sickert nach und nach aus Richtung Südkorea in unser Bewusstsein: Die Generation Google ist, so Florian Rötzer am 11.06.07, "digital dement". In zunehmendem/r Masse "outsourcen" wir inzwischen unsere Gedächtnisse - Zeugnis davon, dass unsere technologische Beschleunigung durchaus auch beunruhigende kulturelle Beschleunigungen provozieren kann. Epitom ist das Mobiltelefon, das inzwischen längst mehr ist als nur tragbares Telefon. Es ist Terminkalender; Telefonbuch; Adressbuch; digitale Blitzlichtkamera mit kleinem Bildbearbeitungsprogramm; Wecker; Radio und mp3-Spieler; Diktiergerät; Spielkonsole; Mini-PC für's sporadische Surfen & Emailing; Newsticker; Navigationsgerät und zukünftig vermutlich auch Kreditkarte und Personalausweis. Mobile "13 in One"-Technologie. Wehe aber, sie versagt uns ihre Dienste. Weil wir scheinbar alle wichtigen, alltagsrelevanten Daten speichern, sichern und auslagern, stehen wir im Ernst(aus)fall wortwörtlich ziemlich "blöde" da: Ohne Nummern, ohne Adressen, ohne Orientierung.

Isoliert betrachtet, erklären die derzeit kursierenden Analysen allerdings wenig. Ursache ist nicht die Verlockung dieser Medien an und für sich, sondern der kulturelle Druck, mit dem eine dienstleistungsorientierte "Wissensgesellschaft" den Einzelnen offenbar bedrängt. Gefragt ist optimales Geschick beim Surfen auf den Wellen der Informationsflut; Dynamik und "life-long learning" anstelle eines inzwischen als statisch und imprägniert wahrgenommenen Wissensgrundstocks. Man muss lediglich "wissen", wie man seine "Tools" effektiv "implementiert". Die monokausale Erklärung koreanischer Mediziner: "Da sich die Menschen mehr auf die Informationssuche als auf das Erinnern verlassen, entwickelt sich die Gehirnfunktion des Suchens, während sich die Gedächtniskapazität vermindert. Eine starke Abhängigkeit von digitalen Geräten vermindert die Fähigkeit, sich zu erinnern." Zunehmende Flexibilisierung hat, so scheint es, ihren Preis.

Während man diese Beobachtung beklagen kann, schlage ich eine Verschiebung der Perspektive vor, um im Schnelldurchlauf mögliche kulturelle Hintergründe auszuschraffieren. Für Foucault war u.a. auch die Fabrik ein Ort der Disziplinierung, der Erziehung, eine Institution, die nur ein Kernfach kennt: die Didaktik der Macht. Was für die Arbeit seit ihrem Umzug in die Maschinenhalle gilt, lässt sich mit (sogar: unerträglicher!) Leichtigkeit auf das Steuerbüro und die Kreativagentur übertragen: Ich lagere mein Gedächtnis aus, damit mein Kopf frei für meine aktuelle Aufgabe ist - ich lebe im Fluss (Neudeutsch: flow), mit konzentriertem Blick auf die im Hier und Jetzt zu erledigende Arbeit. Ich bin der rationalisierte, entindividualisierte Mensch. Reine, kompakte Arbeitskraft, flexibler vielleicht als am Fliessband, aber nichtsdestotrotz diszipliniert.

Der Erklärungsversuch bleibt allerdings nur halbherzig, beschränkt man sich allein auf diese Aktualisierung Foucaults (die, vermute ich stark, ohnehin bereits vorgenommen worden ist). Denn die Vernachlässigung / aus foucault'scher Sicht: Disziplinierung des Gedächtnisses verläuft in zwei Richtungen zugleich und verändert grundlegend unser Verhältnis sowohl (1) zum Erinnerten (dem Vergangenen) als auch (2) zum zu Erinnernden (dem (bald) Anstehenden). Beinahe zwangsläufig spürbarer, vermute ich, ist der Wandel im Umgang mit dem Vergangenen: Um effizient agieren zu können, ist das soeben Vergangene weniger wichtig als das (bald) Anstehende. Ich muss einen Schritt in die Zukunft denken, mir selbst voraus sein, um nahtlos, ohne Pause, ohne Verzug, an die Gegenwart anknüpfen zu können. Mein Leben ist so dicht, dass ich, kaum angekommen, immer schon wieder "auf dem Sprung" bin, selten zur Rast komme. Es scheint die Umkehrung dessen eingetreten zu sein, was man mit der Erfindung der Eisenbahn befürchtete: War es damals die übertriebene Angst, dass die Seele mit der ungeheuren Geschwindigkeit des beschleunigten Körpers nicht Schritt halten könne, ist es heute die Ungeduld vor dem Stillstand, die den Verlust unserer Bodenhaftung provoziert.

Beschleunigung und Verdichtung, Rationalisierung und Funktionalisierung scheinen also die Paradigmen zu sein, auf die es die eigentliche Aufmerksamkeit zu richten gilt. Gedächtnisverlust aus Überforderung oder Disziplinierung - ein Symptom der Moderne? Nein! Die "digitale Demenz", die (post)moderne Gedächtnisauslagerung, hat ihre Vorläufer - aber auch das scheinen wir voreilig vergessen zu haben. Bereits Platon versucht die Auswirkungen der Schriftkultur auf Gedächtnisleistung und Wissensqualität auszuloten. In einem fiktiven Dialog lässt er Sokrates vom sogenannten Mythos von Theuth berichten, der der altägyptischen Erzählung nach das Alphabet, und damit folglich das Schreiben und die Schrift erfunden haben soll. Die Kritik des regierenden Königs Thamus fällt für unsere heutigen Ohren ungewöhnlich scharf aus: "Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden [...] Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst" (Platon: "Phaidros", 274a, hier in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Hamburg 1958, S. 55)

Vertraut man auf Platons Darstellung, hat man also bereits im 4. vorchristlichen Jahrhundert die Drohung einer bevorstehenden Gedächtnisauslagerung gespürt - aufgrund der Verbreitung eines Mediums, das als Grundstein unserer seitherigen Kultur gilt! Ohne die Leistung Gutenbergs nicht denkbar, wird danach erst unser 19. Jahrhundert wieder Zeuge eines quantitativen Wissenssprungs, einer "Informationsflut". Erneut müssen sich Wissenschaftler, insbesondere Historiker, über die Grenzen des zu bewältigenden Wissens verständigen, denn die schnell wachsende Anzahl an Veröffentlichungen überfordert die bisherigen Rechtfertigungsdogmen "objektiver" Erkenntnismethoden. Doch wie der Herausforderung begegnen? Nietzsches kategorische Antwort: "Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen [...]" (F. Nietzsche, "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", in: "Unzeitgemäße Betrachtungen", Frankfurt (Main): Insel, 2000, S. 95).

Ist das "all just a little bit of history repeating"? Es ist verlockend, den Refrain mitzusummen, doch im Grunde passiert hier mehr. Der Verweis auf Platon, Nietzsche, Foucault und die (zumindest für den Augenblick einzuräumende) Unvereinbarkeit ihrer Positionen macht einmal mehr deutlich, wie zerbrechlich und unangebracht teleologische Konstruktionen sind. Auch wenn sich die Befürchtungen über die "digitale Demenz" historisieren lassen, dürfen ihre eigenständigen Dimensionen nicht ausgeblendet werden. Oder doch?

Wie offenbar schon zu Platons und Nietzsches Zeiten sehen wir uns offenbar mit einem "radikalen Strukturwandel des Wissens" konfrontiert: "Wissen wird nicht einfach abgerufen, nicht von einem wohlbekannten Ort her bezogen, sondern muss eher gesucht und durch individuelle Auflösungs- und Rekombinationsstrategien jeweils neu hergestellt werden. [...] Die unübersichtliche Fülle von Informationen, die weltweit zur Verfügung steht und abrufbar ist, setzt förmlich voraus, dass wir unsere Fragen und unseren Bedarf an Wissen andauernd assoziativ und mit kreativem Blick für weiterführende Links in Echtzeit neu überdenken. [...] Informationen [bezieht man] auf die eigene Perspektive [...] und [formt sie] zu relevantem Wissen um[...]" (Armin Nassehi, "Von der Wissensarbeit zum Wissensmanagement - Die Geschichte des Wissens ist die Erfolgsgeschichte der Moderne", in: Christa Maar u.a. (Hrsg.), "Weltwissen - Wissenswelt: Das Globale Netz von Text und Bild", Köln: DuMont, 2000, S. 104). Die ursprüngliche Klage aus Südkorea - "Da sich die Menschen mehr auf die Informationssuche als auf das Erinnern verlassen, entwickelt sich die Gehirnfunktion des Suchens, während sich die Gedächtniskapazität vermindert." - deutet an: Das Phänomen der "digitalen Demenz" scheint ein Kind ebendieser Wissensrevolution zu sein.

Der Stammbaum erlaubt mir einen weiteren Versuch der groben Einordnung, diesmal in freier Anlehnung an Virilio. Als Parallele zum Schrumpfen geografischer Distanzen, parallel zur Eroberung des Raums, die noch keineswegs die Aufhebung emotionaler und kultureller Distanzen bedeutet, zeichnet sich ab, dass die ständige Verfügbarkeit, der 'just in time'-Zugriff auf "Informationen" noch lange kein "Verständnis" für die Sache selbst fördert.

Ist diese Kritik der Beschleunigung und Verdichtung ein entferntes Echo der Warnungen Platons? Dieser hätte in Antwort auf Virilios Beobachtungen vielleicht ein weiteres Mal seinen Sokrates sprechen lassen. Dessen Worte, in die Gegenwart geholt: Ist das Wissen einmal festgehalten, so schweift dieses Wissen auch überall gleichermaßen unter denen umher, die es verstehen, und unter denen, für die es nicht gehört, und versteht nicht, wem es verfügbar sein soll und wem nicht (der Wortlaut des Originals im "Phaidros", 274 d-e; S. 56).

Virilios Schlussfolgerung: Was uns infolge der zunehmenden Beschleunigung - für ihn: unser Umzug auf den Kontinent der Geschwindigkeit - gen Horizont zu entgleiten droht, ist unsere unmittelbare Erfahrungswelt. Nassehis "radikaler Strukturwandel des Wissens" ist demnach zugleich auch ein radikaler Strukturwandel der Welterfahrung.

Das wäre eine erste Zwischenbilanz ... wäre da nicht - wie bereits zitiert - Foucault. Aus seiner Perspektive gelesen, ließe sich das radikale dieses Strukturwandels nur schwer rechtfertigen; die Aufmerksamkeit gälte stattdessen der kontinuierlichen Ausdehnung einer disziplinierenden Macht. Was für diesen durch und durch pessimistischen Standpunkt spricht: Digitale Demenz ist, so denn die zur Gedächtnisauslagerung notwendige Technik zur Verfügung steht, per se expansiv. Wenn ich weiß, wie ich Wissen abrufen kann, brauche ich mich nur noch auf das "wie?", nicht mehr aber auf das "was?" zu konzentrieren. Als distopische Projektion formuliert: Irgendwann weiß ich nicht mehr (irgendet)was, sondern nur noch (irgend)wie. Alles verschwimmt, ohne Anhaltspunkte. Jeder hat von allem Ahnung, richtig ist das, was mir nach schnellem Vergleich abrufbereit zur Verfügung steht. Damit bin ich wunderbar empfänglich für weitere Disziplinierungsmaßnahmen.

(Mindestens) Zwei Standpunkte kann man hier also vertreten: "Digitale Demenz" als Zeichen der vielgepriesenen Demokratisierung und Emanzipierung von Wissen einerseits; "digitale Demenz" als Beweis für eine fortschreitende Disziplinierung, eine Unterwerfung unter die kapitalistisch-technokratischen Vorzeichen der Beschleunigung und Verdichtung andererseits.




"Sie können sicher sein, dass Ihre Erinnerungen auf der 'Kodak Picture-CD' im Handumdrehen bestens aufgehoben sind." (SB-Digitalbilddrucker im Rossmann)

Liegt Ethik im Auge des Betrachters?

Nerone hat vor kurzem (8.11.) sehr beeindruckend über seine Begegnung mit den Fotografien Hiroshi Sugimotos geschrieben, während ich mehr oder weniger zur gleichen Zeit in einem sehr spannenden Seminar zum Thema "Stadt und Fotografie" über die Arbeit Jeff Walls diskutieren durfte. Kaum erstaunlich, dass bei dem Versuch, die Frage nach der Wirkung seiner Bilder früher oder später auf Susan Sonntags "Das Leiden anderer betrachten" Bezug genommen wurde. Ihr Argument scheint mir ein verstärktes Echo der Kritik, die Walter Benjamin in seinem Klassiker "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" festhielt. Für fotografische Aufnahme sei "[...] die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden", schreibt er dort. "Und es ist klar, daß sie einen ganz anderen Charakter hat als der Titel eines Gemäldes [...]": Es sind "[...] Direktiven, die der Betrachter von Bildern der illustrierten Zeitschrift durch die Beschriftung erhält [...]" (meine Betonung; in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/Main 1974, S. 485). Die Fotografie kommt ohne Betrachtungsanweisung nicht aus. Susan Sonntag allerdings, schreibt Stephanie Ross in "What Photographs Can't Do" (The Journal of Aesthetics and Art Criticism 41/1, 1982), wollte diesen Direktiven allerdings jegliche Autorität absprechen - zumindest in moralischer Dimension. Weder ethisches noch politisches Wissen, so Sonntag, könne durch ein Bild vermittelt werden.

Während in der Folge über Sonntags Frage, ob "[...] man durch ein Bild [...] dazu gebracht werden kann, sich aktiv gegen den Krieg [- oder gegen jedes andere Leid(en) -] einzusetzen [...]" ("Das Leiden anderer betrachten", S. 104) viel gestritten wird und gestritten werden muss, stelle ich mir gerade eine prinzipiellere Frage: Mich interessiert nicht, was das Medium Foto selbst transportiert (oder nicht transportieren kann), sondern wie stark mein Wissen über den Urheber die Wirkung seiner Fotografie beeinflusst. Wie also trägt das, was Jeff Wall persönlich über seine hochästhetischen Bilder sagt, zu meiner Interpretation seiner Bilder bei? Meine Beunruhigung hat sein Interview mit dem Berliner Tagesspiegel provoziert:

Politische Künstler sind wichtig, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich wäre es eher unethisch, wenn ich weniger gute Bilder machen würde, als ich könnte. Das ist meine Ethik: Das Leben der Menschen, die ich als Motiv ausgewählt habe, wirklich zu würdigen. Ich bin empathisch in dem Moment, in dem ich das Bild mache, aber im Alltag würde ich am gleichen Menschen vielleicht achtlos vorübergehen. Für mich ist letztlich wichtig, dass das Bild eine Bedeutung besitzt.
So weit, noch/so nachvollziehbar. Seine Antwort auf die darauffolgende Frage aber bringt mich aus der Fassung.
Sie stellen Leiden hochästhetisch dar. Besteht darin kein Widerspruch für Sie?

Ich möchte, dass sich der Betrachter an den Bildern erfreut. Alle Kunst ist dafür gemacht, sie ist ein Geschenk. Der Betrachter genießt das Bild und nicht das Thema. Durch das Thema könnte er sich auf die eine oder andere Art zum Handeln genötigt fühlen, aber bei der Betrachtung eines Bildes geschieht dies gerade nicht. Anders als es im realen Leben, wenn wir einem Bettler begegnen und uns schuldig fühlen, goutieren wir bei derselben Person, sobald sie abgebildet ist, die Farben und Formen. Gleichzeitig denken wir, das sei falsch und fühlen uns schon wieder schuldig. Das ist auch das Charakteristische moderner Kunst. In den autoritären Gesellschaften wurde Kunst nur für die Regierenden zur Selbstdarstellung gemacht. Seit Gustave Courbet werden auch die Armen auf eine großartige Weise dargestellt.
Womit ich mich erstaunt an Walter Benjamins Prognose zurückwenden kann: "In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen." Aber auch wenn der Kultwert bei Wall noch einmal seine "letzte Verschantzung [...] das Menschenantlitz [...]" beziehen kann, frage ich mich unweigerlich: Untergräbt seine Haltung den "Wert" seiner Arbeit? Sollte ich seine Haltung überhaupt einbeziehen? Oder sie ignorieren? Kann man, darf man sich seiner Arroganz zum Trotz zum mitleidenden Blick hinreissen lassen, also allein das Bild betrachten? Den Autor, seine Motivation, außen vor lassen? Ist die ethische Dimension fotografischer Kunst ausschließlich vom Auge des Betrachters abhängig?

Märchen aus dem Zwei-Strom-Land

Dass zwischenfallgeplagte Großkonzerne ihren Ruf, ihr "Image", in der Öffentlichkeit zu überspielen versuchen, ist nicht neu; lediglich der Zynismus, mit dem man das gute Bild zu inszenieren versucht, variiert. Aktuelles Beispiel: Vattenfall sponsort die Berliner Märchentage. "Die Unterstützung der Märchentage ist für uns eine Herzensangelegenheit", versichert Dr. Klaus Schmid, Personalvorstand von Vattenfall Europe Berlin." Märchen aus dem Zwei-Strom-Land.

Mehr bei Daniel's World und Julia Seeliger.